Carlo
D ass das schwankende, ohne Minderheit regierende Kabinett unter Reichskanzler Brüning sich lange halten würde, war nicht zu erwarten gewesen. Die Sozialdemokraten hatten sich zwar widerstrebend entschieden, es zu tolerieren, doch um so gut wie jede Entscheidung gab es Streit. Brünings Bemühungen, bei den Westmächten einen Verzicht auf die ausstehenden Reparationszahlungen zu erreichen, die Deutschland bereits seit einem Jahr nicht mehr zahlen konnte, zogen sich in scheinbar endlosen Verhandlungen hin. Gleichzeitig versuchte der Kanzler, der krisengeschüttelten Wirtschaft auf die Beine zu helfen, indem er Steuern erhöhte, staatliche Hilfen einsparte und Senkungen von Löhnen und Gehältern durchsetzte.
Carlo erkannte in manchen dieser Schritte die vernünftige Absicht und hielt den gemäßigten Brüning, der beständig zur Ruhe mahnte, nach wie vor für einen der besten Männer, die in der Krise zu bekommen waren. Dennoch kam er nicht umhin zu erkennen, dass die Maßnahmen des Kanzlers hilflos und unkoordiniert wirkten und auf allen Seiten des politischen Spektrums die Wähler gegen ihn aufbrachten.
Die Leute hatten Hunger. Die Leute hatten Angst vor der Zukunft. Die Zahl der Arbeitslosen stieg weiter, und Hilfe vom Staat war nicht zu erwarten.
Es gab kein Vertrauen mehr in die Regierung.
Gab es überhaupt noch Vertrauen in die Demokratie?
An deren Schutz war Reichspräsident von Hindenburg ohnehin nie gelegen gewesen. Im Frühjahr hatte er sich einer Wahl gegen Adolf Hitler stellen müssen und nur mit knapper Not im zweiten Wahlgang die benötigte Mehrheit erzielt. Der Mann war weit über achtzig und wurde von den Gutsherren an Carlos Stammtisch »der Tattergreis« genannt, doch an der Macht schien er mit unverbrüchlicher Begierde festzuhalten. Einen Kanzler Brüning, der ihm als Mann der Mitte sowieso suspekt war, würde er dafür, ohne mit der Wimper zu zucken, über die Klinge springen lassen.
Sobald bekannt wurde, dass Brüning vorhatte, die Osthilfe streichen zu lassen, die den Gutsbesitzern von Brandenburg bis Ostpreußen half, an ihren Ländereien festzuhalten, war er für Hindenburg ein toter Mann. Hindenburg war selbst Gutsbesitzer. Wenn Carlo hörte, wie seine Standesgenossen im Dorfkrug vom Leder zogen, konnte er unmöglich noch Zweifel daran hegen, dass Brünings Tage als Kanzler gezählt waren.
Die rechtsgerichteten Zeitungen beschimpften Brünings Vorgehen als bolschewistisch, und Präsident Hindenburg erklärte, er werde keine Verordnung des Kanzlers mehr unterzeichnen. Drei Tage später, am letzten Tag im Mai, trat Brüning zurück. Tags darauf ernannte Hindenburg den einstigen Berufsoffizier Franz von Papen zum neuen Reichskanzler. Papen gehörte ebenfalls dem Zentrum, jedoch dessen rechtem Flügel an, und trat am Morgen nach seiner Ernennung aus der Partei aus. Für Ende Juli wurden Neuwahlen zum Reichstag angesetzt.
Neu-Mahlen zeigte sich in diesem frühen Sommer in seiner ganzen Pracht. Es blühte und grünte, Felder und Obstbäume trugen üppig Früchte, und die Fohlen der letzten drei Jahrgänge, die auf den Koppeln herumtollten und auf der Bahn trainiert wurden, waren eine Bestätigung für Carlos Bemühungen, russische Orlow-Pferde, die durch Ausdauer und Schnelligkeit glänzten, in seinen eigenen Bestand einzukreuzen. Bereits jetzt, ehe die meisten von ihnen überhaupt auf einer Rennbahn vorgestellt worden waren, lagen ihm glänzende Angebote für sie vor.
Während die Berichterstattung zur Wirtschaftskrise in Deutschland immer pessimistischer wurde, ging es für seinen Betrieb stetig bergauf. Das Leben hätte schön sein können, und wann immer Carlo über sein blühendes Land ging, kam es ihm wie eine Sünde vor, dass er es viel zu selten als schön empfand.
