24

D er Mann, der Nina an dem schmalen Tisch in der Bar Casanova gegenübersaß, hatte etwas Unwirkliches an sich. Das rührte daher, dass er genauso aussah, wie man ihn sich vorstellte und von den wenigen, hochstilisierten Fotos kannte, die er von sich in Umlauf brachte. Er trug ein schneeweißes Hemd mit offenem Kragen zum schwarzen Jackett eines Abendanzugs, das wie lackiert glänzte. Sein Haar glänzte ebenso tintenschwarz, ohne einen Schimmer von Grau, obwohl er, soweit Nina wusste, die vierzig bereits überschritten hatte. Es musste gefärbt sein, wie womöglich auch die balkenhaften Brauen, was aber der Wirkung keinen Abbruch tat. Seine flackernden Augen blieben die ganze Zeit über auf Nina gerichtet. Sie hätte sich abwenden wollen, fühlte sich unter diesem fiebrigen Blick wie nackt und aus der Ruhe gebracht.

Aber natürlich wandte sie sich nicht ab. Seit wann benahm sie sich in einem wichtigen Verhandlungsgespräch wie eine verschüchterte Oberschülerin? Entschlossen straffte sie die Schultern, trank einen Schluck von dem französischen Rotwein, den sie sich bestellt hatte, und erwiderte den Fieberblick mit einem verbindlichen Lächeln.

»Ich danke Ihnen, dass Sie sich so kurzfristig für mich Zeit genommen haben«, sagte sie. »Wenn man um die Vielzahl Ihrer Tätigkeiten weiß, kann man sich kaum vorstellen, dass Ihnen eine freie Minute bleibt.«

»Oh, Nahrung zu mir nehmen muss ich wie jeder andere Mensch«, erwiderte er und lachte seltsam gekünstelt auf. »Warum also nicht das Notwendige mit dem Angenehmen verbinden und dem Wunsch einer Dame, die mich um ein Treffen bittet, stattgeben?«

In dieser Bar, die gleich neben der Scala untergebracht war und zu den beliebtesten Nachtlokalen der Gegend gehörte, wurde für gewöhnlich kein Essen serviert. Für ihn machte man jedoch eine Ausnahme. Ein Kellner trug ihm eine Platte mit in mundgerechte Stücke geschnittenem kalten Fleisch an den Tisch, die er mit spitzen Fingern aufnahm und sich zwischen die tiefroten Lippen schob. Etwas an dem Anblick war Nina zutiefst zuwider. Sie schalt sich albern, zwang sich zu einer geschäftsmäßigen Haltung. Dennoch kam sie nicht umhin, zu erkennen, dass sie zum ersten Mal eine Verhandlung mit einem Künstler führte, gegen dessen Engagement sich alles in ihr sträubte.

Warum aber löste er einen solchen Widerwillen in ihr aus?

Er war der begehrteste Akt, den Berlin zu bieten hatte, sein Name war es, der der Scala Abend für Abend den Saal füllte. Über die astronomische Gage, die er dafür erzielte, kreisten ständig neue Gerüchte. Erst kürzlich hatte er unweit der Scala ein mehrstöckiges Gebäude erworben, das er sich zu einem Palast ausbauen ließ, und eine Jacht nannte er ebenfalls sein Eigen. Nebenbei gab er seine eigene Zeitung heraus, die ähnliche Auflagen wie das Tageblatt und die Tante Voss erzielte, und erteilte Börsentipps, die angeblich auf Astrologie beruhten. Er war einer, an dem man nicht vorbeikam, an dem auch sie nicht so lange hätte versuchen dürfen, vorbeizukommen.

Was also brachte sie gegen ihn auf?

Dass er ein Betrüger, ein Blender, ein Scharlatan war?

Aber waren sie das nicht alle? Beruhte ihre ganze Kunst nicht auf Illusion, auf Taschenspielertricks, doppeltem Boden und ein wenig Augenwischerei?

Er zumindest machte keinen Hehl daraus, sondern hatte in einem Prozess, in den man ihn wegen Betrugs gezerrt hatte, offen eingestanden, sein Publikum zu täuschen und keineswegs über echte übernatürliche Kräfte zu verfügen.

