25

Jenny

Silvester 1931

S ie hätte die Galavorstellung gern abgesagt, hätte sich am liebsten krankgemeldet und wäre daheimgeblieben. Krank fühlte sie sich wirklich. Zermürbt und bis auf die Knochen erschöpft.

Von der UFA kamen irgendwelche Stars, die Nina in letzter Sekunde engagiert hatte, um einen Sketch aufzuführen. Ausverkauft war der Saal trotzdem nicht, und natürlich würden dieselben Zeitungen, die im letzten Jahr Lobeshymnen auf ihr atemberaubendes »Finale eines Jahrzehnts« gesungen hatten, mit ätzender Häme über den halb leeren Saal berichten. Jenny konnte es Nina nicht antun, die Wunderweiber ausgerechnet in dieser Nacht im Stich zu lassen, auch wenn sie selbst sich auf schwer erklärbare Weise von Nina im Stich gelassen fühlte. Natürlich hatte auch eine Intendantin das Recht, über die Feiertage Urlaub zu nehmen, und Nina hatte ihre Absicht rechtzeitig angekündigt.

Dann aber war sie auf einmal zwei Tage früher als geplant abgereist, ohne sich zu verabschieden. Noch am Tag zuvor hätte Jenny dergleichen für undenkbar gehalten. Wenn eine von ihnen der Stadt eine Zeit lang den Rücken kehrte, lud sie die anderen zuvor zu einem veritablen Abschieds-Besäufnis ein, und außerdem ließ Nina kein Weihnachtsfest vergehen, ohne unter ihren Wunderweibern üppige, selbst gepackte Präsentkörbe zu verteilen. Sooft sie die Aufführungen für eine Weile nicht persönlich beaufsichtigen konnte, versah sie jedes einzelne Mitglied des Ensembles mit ausführlichen Instruktionen und guten Wünschen. Dass sie einfach fortfuhr, ohne dass irgendwer auch nur davon wusste, war nicht vorstellbar.

Es war nicht Nina.

Aber es war geschehen.

Statt einer feuchtfröhlichen Besprechung im Salamander hatte sie einen Stapel gekritzelter Notizen hinterlassen, nach denen das Ensemble sich richten sollte.

Das Unglaublichste an dem ganzen Vorgehen war jedoch: Sie hatte von Jenny und Sonia nicht Abschied genommen, hatte ihnen weder frohe Feiertage noch einen guten Rutsch gewünscht und auch kein Weihnachtsgeschenk für Viktor vorbeigebracht.

Vermutlich hatte sie sich mit Anton gestritten und war Hals über Kopf in einen Zug gesprungen. Gerüchten zufolge war Anton nicht mitgefahren, sondern befand sich noch in Berlin. Jenny hatte versucht, ihn anzurufen, aber er ging nicht ans Telefon, und sie konnte es ihm nicht verdenken. Sie selbst ging auch nicht ans Telefon, wollte niemanden sprechen. Sie besuchte keine Weihnachtsfeiern, lud niemanden ein, brachte niemandem Geschenke. Genau genommen konnte sie also auch Nina nichts nachtragen, aber ums Nachtragen ging es ja gar nicht. Sie hatte sich sicherer gefühlt, solange sie ihre omnipräsente Nina um sich herum gewusst hatte, und jetzt, wo sie fort war, fühlte sie sich auf einmal so allein wie seit einem vollen Jahrzehnt nicht mehr.

So allein, wie sie es in Wirklichkeit war.

Es war ja nicht nur Nina, die fort war.

Darius hatte ebenfalls Urlaub genommen und war zur Erholung bis nach Neujahr »aufs Land« gefahren. Ypsilantis hatte er mitgenommen. Ihr Darius, von dem sie geglaubt hatte, er sei außerstande, Berlin zu verlassen. Vor allem aber außerstande, sie und Viktor zu verlassen. Sie hatten sich gestritten.

»Muss das ausgerechnet jetzt sein?«, hatte Jenny ihn angefahren, weil sie bei der Vorstellung, ohne ihn in der Wohnung zu bleiben, blinde Panik ergriff.