Hätte sein Vater sich von Sorgen um die politische Lage einen sonnigen Tag verleiden lassen?
Wie so oft wünschte sich Carlo, sein Vater hätte lange genug gelebt, um ihm auf solche Fragen Antwort zu geben. Er hatte ihn Reiten und Schwimmen gelehrt, ihm auf väterlich spielerische Weise gezeigt, wie die Bücher des Gutes geführt wurden, und hatte an Winterabenden oft mit ihm im Herrenzimmer gesessen und ihm von der Geschichte der Uckermark erzählt.
Aber taugte ein Vater nicht auch dazu, seinem Sohn beizubringen, wie man lebte?
Carlo musste über die kindischen Gedanken, die er hegte, lachen, was immerhin besser war, als zu weinen, aber weiter brachte ihn das nicht.
Hätte der Vater Greta von Metzler geheiratet, statt sie immer weiter hinzuhalten?
»Die ganze Gegend betrachtet euch als Paar«, hatte Carlos Mutter neulich zu ihm gesagt. »Du weißt, ich will mich in dein Leben nicht einmischen, aber für Greta wird es unter diesen Umständen noch schwieriger, einen passenden Ehemann zu finden. Sie sollte nicht als die alte Jungfer gelten, die der Herr von Neu-Mahlen nicht gewollt hat, meinst du nicht auch? Ich sage dir nicht, welche Entscheidung du treffen sollst, Carlo. Aber vielleicht darf ich dir nahelegen, dass du überhaupt eine triffst?«
Carlo sagte sich das selbst wieder und wieder. Er wollte das Richtige tun und Greta heiraten, wie er es ihr schließlich versprochen hatte. Er wollte eine Familie gründen, Kinder haben, Frohsinn und Helligkeit in sein Leben bringen und mit Hoffnung in die Zukunft blicken. Gerade jetzt, wo ihn die politische Lage mit so vielen düsteren Befürchtungen erfüllte, wünschte er sich das mehr denn je.
Aber wie konnte er an eine Ehe mit Greta auch nur denken, solange er Tag für Tag dem Briefträger entgegenritt, weil er auf einen Brief von Jenny hoffte?
Nach ihrem verzweifelten Anruf in der Silvesternacht hatte er mit Greta darüber gesprochen. Sie hatte ihn darum gebeten, und er hatte ihr den Wunsch nicht abschlagen können. Auf ihre Frage hatte er noch einmal eingestanden, dass er Jenny geliebt hatte, hatte erklärt, dass er versprochen hatte, ihr Freund zu bleiben, und dass sie und Viktor Hilfe brauchten.
»Ich werde ihr diese Hilfe nicht verweigern, Greta«, hatte er gesagt. »Ich habe ihr mein Wort gegeben.«
»Mir hast du auch dein Wort gegeben«, hatte sie erwidert.
»Das ist richtig, aber sie hat die älteren Rechte. Und sie und Viktor sind in Not. Ich würde auch dich in einer solchen Not nicht im Stich lassen.«
Von dem wenigen, was er aus Jenny herausbekommen hatte, gab er nichts an Greta weiter, sondern blieb bei seinem Standpunkt, das sei Jennys Angelegenheit und er werde ihr Vertrauen nicht brechen, indem er darüber mit jemandem sprach.
»Sie hat einen wirklich verlässlichen Gefährten in dir«, sagte Greta mit einem Anflug von Bitterkeit.
»Ich hoffe, dass den jeder meiner Freunde in mir hat«, erwiderte Carlo. »Auch du, Greta. Über meine Verpflichtung, Jenny und Viktor zu helfen, gibt es für mich kein Verhandeln. Aber ich werde immer versuchen, für dich da zu sein, wenn du mich brauchst – einerlei, ob du meine Haltung akzeptieren kannst oder nicht.«
Es war brutal, sie vor eine solche Entscheidung zu stellen, wohl wissend, dass sie überzeugt war, keine Wahl zu haben. Er aber fand, dass auch er keine hatte. Wie der rechtschaffene, anständige Mann, der er immer hatte sein wollen, mit einer solchen Situation umzugehen hatte, hatte ihn niemand gelehrt.