»Die Leute wollen betrogen werden, also betrüge ich sie, und es bereitet ihnen Vergnügen. Sie werden mir doch nicht erzählen wollen, es gäbe auch Hellseher, die nicht betrügen.«

Er war freigesprochen worden und durfte weiter seinen Geschäften nachgehen. Ihrer Bitte, sich schnellstmöglich mit ihr zu treffen, war er nachgekommen, und sie brauchte ihn.

Nina räusperte sich. »Sie können sich sicher denken, warum ich Sie um diese Zusammenkunft gebeten habe, Herr Hanussen«, sagte sie.

Wieder lachte er auf diese seltsam gekünstelte Weise. »Sie meinen, ich muss es mir denken können, weil ich ein Hellseher bin? Nein, keine Sorge. Ich bin ja sozusagen außer Dienst, und in meiner freien Zeit überlasse ich die Zukunft sich selbst.«

»Das habe ich nicht gemeint«, entfuhr es Nina so unwirsch, wie sie sonst niemals mit Geschäftspartnern sprach. »Ich bin Intendantin des Wintergarten, wie Ihnen ja sicher bekannt ist, und Sie sind einer der begehrtesten Darsteller, die derzeit in Berlin zu haben sind. Da liegt es wohl nahe, dass ich Sie eines Engagements wegen sprechen will.«

Was war nur mit ihr los?

Ihr Verhandlungsgeschick hatte ihr die Angebote zahlreicher Bühnen eingebracht, die versuchten, sie abzuwerben, und jetzt, in einem der wichtigsten Gespräche, die sie seit Langem zu führen hatte, betrug sie sich wie die blutigste Anfängerin?

Sie zwang sich wieder, zu lächeln, erwiderte den Blick des Hellsehers mit ausgesuchter Freundlichkeit. »Ich weiß, Sie sind bei der Scala langfristig unter Vertrag, aber finden Sie nicht, die Gäste des Wintergarten sollten endlich auch einmal in den Genuss kommen, sich von Erik Jan Hanussen die Zukunft voraussagen zu lassen? Gerade jetzt, wo ein neues Jahr bevorsteht und die Zukunft sozusagen Hochkonjunktur hat?«

Er nahm seine weiße Damastserviette und wischte sich damit die glänzende Fettschicht von den roten Lippen. Dann erwiderte er ihr Lächeln. »Wie charmant das ausgedrückt ist, meine Gnädigste. Ich bin ja gebürtiger Österreicher, Wiener sogar, auch wenn meine Vorfahren aus anderer Himmelsrichtung stammen. Aber das ist in diesem Schmelztiegel von einer Stadt ja gang und gäbe. Sagen wollte ich: Wir Österreicher haben eine Schwäche für charmante Frauen. Wir können ihnen im Grunde nichts abschlagen, und wenn wir es noch so gern wollen.«

»Mir ist es ganz recht, wenn Sie mir nichts abschlagen können«, sagte Nina und bemerkte, wie die Anspannung von ihr wich und sie ein wenig leichter zurechtkam. »Natürlich habe ich nicht das geringste Interesse daran, dass Sie mir mein Anliegen abschlagen. Im Gegenteil. Ich will, dass Sie es mit Begeisterung annehmen. Ich kann Ihnen versichern: Das Publikum, das Sie erwartet, wird Ihnen einen Empfang bereiten, wie Sie ihn nie zuvor erlebt haben. Davon, dass unser Wintergarten einzigartig ist, haben Sie ja zweifellos gehört, und damit ist beileibe nicht nur das Programm gemeint. Nein, auch unser Publikum ist einzigartig. Ein Publikum, wie es der größte Hellseher unserer Zeit verdient.«

»Wie schmeichelhaft, liebes Fräulein von Veltheim.«

»Ehre, wem Ehre gebührt.«

»Ich darf also davon ausgehen, dass die renommierte Nina von Veltheim zu meinen Anhängern gehört?«

Nina stockte. Ihr war bewusst, dass ihre Ehrlichkeit zu ihren Trumpfkarten gehörte. Sie war keine, die mit Komplimenten um sich warf, doch von denen, die sie machte, spürte der Empfänger, dass sie ehrlich gemeint waren. Erik Jan Hanussen lebte davon, dass er Menschen durchschaute. Würde es ihm nicht kinderleicht fallen, zu erkennen, wenn sie ihn belog?