»Ja, es muss ausgerechnet jetzt sein«, hatte er erwidert. »Ausgerechnet jetzt, wo du mir ein sogenanntes Kindermädchen vor die Nase gesetzt hast, das aussieht wie die Rausschmeißerin einer Kokain-Bar. Ausgerechnet jetzt, wo du mit mir als Hüter deines Sohnes offenbar nicht mehr zufrieden bist, wo du auf meine Fragen diesbezüglich keine Antwort gibst und es auch ansonsten nicht für nötig hältst, mich in Entwicklungen, die das Leben in diesem Haushalt betreffen, einzuweihen. Ausgerechnet jetzt, wo ich also hier nicht länger benötigt werde, kann ich tun, wovon ich seit Jahren träume: dieser Stadt den Rücken kehren und mir anschauen, wie ein überfrorener See und ein stilles, verschneites Feld aussehen.«

»Tu, was du nicht lassen kannst, du verdammter Spießer!«, hatte sie ihm hinterhergerufen, während er mit Koffer und Katzenkorb die Wohnung verließ. Im nächsten Augenblick war sie am ganzen Körper zitternd zu Boden gesackt.

Sie war allein. Ohne Darius, ohne Nina.

Allein mit der Verantwortung für ihren Sohn, der längst begriffen hatte, dass er nicht länger in Sicherheit war. An manchen Tagen behauptete er, er habe Leibschmerzen, und ging nicht zur Schule. Viktor, der sich in all diesen Jahren betragen hatte, als wäre die Schule der Heilige Gral. Er verkroch sich, und sie verkroch sich genauso. Sie waren allein mit der Angst.

Helene, die in der Mädchenkammer wohnte, wusste von nichts und würde auch nichts erfahren.

»Alles, was Sie wissen müssen, ist, dass diese Riegel unter allen Umständen verschlossen zu bleiben haben«, hatte Jenny sie unterwiesen. »Und dass niemand hier hereinkommt, es sei denn, er kennt das Klopfzeichen.«

Menschen wie Helene waren dermaßen froh, wieder Arbeit und ein Dach überm Kopf zu haben, dass sie keine Fragen stellten. Ohnehin wäre Helene, die mit einem Schatz an Geistesgaben nicht gesegnet war, vermutlich keine Frage eingefallen. Das sprach für sie, beschwor sich Jenny, sooft sie damit haderte, ob es klug gewesen war, für Viktor jemanden einzustellen, der weder lesen noch schreiben und auch keinen komplexeren Zusammenhang erklären konnte. Immerhin hatte sie mit Helene geübt, das Telefon zu bedienen, und außerdem mochte gerade das von Vorteil sein: Helenes Einfalt, mit der sie hinnahm und tat, was man ihr sagte. Hinzu kam ihre bemerkenswerte körperliche Kraft.

Dennoch fühlte es sich falsch an, Viktor mit ihr allein in der Wohnung zu lassen. Falsch, falsch, falsch. An drei Abenden hatte Jenny ihn mit in den Wintergarten genommen, wo er hinter der Bühne auf einem Stuhl kauerte und im Sitzen schlief. Am Heiligen Abend hatte sie sich mit ihm in der Wohnung eingeschlossen, hatte alberne, viel zu kindliche Geschenke für ihn besorgt und aus einem nahen Restaurant ein Menü bestellt, das bereits am Vormittag angeliefert wurde. Sie aßen es kalt, weil Jenny vergessen hatte, es aufzuwärmen. Es schmeckte scheußlich. Sie hatte auch vergessen, den Weihnachtsbaum zu schmücken, was Viktor angeblich aber nichts ausmachte.

»Ich finde es eher komisch, dass du einen gekauft hast«, sagte er. »Warum feiern wir nicht so wie sonst, mit unseren Freunden?«

»Sie sind in diesem Jahr eben alle nicht da«, wand sich Jenny heraus. »Es muss ja nicht Weihnachten sein. Warum feiern wir nicht im neuen Jahr eine riesige Wiedersehensparty und lassen es so richtig krachen?«

»Du hast es schon lange nicht mehr richtig krachen lassen«, sagte Viktor, der nie zu verstehen gegeben hatte, dass ihm an ihren Partys etwas lag.

Aber an der Sicherheit lag uns beiden etwas, erkannte Jenny. An dem Ring aus lärmenden, die Nacht zum Tag machenden Menschen um uns. Jetzt sind wir allein mit der Angst. Und der arme Kleining weiß nicht einmal, wovor wir solche Angst haben.