»Es ist schon gut, Carlo«, hatte Greta schließlich gesagt. »Du tust, was du tun musst, daran werde ich dich nicht zu hindern versuchen. Kannst du mir noch eine einzige Frage beantworten, damit ich begreife, wogegen ich eigentlich kämpfe?«
Verzichte auf die Frage!, hätte er ihr um ein Haar zugerufen. Verzichte um deinetwillen, und kämpfe gegen nichts mehr. Stattdessen schwieg er und nickte.
»Hältst du es überhaupt für möglich, dass du mich jemals so lieben könntest, wie du sie geliebt hast?«, fragte sie.
»Ich bin kein Hellseher.«
»Aber du bist auch kein Feigling, sondern ein ehrlicher Mann. Bitte sag es mir.«
Er hätte seine Lippen mit Wachs versiegeln wollen, damit die Antwort nicht herauskonnte, aber vielleicht hätte nicht einmal Wachs etwas bewirkt.
»Nein, Greta«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Ich glaube nicht, dass ich irgendeine Frau jemals so lieben könnte, wie ich Jenny geliebt habe. Du hast Besseres verdient, und ich wünschte, ich könnte dir dieses Bessere geben, aber ich kann nur geben, was ich habe.«
Sie blieb lange stumm. Ihm war klar, dass sie mit den Tränen kämpfte, und er schämte sich. »Das, was du hast, ist mir genug«, sagte sie schließlich. »Ob ich es zum Wachsen bringe oder nicht, liegt schließlich bei mir selbst, falls ich die Gelegenheit dazu erhalte. Bitte versprich mir nur eines: Sei ehrlich zu mir. Wenn sie sich meldet, wenn etwas zwischen euch sich ändert – entwürdige uns nicht beide, indem du es mir verheimlichst.«
Carlo versprach es. Nicht nur Greta, sondern auch sich selbst.
Die Nächste, mit der er über Jenny hatte sprechen müssen, war Nina gewesen.
»Ich brauche drei Wochen Vorsprung«, hatte ihn Jenny in jener Nacht aus der Telefonzelle angefleht. »Nina ist schlau, und wenn sie weiß, was los ist, kommt sie mir nach und führt ihn womöglich auf meine Spur. Sag ihr, ich habe angerufen, weil ich krank bin, weil das mit meinem Rücken schlimmer geworden ist und ich mit Viktor irgendwohin in eine Klinik fahre. Sag ihr, die Behandlung dauert drei Wochen, und wenn sie danach sieht, dass ich nicht wiederkomme, kannst du ihr erzählen, was du weißt. Darius kannst du auch mit dieser Rückengeschichte beruhigen, aber er wird sich seinen Teil denken und keine Fragen stellen.«
Darius war der treueste Freund, den Jenny sich wünschen konnte. Er stellte tatsächlich keine Fragen, auch wenn er wie ein Tier darunter leiden musste, Viktor, den er von klein auf umsorgt hatte, verloren zu haben. In einer kurzen Nachricht an Carlo ließ er lediglich ausrichten: »Bitte lass sie wissen: Wenn es etwas gibt, das ich tun kann, bin ich da.«
Carlo bot an, ihm bei der Miete für die Wohnung zu helfen, aber Darius lehnte ab. »Besten Dank, aber Ypsilantis und ich kommen zurecht. Zur Not nehmen wir ein paar Schlafgänger auf, an Platz mangelt es ja nicht.«
Nina hingegen war im Handumdrehen wieder auf Neu-Mahlen, sobald ihr klar geworden war, dass Jenny keineswegs nach einer Wunderbehandlung in irgendeiner ominösen Klinik nach Berlin zurückkehren würde. Gleichzeitig musste sie erkennen, dass Carlo die ganze Zeit Bescheid gewusst hatte, und das war ein zusätzlicher Schlag.
»Wisst ihr, in was für eine Lage ihr beide mich mit eurer Heimlichtuerei bringt?«, hatte sie Carlo noch auf dem Bahnhof in Templin angefahren. »Und nicht nur mich, sondern jedes einzelne Mitglied des Ensembles. Aschinger droht mir ohnehin schon, uns rauszuschmeißen. Die Pleite mit der Silvestervorstellung war schlimm genug, aber dass ich jetzt nicht einmal in der Lage bin, ihm zu sagen, wohin mein bestes Pferd im Stall verschwunden ist, schlägt jedem Fass den Boden aus. Was für eine Idiotin bin ich eigentlich? Weshalb habe ich dir den zusammengeschusterten Unsinn mit dieser Klinik überhaupt abgekauft, statt auf eigene Faust nachzuforschen, was ihr da ausgekungelt habt?«
Carlo war die Geschichte mit der Klinik selbst reichlich fadenscheinig vorgekommen, und er hatte bezweifelt, dass Nina sich damit zufriedengeben würde. Dafür, dass sie es drei Wochen lang getan hatte, gab es jedoch einen naheliegenden Grund: Nina war verzweifelt. Sie war so tief in ihre eigenen Probleme und ihre eigene Traurigkeit verstrickt, dass sie froh um alles war, um das sie sich nicht obendrein noch kümmern musste.