»Und ob Sie davon ausgehen dürfen«, rang sie sich schließlich ab und trank gleich darauf einen Schluck von ihrem Wein. »Seit ich Sie zum ersten Mal in der Scala gesehen habe, bin ich geradezu besessen von dem Wunsch, Sie zu uns in die Friedrichstraße zu holen.«

Das erste Zeichen der Lüge: Sie besaß nicht das Gewicht einer ehrlichen Aussage, weshalb der Lügner versuchte, es ihr durch Übertreibung zu verschaffen. Man brauchte wahrlich kein Hellseher zu sein, um das zu durchschauen.

Und wenn er sie fragte, wann sie ihn zum ersten Mal in der Scala gesehen habe?

Es war im April gewesen, als sie aus Neu-Mahlen gekommen war. Sie hatte sich das ganze Osterwochenende hindurch gequält, hatte an kaum etwas anderes als ihre Trauer denken können und hatte auf einmal die Nähe Antons, der offenbar mit allem so viel besser zurechtkam, nicht mehr ertragen. Sich selbst hatte sie eingeredet, sie ginge in die Scala, um sich über das Programm der Konkurrenz zu informieren, wie es in regelmäßigen Abständen ratsam war, doch in Wahrheit hatte sie nur von Anton fortgewollt.

Es war nicht nur das erste, sondern auch das einzige Mal gewesen, dass sie Erik Jan Hanussen gesehen hatte.

»Ich wünschte, Sie hätten sich zu erkennen gegeben, als Sie in meiner Vorstellung waren«, sagte er. »Ich hätte mich nicht nur geehrt gefühlt, sondern auch mit Freude etwas für Sie arrangiert. Nur zu gern hätte ich Ihnen beispielsweise eine persönliche Frage beantwortet, auf die Sie gerne die Antwort wüssten.«

»Was für eine Frage?«, entfuhr es Nina, die sich bei ihrer Neugier gepackt fühlte.

»Nun, vielleicht wüssten Sie ja gern, wie es um die Zukunft Ihrer Liebe beschieden ist«, antwortete er in seinem leicht singenden Tonfall. »Steht eine Hochzeit ins Haus, oder folgen Trauer und Neuanfang, weil Ihre Wege sich trennen? Macht sich gar ein Kind zu Ihnen auf den Weg?«

Nina zuckte zusammen, und Hanussen unterbrach sich. »Ach nein, das wollen Sie nicht wissen. Sie wollen nicht einmal, dass von diesen schmerzlichen Dingen gesprochen wird, und ich bitte vielmals um Entschuldigung.«

Es war keine Hexerei. Er war einfach nur ein ungewöhnlich guter Beobachter, und sie wollte nicht weiter von ihm beobachtet werden.

»Ich wusste nicht, dass Sie auch derart private Dinge vorhersagen«, sagte sie.

»Aber gewiss doch«, erwiderte er. »In meinen Anfangsjahren habe ich ja kaum etwas anderes getan. Meine Gabe, wenn wir es denn eine Gabe nennen wollen, habe ich während des Krieges entdeckt, und was die Kameraden damals von mir wissen wollten, drehte sich grundsätzlich um das Privateste im Leben eines Menschen: um die Liebe und den Tod. ›Werde ich überleben, werde ich die Heimat wiedersehen, ist mein vermisster kleiner Bruder gefangen oder tot?‹, lauteten die Fragen, mit denen man mich bedrängte. Und natürlich: ›Ist meine Liebste daheim mir treu, wartet sie auf meine Heimkehr, wie wir es einander versprochen haben, oder tröstet sie sich mit meinem Freund mit dem Heimatschuss ?‹«

Unwillkürlich musste Nina an Anton denken. Seine Liebste war ihm nicht treu gewesen, sondern hatte sich mit seinem Freund Rudolf Kante getröstet, der mit einem Heimatschuss zurücktransportiert worden war. Kante seinerseits hatte sich mit den Ängsten um seinen geliebten kleinen Bruder gequält, den hochbegabten Reinhold, der in Antons Kompanie gewesen und an seiner Seite umgekommen war.