Es ging so nicht weiter. Das war Jenny spätestens klar geworden, seit erst Anton und dann obendrein noch Carlo mit ihr gesprochen hatten. Anton hatte sie abgewimmelt. »Tu mir einen Gefallen und sag Nina nichts davon«, hatte sie ihm eingeschärft. »Der Kerl ist ein Verehrer, vor dem sie mich gewarnt hat, er tickt nicht ganz sauber, aber er ist harmlos. Ich will nicht, dass sie davon weiß, in Ordnung?«

Glücklicherweise schien Anton so tief in eigenen Problemen versunken, dass er keinen Protest anmeldete.

Carlo abzuwimmeln, war weit schwieriger gewesen. Er hatte Viktor von der Schule abgeholt, um mit ihm in den Zoo zu gehen, ohne dass Jenny davon gewusst hatte.

»Wenn ich dich gefragt hätte, hättest du es mir verboten«, sagte er, als er am Abend mit dem Jungen vor ihrer Tür stand.

Ihn wiederzusehen, war ein Schlag in die Magengrube. Monatelang hatte sie sich eingetrichtert, dass es einen Carlo von Veltheim in der Welt, in der sie lebte, nicht mehr gab. Irgendwann schien sie es endlich geglaubt zu haben, hörte auf, ihn an jeder Straßenecke zu sehen, und dann stand er auf einmal vor ihr. Der leibhaftige Carlo, mit den Schultern, auf denen man jegliche Last, mit der man sich abschleppte, hätte abladen können, mit dem Löwenhaar, das ihm in die Stirn fiel, und mit diesen Augen, deren Blick nie etwas zurückhielt.

»Wenn ich es dir verboten hätte, hättest du dich gefälligst danach zu richten gehabt«, blaffte sie.

»Warum?«, fragte er.

»Weil Viktor mein Kind ist, hörst du? Meines.«

»Die Jenny, die ich gekannt habe, hätte dir zur Antwort gegeben: Dein Kind. Aber nicht dein Besitz.«

Damit lag er so verblüffend richtig, dass sie für einen Augenblick entwaffnet war und seiner dringenden Bitte, mit ihr zu reden, nachgab. Sie schickte Viktor in die Wohnung und gestand Carlo fünf Minuten im Hausflur zu.

»Also – was willst du?«

»Dich und Viktor in Sicherheit wissen«, sagte er. »Dieser Mann, der deinen mutigen kleinen Jungen bis ins Mark erschreckt hat – wer ist das?«

Jennys Magen krampfte sich zusammen.

Er war nicht der Erste, der »diesen Mann« erwähnte. Nicht einmal Anton war der Erste gewesen. Fridolin hatte sie auch schon beiseitegenommen und erzählt, es habe sich jemand nach ihr erkundigt. »Nicht der übliche Typ deiner Verehrer, Jenny, auch nicht das, was wir sonst unter unserem Publikum erwarten.«

»Aber ein schöner Mann«, hatte Hieronymus ergänzt. »Nur auf den Hund gekommen. Wie heute leider so viele.«

»Er sah aus, als hätte er Hunger«, hatte Fridolin noch gesagt, ehe Jenny das Gespräch über den Mann recht resolut abgewürgt hatte.

Berlins Straßen waren voll von Männern, die aussahen, als hätten sie Hunger, und doch hatte Jenny bei dieser Beschreibung sofort ein Bild vor Augen gehabt. Es war das eine Bild, das sie nie wieder hatte sehen wollen. Ihr war zumute, als ziehe sich um ihren Hals eine Schlinge zu, und wohin sie sich auch wandte, sie konnte der Schlinge nicht entkommen. Ihr Appetit schwand, und in den Nächten fand sie keinen Schlaf. Wann immer Viktor nicht bei ihr war, war sie zu keinem klaren Gedanken in der Lage. Die Abende, an denen sie Auftritte hatte, wurden ihr zur Qual, selbst wenn die Schmerzen in ihrem Rücken sich ausnahmsweise in Grenzen hielten.

Es ging so nicht weiter.

Die Schlinge um ihren Hals raubte ihr den Atem, und wenn sie nach Hause kam, drückte sie den schlafenden Viktor so fest an sich, dass sie ihm den Atem raubte.

»Das hast du doch sonst nie gemacht«, sagte er, aus dem Tiefschlaf geschreckt und verwirrt.