Seit sie ihr Kind verloren hatte, war seine lebensfrohe, vor Kraft und Zuversicht strotzende Schwester nicht mehr sie selbst. Dem zum Trotz hatte sie sich mit allem, was sie aufbringen konnte, in die Aufgabe gestürzt, ihren Wintergarten, ihre Wunderweiber und etliche andere bedrohte Künstler so heil wie nur möglich durch die Krise zu steuern. Sie war für jeden da gewesen, hatte sich mit Aschinger und anderen unausstehlichen Personen angelegt, um die nötigen Verträge auszuhandeln, und hatte selbst Gestalten wie diesen Ernst-Egon Neugebauer geschützt, der ihr einst alles andere als wohlgesinnt gewesen war. Beinahe war es Carlo vorgekommen, als verlange sie nun, wo sie keine Mutter mehr sein konnte, von sich, für ihr gesamtes Umfeld zur Mutter zu werden. Dass sie sich dabei langsam, aber sicher aufrieb, hatte sie nicht abgehalten. Und dass sie und Anton sich weiter und weiter voneinander entfernten, hatte sie womöglich über lange Zeit nicht einmal bemerkt.
Als sie Carlo angerufen hatte, um ihn wissen zu lassen, dass sie und Anton über die Weihnachtsfeiertage kommen würden, hatte sie so etwas angedeutet: »Anton und ich haben für uns und unsere Liebe seit Langem viel zu wenig Zeit gehabt«, hatte sie gesagt. »Es wird schön sein, auf Neu-Mahlen endlich wieder einfach zusammen zu sein – ohne Verpflichtungen, ohne ständige Blicke auf die Uhr, ohne Druck. Und es wird schön sein, euch alle zu sehen.«
Stattdessen war Anton vor der geplanten Abreise mit der Bombe herausgeplatzt, dass er eine Tochter hatte. Dass er von einer anderen Frau bekommen hatte, was Nina ihm so gern hätte geben, was sie so gern mit ihm hätte teilen wollen.
Carlo hatte sich die Umstände, die Anton ihm anvertraut hatte, viele Male durch den Kopf gehen lassen, und war jedes Mal aufs Neue zu dem Schluss gekommen, dass seinen Schwager keine Schuld traf: Nach dem tragischen Tod seiner ersten Frau hatte er ein Verhältnis mit seiner Schauspielkollegin begonnen, und das alles hatte sich ereignet, ehe er und Nina einander begegnet waren. Die beiden hatten noch einmal eine Nacht miteinander verbracht, als Nina sich im Streit von ihm getrennt hatte, und in dieser Nacht war ein Kind entstanden. Da die Frau – Katharina Lange – Berlin verlassen hatte, ohne Anton etwas von ihrer Schwangerschaft zu erzählen, hatte dieser seiner Verantwortung auch nicht nachkommen können, sondern hatte reinen Gewissens seine Liebe zu Nina genossen.
Wäre Katharina Lange nicht unter verzweifelten Umständen ums Leben gekommen, hätte Anton von seiner Vaterschaft vermutlich nie erfahren. Genau genommen stand nicht einmal fest, dass er davon erfahren hätte, hätte nicht sein einstiger Freund Rudolf Kante die Polizei darauf aufmerksam gemacht. Katharina Lange hatte ihn nämlich nicht als Vater benannt. Kante aber musste eins und eins zusammengerechnet haben: Er wusste, in welcher Zeit die Affäre stattgefunden hatte, und obendrein war das kleine Mädchen Anton wie aus dem Gesicht geschnitten.
Dass Anton sein Kind, das allein in der Welt stand, nicht seinem Schicksal überlassen wollte, war ihm anzurechnen. Carlo war sicher: Kein Mann von Anstand – und schon gar nicht er selbst – hätte anders handeln können.