Konnte Hanussen das wissen? Oder erzählte er nur von Dingen, die während des Krieges den meisten Familien widerfahren waren? Wer hatte keinen gefallenen Bruder oder eine zerbrochene Liebe zu beklagen? Mit solchen Geschichten hatte er die besten Chancen, ins Schwarze zu treffen, und mit seiner rätselhaften, halb singenden Art, sie vorzubringen, rührte er bei den Leuten vermutlich an einen Nerv.

»Und, liebes Fräulein von Veltheim?«, wandte er sich liebenswürdig wieder an sie. »Haben Sie eine solche Frage, auf die Sie gern von mir eine Antwort möchten? Nur zu, zögern Sie nicht, sie zu stellen. Ich habe zwar vorhin erklärt, ich ließe in meiner Freizeit die Zukunft auf sich beruhen, aber für Sie mache ich nur allzu gern eine Ausnahme.«

Jenny, durchfuhr es sie. Er soll mir sagen, was mit Jenny los ist und wie es für sie weitergeht. Scharf rief sie sich zur Ordnung. Verlor sie vor lauter Müdigkeit den Verstand? Sie musste hier weg, bevor dieser Mann mit der eigenartigen Ausstrahlung sie, die nüchterne Brandenburgerin, dazu brachte, ernsthaft an Hellseherei zu glauben.

»Ich habe nur eine Frage, auf die ich mir von Ihnen eine Antwort wünsche«, sagte sie. »Werden Sie mir und unseren Zuschauern die Freude machen und in der großen Silvestergala des Wintergarten für uns auftreten?«

Sie trank den Rest Wein aus ihrem Glas und atmete leise auf. Es war heraus, sie würden nach ein bisschen Ziererei zum Verhandlungsteil kommen, und dann hatte sie dies hier überstanden und konnte endlich nach Hause fahren.

Zu Anton.

Auf einmal kam es ihr vor, als wäre sie seit einer Ewigkeit von ihm fort gewesen und müsste den Weg zu ihm zurück erst finden.

»Möchten Sie noch etwas trinken, verehrtes Fräulein von Veltheim?«, fragte Hanussen galant und fischte den letzten Fleischbrocken von seiner Platte. »Ein wenig Zeit hätte ich noch, und ich verbringe sie gerne in charmanter Gesellschaft.«

Nina bedeckte ihr Glas mit der Hand. Sie hatte seit dem Frühstück nichts gegessen, und der Wein war ihr bereits zu Kopf gestiegen. »Für mich nichts mehr, danke. Aber in Ihrer Gesellschaft verbringe ich gerne noch etwas Zeit. Beantworten Sie mir dann meine Frage?«

»Als Hellseher, Gnädigste? Oder als schlichter Darsteller, dem Sie ein Engagement anbieten?«

»Letzteres«, sagte Nina und langte unter dem Tisch nach der Aktenmappe, die ihre Vertragsentwürfe enthielt. »Was die Scala Ihnen zahlt, werden wir womöglich nicht überbieten können, aber in der Silvestergala des Wintergarten aufzutreten, ist schließlich eine Ehre, die sich alle großen Varieté-Künstler zumindest einmal in ihrer Laufbahn ans Revers heften sollten. Und soweit es im Rahmen des Möglichen liegt, kommen wir Ihren Vorstellungen natürlich gern entgegen. Also – wie steht es?«

Hanussen lächelte. »Nein«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Ich bin kein Mann, der eine Dame hinhält«, sagte er. »Schon gar nicht, nachdem ich mir mit ihr auf derart angenehme Weise die Zeit vertrieben habe. Also gebe ich Ihnen Ihre Antwort lieber kurz und knapp: Als Hellseher haben Sie mich nicht befragt, daher brauche ich Ihnen nichts von den verschlungenen Wegen des Schicksals vorzusäuseln, die uns zu einem anderen Zeitpunkt wieder zusammenführen mögen. Stattdessen kann ich als Künstler sprechen, der mit diesen Auftritten sein täglich Brot verdient. Dessen Antwort lautet: Nein. Ich bin bei Jules Marx von der Scala zu äußerst großzügigen Bedingungen unter Vertrag und weiß, es würde diesen freigiebigen Mann verletzen, wenn ich ihm ausgerechnet zu Silvester fremdginge. Auch habe ich derzeit keinen Bedarf an einem weiteren Engagement, sondern empfinde mich als reichlich ausgebucht. Selbstredend kann sich das ändern. Aber den Hellseher in mir haben Sie ja nicht gefragt.«