Oh doch, dachte Jenny. Ich habe es bei Tag und bei Nacht gemacht und so fest, als hoffte ich, wir beide würden wieder zusammenwachsen, so eng verbunden sein, wie wir es waren, als du in meinem Bauch gewesen bist. Du weißt es nur nicht mehr. Als wir nach Berlin kamen, als wir Darius und eine Wohnung fanden, deren Tür wir hinter uns abschließen konnten, habe ich allmählich damit aufgehört. Habe dich und mich freigelassen. So getan, als wären wir außer Gefahr, und dann, als Nina und schließlich Carlo kamen, sogar ab und zu daran geglaubt.

In meinen Gedanken aber waren meine Arme immer so fest um dich geschlossen wie in jenen ersten Tagen, Wochen und Monaten deines Lebens. Sie sind es auch heute noch. Ich habe Leute – Männer, die mit mir ins Bett wollten, und Frauen, die vor Neid auf mich geplatzt sind – sagen hören, man könne sich mich nicht als Mutter vorstellen, aber in meinen Gedanken bin ich in diesen letzten zwölf Jahren ununterbrochen eine Mutter gewesen. Deine Mutter. Und du bist mein Kind. Ich habe dich nicht dreieinhalb Mal um die Welt lieb, sondern unendlich viele Male. Sooft wir die Welt auch umkreisen müssen, Viktor, meine Arme werden immer um dich sein.

Jenny hatte das Gefühl, nicht noch eine dieser qualvollen Nächte durchzustehen. Sie hätte die Galavorstellung absagen wollen, denn krank war sie wirklich. Schüttelfrost quälte sie, und sie hatte sogar Fieber. Nina und die anderen verließen sich auf sie, sie hatten zehn Jahre lang miteinander gearbeitet und dabei das stumme Gesetz befolgt, einander nicht zu enttäuschen. Vielleicht war jedoch der Zeitpunkt gekommen, an dem dieses Gesetz für sie ihre Gültigkeit verlieren musste, weil ein stärkeres in Kraft trat. Das Gesetz, das festlegte, dass eine Mutter ihr Kind zu schützen hatte, was immer es sie kostete.

Die Stimme des Blutes.

Sie beschloss schließlich, doch aufzutreten. Diese eine wichtige Nacht noch durchzustehen und sich dann an den zwei freien Tagen zu erholen. Sich Essen liefern zu lassen, mit Viktor Schach zu spielen, die Wohnung nicht zu verlassen. Vielleicht würde sich die Schlinge dadurch so weit lockern, dass sie durchatmen und überlegen konnte, was sie zu tun hatte.

»Heute Abend kommst du wieder mit mir«, sagte sie zu Viktor. »Es ist Silvester. Wenn du willst, kannst du deinen ersten Champagner probieren.«

»Ich will nicht«, sagte Viktor.

»Was willst du nicht? Champagner probieren? Dein Schaden. Bleibt mehr für mich.«

»Mit dir mitkommen«, sagte Viktor. »Ich bin müde. Ich fühle mich nicht ganz gesund, und im Wintergarten war ich in letzter Zeit oft genug. Ich will mich ins Bett legen und mein Buch lesen.«

Das Buch hieß Emil und die Detektive. Jenny konnte nicht fassen, dass ihr an Wissenschaft, Archäologie und alten Sprachen interessierter Sohn sich für diese erdachte Kindergeschichte derart begeisterte. Carlo hatte ihm das Buch gekauft. Vielleicht lag es daran. Viktor trug es in der ganzen Wohnung mit sich herum und steckte beim Lesen die Nase hinein, wie um darin zu versinken.

»Hör zu, du kannst das Buch über diesen Emil morgen zu Ende lesen«, sagte sie zu Viktor. »Wir bleiben den ganzen Tag im Bett, essen nur belegte Brote, du liest, und ich glotze stinkfaul an die Decke. Was hältst du davon? Das Radio können wir auch anmachen, wenn du Lust hast.«

»Ich will heute Abend nicht mit in den Wintergarten «, beharrte Viktor. »Morgen können wir machen, was du willst.«

Er schniefte durch die Nase, was er sonst nie tat. Tatsächlich hatten sie sich beide eine Erkältung eingefangen, das Wetter war scheußlich, und den Raum hinter der Bühne würde der geizige Aschinger nicht beheizen. Was sollte sie tun? Viktor zwingen, obwohl es ihm nicht gut ging?