Seiner Schwester konnte er allerdings nicht verübeln, dass es für sie so einfach nicht war. Der Mann, mit dem sie ihr Leben teilte, hatte sie belogen. Er hatte die Existenz der kleinen Selma vor ihr verheimlicht, hatte sein Engagement gekündigt, um sich um seine Tochter kümmern zu können, und hatte schließlich mit ihrem Bruder über sein Dilemma gesprochen – nicht aber mit ihr.
Der Vertrauensbruch wog schwer und traf Nina ausgerechnet dort, wo sie am verwundbarsten war. Vielleicht hätte sie Anton seine Lügen und Heimlichkeiten verziehen, hätte verstehen können, wie hilflos und überrumpelt er selbst sich gefühlt hatte, wäre es nicht ausgerechnet um das eine gegangen, das ihr den größten Schmerz bereitete:
Um ein Kind.
Wie man es auch drehte und wendete, es blieb unter dem Strich dasselbe Ergebnis.
Er hatte eines.
Sie hatte keines.
Leben mussten sie beide damit.
Nina war Hals über Kopf in den Zug gestiegen und ohne Anton nach Neu-Mahlen gefahren. »Wie es weitergeht, weiß ich nicht«, hatte sie zu Carlo gesagt. »Um darüber zu entscheiden, habe ich jetzt nicht die Kraft.«
Carlo hatte das akzeptiert, so gern er ein Wort für Anton eingelegt hätte. Nina aber hatte das Recht, auf ihre eigene Weise mit den Blitzschlägen, die ihr Leben getroffen hatten, umzugehen.
Sie war ihm so unsäglich einsam vorgekommen während dieser stillen, traurigen Feiertage.
Bis in der Silvesternacht Jenny angerufen hatte und ihm noch einsamer vorgekommen war.
Warum nur konnte er ihnen beiden nicht helfen, warum konnte er sie nicht unter sein Dach holen, in dieses große, behagliche Haus voller liebenswerter Menschen, und sie all ihren Schmerz, alle Verletzungen, alle Furcht aus sich herausweinen lassen, bis die Flut ganz allmählich verebbte?
Schäumend vor Zorn, stand Nina Ende Januar wieder vor der Tür und verlangte zu wissen, was mit Jenny war. Soweit Carlo berechtigt war, darüber zu sprechen, sagte er es ihr:
»Sie ist zu dem Schluss gekommen, sie muss fort, weil sie mit Viktor in Berlin nicht mehr sicher ist«, hatte er mühsam und sich windend zu erklären versucht. »Es hat nichts mit dir zu tun, Ninchen, mit uns allen nicht, sondern mit dem Leben, das Jenny geführt hat, ehe wir sie kannten. Du weißt selbst, dass sie nie jemandem erlauben wollte, daran zu rühren. Von mir hat sie sich vor allem aus diesem Grund getrennt.«
»Es tut mir leid, Carlo, aber hier geht es nicht um deine gescheiterte Liebesgeschichte«, hatte Nina ihn angeblafft. »Jenny steht bei mir unter Vertrag, sie ist unser Zugpferd, wir alle hängen von ihr ab.«
Sie mochte vor Zorn schäumen und versuchen, ihn zu kränken, aber Carlo kam sie noch einsamer vor als zu Weihnachten. Ihm tat das Herz weh. Auch wenn sie noch so sehr darauf beharrte, dass es ihr um Verträge und Verpflichtungen ging, war für ihn unverkennbar, dass sie in Wahrheit ihre Freundin vermisste und sich von ihr verlassen fühlte. Beide – ihr Geliebter und ihre liebste Gefährtin – hatten nicht genug Vertrauen zu ihr aufgebracht, um sie einzuweihen. Beide hatten sich stattdessen an Carlo gewandt, und hier stand sie nun mit leeren Händen und verstand die Welt nicht mehr.
Er behielt recht. Nachdem sie ihre Wut ausgetobt hatte, klang sie geradezu verzagt: »Kommt sie wieder, Carlo?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er, unfähig, seine eigene Traurigkeit zu verbergen.
Er hatte Jenny dasselbe gefragt, in jener Nacht, in der sie zu allem Überfluss auch noch rasend schnell hatten reden müssen, weil die Groschen nur so durch den Telefonapparat rasselten und Jenny und Viktor vor Kälte die Zähne klapperten. Sie hatte ihn gebeten, ihr Geld zu leihen, ihre ausstehende Gage vom Wintergarten, die Nina ihm zurückzahlen würde. Unter dem Namen Eugenie von Siver sollte er es auf einem Postamt in Köpenick deponieren und zudem ein paar Dinge für sie besorgen und in einem Schließfach hinterlegen. Er hatte ihr alles versprochen, hatte ihre Panik und Verzweiflung gespürt und es nicht über sich gebracht, ihr etwas abzuschlagen.