Nina verspürte eine jähe Übelkeit, die mit dem Wunsch einherging, den Wein von sich zu geben. Die Zeit, in der sie Niederlagen gewohnt gewesen war, lag viele Jahre zurück. Auch damals hatte ihr Traum von der Bühne ihr unendlich viel bedeutet, und nach jedem Sturz hatte es Kraft gekostet, sich wieder aufzurappeln und weiterzukämpfen. Aber sie war blutjung und voller Elan gewesen, schien die Ewigkeit gepachtet zu haben und hatte die weltbesten Freunde an der Seite. Ihr Leben hatte aus so viel mehr als nur Arbeit bestanden, und von ihrer Arbeit waren nicht die Existenzen ganzer Familien abhängig gewesen.

Dies hier war anders.

Es war niederschmetternd.

Beim Gedanken an die Demütigung, die es bedeuten würde, Fritz Aschinger in sein süffisant grinsendes Gesicht zu sagen, dass sie von Hanussen einen Korb kassiert hatte, drehte sich ihr der Magen um.

Und ihre Leute? Die Wunderweiber, deren Zahl Aschinger im neuen Jahr dezimieren wollte? Was sollte sie denen sagen? Sine lebte seit Neuestem mit einer Frau zusammen, die zwei Kinder und kein Einkommen hatte, Berthe hatte ihre schwangere Tochter aufgenommen, weil deren arbeitsloser Mann sie schlug.

»Ist Ihnen nicht wohl?«, fragte Hanussen. »Sie sind auf einmal so blass.«

»Oh, es ist nichts. Nur eine Verstimmung.« Ihre Stimme klang unnatürlich hoch.

»Dem Himmel sei Dank. Ich fürchtete schon, ich hätte Sie mit meiner Absage gekränkt. Aber ich denke, dafür besitzt eine Erfolg gewohnte Frau in Ihrer Stellung zu viel Routine und Souveränität. Und wie Sie ja selbst anführten: Um die Ehre, im Wintergarten gastieren zu dürfen, reißt sich unsere Zunft. Auf einen kleinen Hellseher aus Wien-Ottakring sind Sie also keineswegs angewiesen.«

»Sie sagen es«, erwiderte Nina, warf ihr Haar zurück und stand auf, um ihren Stolz zu retten. »Leider muss ich Sie in diesem Fall doch gleich verlassen. Um auf Nummer sicher zu gehen, hatte ich noch einen Termin mit einem zweiten Kandidaten vereinbart, den ich nun also wahrnehmen werde. Sie kennen ja unser Motto: Vom Guten nur das Beste. Und wenn der Gute nicht will, kommt eben der Beste zum Zug.«

»Bravissima«, sagte Hanussen. »Da haben Sie mir wirklich einen prächtigen Konter verpasst, was Ihnen meine Bewunderung einträgt. Ich bin sicher, Ihr bester Kandidat macht Ihnen mehr Freude als der gute. Ich empfehle mich. Es war mir ein Vergnügen.«

Er erhob sich ebenfalls, ergriff Ninas Hand und verbeugte sich. Seine Hand war weich und gepflegt und glitt wie ein Stück Seife aus der ihren, als sie sie zurückzog. Sie fuhr herum und floh viel zu schnell, um souverän zu wirken, aus dem Lokal. Draußen war es inzwischen dunkel, leichter Schneefall hatte eingesetzt. Ein Mann spielte »Fröhliche Weihnacht überall« auf seinem Leierkasten. Nina lehnte sich mit dem Rücken an eine Litfaßsäule, um sich zu sammeln, und wünschte sich eine von Jennys Zigaretten.

Sie hatte versagt.

Sie hatte ihre Leute im Stich gelassen.