Sie hatte ihn nie zu etwas gezwungen. Wenn er als kleiner Junge nicht hatte schlafen wollen, hatte sie ihn aufbleiben lassen, und wenn er bei den Erwachsenen sitzen wollte, die tranken, rauchten und von Sex redeten, hatte sie ihn nicht fortgeschickt. Sollte sie jetzt damit anfangen, ihren Willen über seinen zu stellen, ihre Karte als Mutter auszuspielen und nicht länger sein Kamerad zu sein?

Sie konnte es nicht.

Nicht, solange ihr eine Wahl blieb.

Also würde er mit Helene, die sich vermutlich nicht bis nach Mitternacht wach halten konnte, allein in der Wohnung sein. Wie sollte sie das ertragen und dabei mit verbogenen Gliedern ins Publikum grinsen? Bei dem bloßen Gedanken daran spürte sie den Druck der Schlinge um den Hals, und die Angst entfaltete ihre dunkle Macht in ihr.

»Sie lassen die Riegel verschlossen«, sagte sie zu Helene. »Ob jemand schreit oder Ihnen erzählt, man will ihm ans Leben – Sie machen diese Tür nicht auf, bis ich nach Hause komme.«

»Und wenn’s brennt?«, fragte Helene.

»Es brennt nicht«, sagte Jenny. »Wenn jemand das behauptet, dann lügt er, verstehen Sie? Er lügt, weil er in diese Wohnung will, aber Sie lassen ihn nicht herein. Versprechen Sie mir das?«

Helene nickte. »Wenn Sie’s sagen, dann mach ich’s so. Ich mach alles so, wie Sie’s wollen.«

Jenny kam noch eine Idee. Sie lief in die Küche und kehrte mit dem schweren, armlangen Nudelholz zurück, das Darius manchmal benutzte, um irgendwelche misslungenen orientalischen Strudel zu backen. »Tragen Sie das immer bei sich, wenn Sie zur Tür gehen«, sagte sie und drückte es Helene in die Hand. »Sicher ist sicher.«

Wieder nickte die Frau, die mit ihrem massigen Körperbau den Flur der Wohnung auszufüllen schien. »So wie Sie’s sagen, so mach ich’s. Ich leg’s nicht aus der Hand.«

Als Jenny sich auf den Weg machte, war ihr Herz so schwer wie ein Bleiklumpen, der im Gehen gegen ihren Brustkorb schlug. Es ist doch alles nur Unsinn, versuchte sie, sich zu beruhigen, alles nur meiner überreizten Einbildung entsprungen. Dieser Mann, den sie alle gesehen haben wollen, ist irgendein Obdachloser, ein armes Schwein, dem auf der Welt nichts bleibt, als eine alternde Schlangenfrau anzuhimmeln. Dass ich ihn auch gesehen habe, bedeutet nichts, denn es war nur ein Herzschlag lang, in dem ich dachte, mir zerreißt es den Rücken. Ich habe es mir eingebildet. Ich brauche Urlaub und stärkere Pillen für die Schmerzen. Der Mann, den ich glaube, gesehen zu haben, lebt nicht mehr, und wenn er doch noch lebt, dann kommt er hier nicht her.

Er hat ja keinen Grund.

Er weiß von nichts.

Sie schaffte es bis an die große Kreuzung, wo Berlins Flanierboulevard Unter den Linden auf die wilde Vergnügungsmeile der Friedrichstraße traf. Durch das Gewimmel der Massen, die aufgebrochen waren, um im Glanz der Neonreklamen und zum Swing der Jazzkapellen das neue Jahr und eine neue Hoffnung zu begrüßen, war nur mit Einsatz rigoroser Ellenbogen noch ein Durchkommen möglich. Jenny schlug Haken wie ein Hase, wollte ausbrechen, sich nur irgendwie bis zum Bühneneingang des Wintergarten durchkämpfen und im nach Rauch und Schminke stinkenden Halbdunkel des Zugangs untertauchen. Sie wünschte, sie wäre nicht losgegangen, wünschte, sie hätte Viktor doch gezwungen, mitzukommen, wünschte, die Nacht wäre schon überstanden.

Der Mann ragte vor ihr auf wie aus dem Boden gewachsen. Er versperrte ihr den Weg, trat nach links, wenn sie es tat, und war schon nach rechts gewichen, ehe sie es auch nur versuchte. Passanten, die angerempelt wurden und wütend schimpften, ignorierte er.