»Kannst du mir wenigstens versprechen, dass du wiederkommst, wenn das, was dir solche Angst macht, vorbei ist?«, hatte er sie gefragt. »Und wirst du uns dann erlauben, dir und Viktor beizustehen, euch zu helfen, das, was geschehen ist, hinter euch zu lassen?«
Durch die rauschende Leitung hatte er ihr trauriges Lachen gehört und gedacht, dass ihr Lachen, das er so geliebt hatte, schon immer auch ein wenig traurig gewesen war. »Das klingt so hübsch, Carlo, Herzing. Das meiste, was du zu mir gesagt hast, hat immer so hübsch geklungen. Aber das hier geht nicht vorbei, und über manches, was geschieht, kommt man nicht hinweg. Ich höre mich an wie ein Russe, pathetisch und übersteigert. Wahr ist es leider trotzdem.«
Carlo wusste, das Gespräch konnte jeden Augenblick zu Ende sein, und in seiner Not sann er auf etwas anderes: »Dann versprich mir, dass du mir von Zeit zu Zeit eine Nachricht schickst«, sagte er. »Du brauchst mir nicht zu verraten, wo ihr steckt, kannst die Briefe von irgendwem absenden lassen, wenn ihr längst über alle Berge seid, aber lass mich bitte zumindest alle paar Wochen wissen, dass es euch gut geht. Dass ihr außer Gefahr seid. Und dass ihr meine Hilfe nicht braucht.«
Auch dagegen hatte sie sich gesträubt, doch weil die Zeit am Telefon ihr buchstäblich durch die Finger rann, hatte sie schließlich nachgegeben. Kaum hatte das Klicken in der Leitung Carlo verraten, dass sie aufgelegt hatte, war in ihm die Erkenntnis aufgeblitzt, dass sie ihr Versprechen nicht halten würde. Sie würde aus seinem Leben so vollständig verschwinden, wie sie an einem unvergesslichen Tag darin aufgetaucht war, und die Vorstellung, nie wieder von ihr zu hören, nie zu erfahren, wo sie lebte und wie es ihr und Viktor ergangen war, löste ein solches Schwächegefühl in ihm aus, dass er sich auf den Boden hatte setzen müssen. Irgendwann hatten sich Schritte genähert, und mit einer Spur Erleichterung hatte er festgestellt, dass es nicht Greta, sondern Oma Hulda war, die kam, um nach ihm zu sehen.
»Geht die Welt unter?«, hatte sie ihn gefragt. »Und das noch vor Mitternacht?«
Keinem anderen Menschen hätte er so gern anvertraut, was er gerade erlebt hatte, wie seiner Großmutter, die mit ihren beiden Beinen so fest im Leben stand wie die Pfeiler aus Eichenholz, die das Dach seines Hauses trugen. Aber er durfte es nicht. Er hatte sein Wort gegeben.
»Es fühlt sich so an«, hatte er stattdessen gesagt.
»Ich verstehe«, sagte Oma Hulda. »Weißt du, was hilft, wann immer es sich so anfühlt?«
»Was?«, fragte Carlo.
»Aus dem Fenster sehen«, sagte Oma Hulda. »Und sich fragen, wo die denn hinsoll, wenn sie untergeht – so groß, wie die ist.«
Carlo hatte sich auf die Füße gerappelt und seiner Oma gesagt, wie sehr er sie liebte. Seine Oma hatte ihm ebenfalls gesagt, dass sie ihn liebte, und hinzugefügt: »Reißt euch zusammen, du und deine Schwester, seht zu, dass ihr das mit eurem Leben hinbekommt. Das seid ihr mir schuldig, wisst ihr das? Ich habe bereits meinen Sohn an eine dieser Verwicklungen der Weltgeschichte verloren, die zu durchschauen wir kleinen Menschlein nicht ausgestattet sind, und ich werde nicht kampflos zusehen, wie ein weiterer meiner Nachkommen vor die Hunde geht.«
Es war das erste Mal, dass sie den Tod ihres Sohnes erwähnt hatte, und Carlo war sich sicher, es würde das einzige Mal bleiben.