E r hatte es Nina gesagt, in ihre Verzweiflung über Jenny hinein: »Wir müssen kämpfen, Ninchen. Die Köpfe über Wasser halten, das schulden wir Oma und den anderen. Auch den Toten. Wir dürfen uns das, was unser Leben ausmacht, nicht wegnehmen lassen.«
Sie hatte ihn angesehen, als wäre sie nicht sicher, welche Sprache er sprach. »Und wenn von dem, was unser Leben ausmacht, nichts mehr übrig ist?«, fragte sie. »Wenn wir zum Kämpfen keine Kraft mehr haben?«
Er hatte die Arme um sie geschlungen, und sie hatten beide geweint. Um Jenny. Um Viktor. Um Ninas Kind und um Anton. Hätten sie damals, als ihr Vater gestorben war, so miteinander gestanden, hätten sie sich womöglich vieles leichter gemacht. Damals aber hatten sie nicht gewusst, dass Weinen manchmal half, sondern hatten befürchtet, in ein Loch zu fallen, aus dem sie nicht mehr herauskamen.
»Ich fahre zurück nach Berlin und versuche, zu retten, was zu retten ist«, sagte Nina. »Du, sag mir Bescheid, falls du von Jenny hörst, ja? Sag ihr, sie ist eine idiotische Pute und soll gefälligst nach Hause kommen. Wir töten einen Drachen für sie, wenn einer es wagt, vor ihr das Maul aufzureißen.«
Dass es sich bei dem Drachen um Viktors Vater handelte, wussten sie beide, ohne es auszusprechen.
Zwei Wochen später bekam er einen Briefumschlag, auf dem kein Absender, sondern lediglich ein unleserlich verschmierter Poststempel prangte. Darin steckte eine zerknitterte Weihnachtskarte.
»Lieber unglaublicher Carlo«, stand auf der Rückseite. »Manchmal hält sogar Jenny A. ihre Versprechen und teilt Dir demzufolge mit, dass sie und der Kleining wohlauf und, soweit möglich, in Sicherheit sind. Schreiben kannst Du mir nicht. Aber wenn Du willst, eine Anzeige (bitte gerichtet an Frau Sch. Lang) in der guten alten Tante Voss aufgeben, die ich hier (wo immer das sein mag), kaufen (oder am Kiosk umsonst lesen) kann. Zumindest, solange wir hierbleiben. Wie lange das sein wird – wer weiß? J.«
Carlo fuhr nach Templin aufs Telegrafenamt und telegrafierte eine sündhaft teure Anzeige an die Annahmestelle in Berlin:
»An Frau Sch. Lang & Sohn. Für Weihnachtsgrüße erstatten wir Dank und (vom Guten) nur das Beste zurück. Halten Sie uns über Befinden auf dem Laufenden und geben Nachricht im Fall eines Mangels. Die Sehnsucht brennt. Ihr ergebener Diener H. Erz-Ing.«
Er wollte den Schalterbeamten schon bitten, den letzten Satz wieder zu streichen, entschied sich dann aber um und ging. Nach sechs Wochen, als es bereits Frühling wurde, kam wieder eine Karte von ihr, diesmal mit einem Osterhasen samt Kiepe und bemalten Eiern:
»Die Frau Sch. Lang hat die Zeitung gar nicht kaufen wollen, aber dann hat sie’s doch getan, und letzten Endes war sie froh. Unkraut vergeht zwar nicht, und auch der Kleining wächst weiter, aber es macht ja trotzdem so ein komisches, warmes Gefühl, gesagt zu bekommen, dass man da, wo man gewesen ist, nicht ganz entbehrlich und ersetzlich war. Habe mein Leben lang Angst vor zu kleinen Räumen gehabt und fürchte mich auf einmal vor zu großen. Falls gewünscht, bitte nächstes Mal Tageblatt benutzen. Und nicht verbrennen.J.«
»Wo Frau Sch. Lang war, ist jetzt ein Loch«, ließ Carlo in den Anzeigenteil des Tageblatts setzen. »Dahinein stopfen wir tagtäglich mit sämtlichen Kräften alles, was wir haben, aber wenn wir am Morgen wiederkommen, ist das Loch wieder genauso groß, wie es war. So entbehrlich und ersetzlich sind Sie. C.«
So kommunizierten sie weiter. Die Umschläge, in denen Jennys Karten ihn erreichten, hob Carlo sorgfältig auf, untersuchte sie jedoch nicht näher, weil er Jenny schließlich versprochen hatte, nichts zu unternehmen, um sie zu finden. Nach dem Eintreffen jeder Karte rief er Nina in Berlin an, um sie wissen zu lassen, dass Jenny und Viktor wohlauf waren.