»Schenja.«

Es gab keinen Zweifel mehr, hätte auch keinen gegeben, wenn er kein Wort gesagt hätte. Ihre Vergangenheit stand auf. Menschen, solange sie nicht gestorben waren, ließen nicht zu, dass man sie begrub.

»Ich muss weiter«, stammelte sie. »Ich habe einen Auftritt, jemand wartet auf mich.«

Sie wollte vorbei. Er hinderte sie. »Wo du deinen Auftritt hast, weiß ich. Ich habe dir zugesehen. Nur ein einziges Mal, weil ich mir dich nicht länger leisten kann und euer Türsteher sich nicht erweichen ließ. An den anderen Abenden habe ich vor der Tür gestanden und mir vorgestellt, wie du dich dort drinnen auf der Bühne verrenkst, damit niemand dich zu fassen bekommt. Das hast du immer getan, nicht wahr, Schenja? Und ich habe mir einmal eingebildet, nur bei mir bist du echt.«

Seine Stimme war noch dieselbe. Nur war sie hart geworden, alle Zärtlichkeit daraus verschwunden. Der Mantel, den er um seinen abgemagerten Körper trug, war alt, verschlissen, konnte ihn unmöglich warm halten. Sein Gesicht sah so ähnlich aus. Verschlissen, über die Jahre hinaus gealtert, nicht mehr warm.

»Ich muss gehen.«

»Nicht jetzt«, sagte er. »Erst wirst du mit mir reden müssen, Schenja. Ich habe mehr als ein halbes Jahr gewartet, habe in einem Loch ohne Feuer und Fenster gehaust und von weniger als nichts gelebt, ohne mich entscheiden zu können, was ich tun wollte. Dich zur Rede stellen, dich zurückgewinnen, dir den Hals umdrehen? Wochenlang war ich zu nichts in der Lage, als dir zuzusehen, fassungslos zu erkennen, dass du dir ein völlig neues Leben zurechtgebastelt hattest, in dem nicht der kleinste Funke Erinnerung an mich mehr vorkam. Wie der verrückte, unterwürfige Hund, der ich immer war, habe ich mich danach gesehnt, auch nur die allerkleinste Rolle in diesem Leben wieder einnehmen zu dürfen, und habe gedacht, meine Sehnsucht verbrennt mich inmitten dieser kalten, seelenlosen Stadt.«

Einen winzigen, wahnsinnigen Augenblick lang glaubte sie, er mache einen Witz. Dann erinnerte sie sich. Er hatte schon immer so gesprochen, es war die Literatur seines Volkes, mit der er aufgewachsen war, und wenn sie ihn liebevoll deswegen verspottet hatte, hatte er mühsam sein Gekränktsein verborgen.

»Wenn ein Russe am Biertisch einen Witz erzählt, fällt die Kneipe in Dornröschenschlaf«, hatte ihr Bruder Georg behauptet.

Der Mann, der ihr gegenüberstand, erzählte keine Witze.

Er meinte es ernst.

Er meinte alles ernst.

»Humor musst du für uns beide zusammen haben«, hatte er gesagt, und sie hatte ihn in die Arme gezogen, ihn auf die Augenlider geküsst und gerufen: »Wenn ich dich anschaue, du vernagelter Schrat, kann ich mich vor lauter Humor gar nicht retten.«

Er war immer da gewesen. Ihr Leben ohne seines hatte es nie gegeben, und sie beide waren sicher gewesen, dass es so etwas nicht geben könnte. Jetzt aber hatte sie mehr als zwölf Jahre ohne ihn verbracht, und dass er einmal in ihr Leben gehört hatte, war nicht mehr vorstellbar.

»Es tut mir leid, dass es dir nicht gut ergangen ist«, murmelte sie und konnte nicht glauben, dass sie diesen Unsinn von sich gab.