Und was das Schlimmste war: Sie allein war schuld daran, dass Hanussen ihr Angebot abgelehnt hatte. Hatte sie je zuvor eine wichtige Verhandlung derart amateurhaft geführt, sich so von ihren Gefühlen steuern lassen? Sie konnte ihre Müdigkeit ins Feld führen, die Tatsache, dass sie nach einem harten Jahr ohne Pause ausgelaugt war und erst wieder Kraft und Ideen sammeln musste, doch zu einem solchen Selbstbetrug fehlte ihr das Talent. Es war ihre grundlose Abneigung gewesen, mit der sie in das Gespräch gegangen war und die sie die ganze Zeit nicht hatte abschütteln können. Die Gegenwart des Mannes hatte ihr Schauder über den Rücken gejagt, und als wäre das Etablissement ihr Eigentum, nicht das von Fritz Aschinger, hatte alles in ihr gerufen: Ich will ihn nicht in unserem Wintergarten, nicht unter unseren Sternen!

Dabei hatte sie ihn doch so sehr gewollt und wollte ihn immer noch. Dabei brauchte sie ihn doch, um zu retten, was sie aufgebaut hatte.

Ihr einziges Kind, den Ersatz für das Kind, das sie nie haben konnte.

Ihre Wunderweiber vom Wintergarten.

Keine fünf Schritte von ihr entfernt hielten zwei schwarze Limousinen am Rinnstein, dass das dreckige Schmelzwasser aufspritzte. Auf beiden Fahrerseiten sprangen die Chauffeure heraus und öffneten ihren Fahrgästen den Schlag. Jedem der luxuriösen Wagen entstiegen zwei Männer in Abendgarderobe – schwarze offene Mäntel über schwarzen Anzügen und weißen Seidenschals.

Nina hielt den Atem an. Sie war ganz sicher, die Gesichter dieser Männer zu kennen, sie bereits mehrmals gesehen zu haben – auf Zeitungsfotos und Wahlplakaten, in Werbebroschüren der Nazi-Partei. Im Pulk blieben sie mitten auf der Straße stehen und schienen auf jemanden zu warten.

Unwillkürlich flog ihr Blick zurück zur Tür der Bar Casanova . Wie ein Instinkt in ihr vermutet hatte, verließ Erik Jan Hanussen genau in diesem Augenblick das Lokal. Der Instinkt behielt auch weiterhin recht: Hanussen steuerte geradewegs auf die Gruppe der Männer zu und wurde von ihnen mit Handschlag begrüßt.

Die Gruppe war allerdings in der Zwischenzeit auf fünf Männer angewachsen, und um den hinzugekommenen Fünften zu erkennen, brauchte Nina keine Zeitungsfotos. Sie hätte ihn unter Hunderten und auf jede Entfernung erkannt. Er trug einen wallenden Mantel und keinen Hut auf seinem kahlen Schädel. Es war Rudolf Kante.

Nina winkte die nächste Taxe, die vorbeikam, zu sich und sprang hinein, ehe die Gefahr bestand, dass sie gesehen wurde. Also war ihre Abneigung doch nicht grundlos gewesen. Für gewöhnlich war es Jenny, die wie ein Tier witterte, wenn mit jemandem etwas nicht stimmte, wenn er nicht das war, was er zu sein vorgab, und man ihm besser nicht über den Weg traute. Wie es aussah, hatte Nina nun, wo Jenny ausfiel, diese Fähigkeit von ihr übernommen. Sie wollte nur weg, all das hinter sich lassen, nicht darüber nachdenken, was Hanussen, Kante und die Nazi-Funktionäre miteinander zu beschwatzen hatten.

Dass sie immer noch keine Sensation, kein Zugpferd für die unterverkaufte Silvestergala hatte, war ein Problem, für das sie eine Lösung finden musste. Vielleicht konnte Anton ihr dabei helfen. Er hatte schließlich jede Menge Kontakte, war mit der halben Filmbranche per Du. Zur Not mussten sie eben irgendeinen umschwärmten Leinwandhelden auf die Bühne stellen und Liebeslieder singen oder Anekdoten aus seiner Kindheit vortragen lassen. Der Einsatz solcher billigen Attraktionen verstieß zwar gegen die Ehre des Varietés und war ganz sicher nicht vom Guten nur das Beste. Aber als einmalige Ausnahme war es akzeptabel, und es war allemal besser, als Erik Jan Hanussen anzuheuern, der womöglich eine sich rasch ausbreitende Seuche einschleppte.