Nina war tapfer, wie er es von ihr kannte. Sie hatte eine Zeit lang bei Sonia und deren ein wenig dubiosen Freund gewohnt und war dann in eine Suite im Central-Hotel gezogen.
»Ist dir das nicht zu unpersönlich?«, hatte Carlo gefragt. Soweit er sich erinnerte, liebte es seine Schwester, ihre gesamte Habe samt Andenken, Bildern und kuriosen Geschenken um sich herum zu verteilen und vor allem zu jeder Tages- und Nachtzeit ihre Freunde einzuladen.
»Es spart Geld«, erwiderte sie lapidar. »Das Hotel stellt mir die Räume umsonst zur Verfügung, und das Unpersönliche rettet mir im Augenblick vermutlich den Verstand.«
Carlo wusste, dass Anton mehrmals versucht hatte, mit Nina zu reden. Da sie ihn jedoch jedes Mal bat, ihr ihren Frieden zu lassen, gab er es schließlich auf. Er hatte auch angeboten, mit seiner Tochter in eine andere Wohnung zu ziehen, damit Nina in ihr geliebtes Refugium in der Jerusalemer Straße zurückkehren konnte, aber selbst das hatte Nina abgelehnt.
»Warum sollte ich einen vierköpfigen Haushalt aus der Wohnung werfen, um ganz alleine in sieben Zimmern zu hausen?«, hatte sie Carlo erklärt. »Anton wird ja Frau Brenneisen und Frau Rottenheimer brauchen, damit sie ihm auf das Mädchen achten, wenn er arbeitet. Und die beiden werden selig sein, sich um ein Kind kümmern zu dürfen. Sie haben sich damals so auf den kleinen Johnny gefreut.«
Carlo wusste, wie sehr Nina zu kämpfen hatte, um Direktor Aschinger bei Laune zu halten. Von morgens bis abends war sie auf der Jagd nach neuen Sensationen und trieb zugleich ihr eigenes Ensemble durch die härtesten Proben, um ein neues, mehr auf Humor und Sprache ausgerichtetes Konzept zu entwickeln. Jenny war unersetzlich, und wenn die Wunderweiber überleben wollten, mussten sie andere Wege finden, um bei den Berlinern einen Nerv zu treffen. Carlo war überzeugt: Wenn es jemanden gab, der dieses Kunststück fertigbrachte, dann war es seine Schwester Nina, die schon als Kind aus dem Nichts Theaterwelten gestampft hatte, in denen Menschen sich verlieren wollten.
Er sorgte sich dennoch um sie, denn wann immer sie sich sahen, wirkte sie müde und verbraucht. Sie kam häufig nach Neu-Mahlen, blieb aber nie länger als zwei Tage und brachte sich Berge von Arbeit mit. »Ich finde, du solltest nicht so allein sein«, sagte er. »Du bist noch immer jung, du bist schön und eine faszinierende Frau. Du weißt, dass Anton dich liebt, oder nicht? Man kann von einem Vater nicht verlangen, dass er sich zwischen seinem Kind und seiner Frau entscheidet, aber das heißt nicht …«
»Carlo«, unterbrach sie ihn scharf, »ich wüsste nicht, dass ich dich beauftragt hätte, mir einen Vortrag über die Optimierung meines Liebeslebens zu halten. Damit du’s weißt: Ich habe an einem solchen Vortrag keinen Bedarf, und wenn ich einen hätte, würde ich nicht ausgerechnet jemanden beauftragen, dessen eigenes Liebesleben ein so heilloses Durcheinander ist wie das deine.«
»Das saß«, sagte er.