»Nicht gut ergangen?« Hart lachte er auf. »Es ist mir zum Teufel noch mal so elend und dreckig ergangen, dass ich Tag für Tag aufs Neue gehofft habe, ich dürfte endlich daran krepieren. In all den Jahren habe ich das gehofft, seit du dich mir nichts, dir nichts verdrückt hast und mich weggeworfen hast wie ein Paar Schuhe, wenn sie durchgetanzt waren und du sie nicht mehr brauchtest. Aber so leicht stirbt es sich leider nicht. Es stirbt sich schwer.«

Oh nein, dachte Jenny, es stirbt sich allzu leicht. An allen Ecken und hinter jeder Biegung lauert eine Gefahr, die einem ans Leben will, wenn man ein Kind zu beschützen hat und nicht sterben darf. In dieser Zeit habe ich nichts anderes denken können als: Wie immer das Leben ist, es ist besser als Sterben. Hätte mich jemand gefragt, wonach ich mich sehne, wovon ich träume, hätte ich ihm zur Antwort geben müssen: Nicht zu sterben. Tag für Tag zu überleben, war in jenen Wochen Traum genug.

»Hör zu«, sagte sie mühsam und wich einem Mann aus, der bereits betrunken war und »Prost Neujahr« johlte. »Ich habe jetzt wirklich keine Zeit, aber wenn es etwas gibt, womit ich dir helfen kann …«

»Liebe Güte, Schenja! Das ist nicht dein Ernst, oder doch?«, fuhr er auf. »Hast du das wirklich eben gesagt und gemeint? Willst du mir Geld anbieten? Ein paar Scheine in die Manteltasche stopfen, damit ich verschwinde? Vielleicht noch Zwieback, Tee und Büchsenfleisch dazu, um deine Schuld zu begleichen? Und mit meinem Namen ansprechen kannst du mich auch nicht, oder hast du ihn am Ende vergessen?«

»Nein.« Jenny senkte den Blick auf das nasse Pflaster, weil sie nicht fähig war, ihn anzusehen.

»Kirjuscha«, sagte er. »So hast du mich genannt. Als wir am Fluss bei den Buschwindröschen lagen und glatte weiße Kiesel hineingeworfen haben, dass das Wasser in Fontänen aufspritzte – weißt du das wirklich nicht mehr? Wir haben in Hauseingängen gesessen und uns die geschwollenen Knöchel massiert, die Blasen und Schürfwunden, haben zusammen geweint und uns versprochen, dass wir eines Tages heiraten und in ein kleines Haus ziehen. Nicht auf deiner Seite und nicht auf meiner und nicht aus Holz. Dann haben sie mich fortgeholt, weggeschickt in ein Russland, das keine Heimat, sondern ein fremdes Land für mich war. Ich habe geglaubt, mich gäbe es nicht mehr, und erst als sie ein Jahr später dich hinterhergeschickt haben, habe ich mich wiedergefunden. Kirjuscha, hast du gesagt, und ich war wieder ich selbst. Bei dir war ich es immer, und du warst es auch. Weißt du noch, wie du mir gesagt hast, dass du ohne mich gar nichts bist und ich nichts ohne dich?«

»Zum Teufel, Kyrill«, fuhr sie auf. »Wir waren Kinder. Kinder sind so weit vom Tod entfernt, dass sie glauben, alles, was sie tun, ist für die Ewigkeit.«

»Aber das war es nicht?«, fragte er. »Deine Liebe war nicht für die Ewigkeit?«

Eine Frau, die sich an ihm vorbeischieben musste, schlug ihm mit ihrem Schirm auf die Schulter, aber er schien es nicht zu bemerken.

»Meine war es, Schenja«, sagte er. »Weißt du wenigstens noch, wie ich dir gesagt habe, dass ich komme und dich zurückhole, wo immer du hingehst? Dass uns nichts trennen kann, weil ich es nicht erlaube?«

Sie hatte es nicht mehr gewusst. Es hatte in der bunten, schillernden Seifenblase, die ihr Leben war, keinen Platz gehabt, doch jetzt kehrte es unaufhaltsam und gegen jeden Widerstand zu ihr zurück. Die Blase war geplatzt, und die Schlinge um ihren Hals zog sich zu.

»Ich habe geglaubt, ich müsste das tun«, sagte er. »Entweder dich zu mir zurückholen oder dich umbringen, weil du mir all diese Jahre gestohlen hast. In meiner Einsamkeit habe ich Tag und Nacht darüber nachgesonnen, wie ich deiner habhaft werden und wo ich dich hinschaffen kann, damit du verdammte schlüpfrige Schlange mir nicht wieder entwischen kannst. Aber das ist vorbei, Schenja. Davor brauchst du dich nicht mehr zu fürchten. Du kannst tun, was dir gefällt. Ich will nur noch eines.«

»Was?«

»Meinen Sohn.«