Letzten Endes war sie auch Intendantin geworden, um den Wintergarten vor solchen Einflüssen zu schützen.

Als sie vor dem geliebten Häuserblock in der Jerusalemer Straße aus der Taxe stieg, fühlte Nina sich zwar noch ein wenig müder, aber nicht mehr so elend wie gerade eben. Sie würde aufbleiben, bis Anton aus dem Theater kam, würde noch ein Glas Wein mit ihm trinken und mit ihm zusammen eine Idee ausbrüten, die sie morgen Aschinger unterbreiten konnte. Gleich darauf würden sie sich in ihr Bett verkriechen und von ihrem Weihnachtsurlaub träumen.

Als sie den Schlüssel ins Schloss schob, spürte sie einen Widerstand. Jemand hatte seinen Schlüssel auf der Innenseite stecken lassen. Sie taten das nie, weil ja nie sicher feststand, wann einer von ihnen nach Hause kam, und dass Frau Brenneisen oder Frau Rottenheimer es vergessen hatten, war unwahrscheinlich. Während Nina noch versuchte, den anderen Schlüssel hinauszuschieben, wurde die Tür aufgezogen, und Anton stand vor ihr.

»Nina«, sagte er.

»Hast du jemand anderen erwartet?«, entfuhr es ihr.

»Nein«, sagte er in einem Ton, als wäre jemand gestorben. »Nur dich noch nicht. Bist du heute Abend nicht in der Vorstellung?«

»Ich war müde«, sagte Nina, »und ich hatte einen Termin. Aber was ist denn mit dir? Warum bist du nicht im Theater?«

»Vielleicht ist es ganz gut so«, sagte Anton, ohne ihre Frage zu beantworten. »Mit der Lügerei kann keiner von uns länger leben. Sie macht alles noch schlimmer. Ich mache alles noch schlimmer.«

Ninas Herz setzte einen Schlag lang aus. »Was ist los, Anton? Was geht hier vor?«

Er machte einen Schritt zur Seite, sodass sie die Wohnung betreten konnte. »Bitte komm mit«, sagte er und ging ihr voran durch den langen Gang, an den Zimmern von Frau Brenneisen und Frau Rottenheimer vorbei und durchs Berliner Zimmer. Schließlich öffnete er die Tür des kleineren Raums, den Frau Rottenheimer das Herrenzimmer nannte und den er benutzte, um Texte zu lernen, Kritiken zu lesen und Papierkram zu erledigen. Seinem Schreibtisch gegenüber, in der Ecke beim Fenster, stand ein Rauchtisch mit zwei Sesseln. Die ganze Garnitur stammte angeblich von Frau Rottenheimers Seligem und war, soweit Nina sich erinnerte, von ihnen nie benutzt worden.

Jetzt allerdings befand sich auf dem Tisch eine Platte, auf der zwei einsame Viertel Butterbrot offenbar von einer Mahlzeit übrig geblieben waren. Die große Tasse, die danebenstand, enthielt den Rest eines Getränks, das nach heißem Kakao aussah, und der letzte Gegenstand dieses Arrangements war ein Nikolaus aus Stollwerck- Schokolade. Das kleine Menschlein, das am Tisch saß, wirkte in dem hohen Sessel wie verloren. Ein schmächtiges, blasses Mädchen mit dunklen, geflochtenen Zöpfen.

»Selma«, sagte Anton, trat zu ihr und legte eine Hand auf die Sessellehne, ohne jedoch das Mädchen zu berühren. »Das ist Nina von Veltheim.«

»Deine Frau?«

»Ja«, sagte Anton. »Wir sind nicht verheiratet, aber für mich ist sie meine Frau.«

Das Mädchen, das Selma hieß, starrte Nina an. Ihre Augen waren riesig und beinahe so dunkel wie ihr Haar.

»Nina, das ist Selma«, sagte Anton. »Ihre Mutter ist im Frühling gestorben, und bei der entfernten Verwandten, bei der sie fürs Erste untergekommen ist, kann sie nicht länger bleiben. Ich möchte, dass sie zu uns kommt. Sie hat nur noch mich. Sie ist meine Tochter.«