»Tut es immer, wenn es zutrifft«, erwiderte sie, warf ihm eine Kusshand zu und ging, um auf ihrem Rappen Palü, der keine Anzeichen von Alter zeigte, durch die duftenden Wälder zu sprengen.
Sie hatte recht.
Sein Liebesleben war heillos.
Er musste Greta heiraten.
Kaum war Nina wieder in Berlin, fand sich dafür ein weiterer Grund.
Der Wahlkampf wurde mit brutaler Härte geführt. Wer Plakate und Werbezettel las, konnte zu dem Schluss gelangen, die Parteien hätten keine Ziele, um Menschen von sich zu überzeugen, sondern wollten gewinnen, indem sie ihre Gegner in Grund und Boden schmähten. Die SPD zeigte auf ihrem Plakat ein Hakenkreuz, auf das ein gefolterter Arbeiter wie auf ein Rad geflochten war, beschimpften jedoch auch die Kommunisten als »Feinde der Demokratie«. Die KPD konterte mit einem Bild des Reichstags und dem Slogan »Schluss mit diesem System«. Eine Annäherung zwischen beiden, die dem Feind von rechts vielleicht Einhalt geboten hätte, schien nicht denkbar, jedes Gespräch war so sehr zum Scheitern verurteilt wie jene zwischen Nina und Anton. Die Nazis ihrerseits brachten ein Bild von verhungernden Kindern, auf dem die Schlagzeile »Unsere letzte Hoffnung – Hitler« prangte.
Bei den scheußlichen Plakaten blieb es jedoch nicht.
Abordnungen der SA , deren Verbot im April sofort wieder aufgehoben worden war, stürmten die Wahlveranstaltungen ihrer Gegner, zertrümmerten Lokale und prügelten reihenweise Menschen krankenhausreif. Längst hatten die Linksparteien begonnen, sich mit gleichen Mitteln zur Wehr zu setzen. In den Straßen lieferten sie sich erbarmungslose Schlachten, bei denen nicht nur Scheiben zu Bruch gingen. In einem Vorort von Hamburg kam es während eines Aufmarschs der SA zu einer Schießerei mit Kommunisten und der Polizei, bei der achtzehn Menschen ihr Leben verloren.
»Wie schrecklich und traurig das ist«, rief Tante Sperling, der die von Carlo auf dem Salontisch vergessene Zeitung in die Hände gefallen war. »All diese jungen Menschen. Ich wünschte, wir könnten unser Ninchen herholen. Ich weiß, sie würde sich zu Tode langweilen, aber zumindest geht es in unserem friedlichen Templin nicht so barbarisch zu wie in den großen Städten.«
Darin täuschte sie sich. Am folgenden Sonntag, dem letzten vor der Wahl, stand der Zeitungskiosk auf Templins Rathausplatz in Flammen. Ringsum tobte eine Schlacht zwischen SA -Leuten und ihren linksgerichteten Gegnern, bei denen Knüppel, Zaunlatten und die Stühle, die vor dem alten Café in der Sonne gestanden hatten, zum Einsatz kamen. Polizei und Feuerwehrleute hatten Mühe, sich zum Einsatzort durchzukämpfen, und machten ihrerseits von Schlagstöcken und Gewehrkolben Gebrauch. Ob der Kiosk absichtlich in Brand gesteckt worden war, würde sich später gewiss nicht ermitteln lassen, doch der Inhaber, der alte Herr Jakob, war sowohl Jude als auch Mitglied der sozialdemokratischen Partei.
Carlo, der von einer Sitzung des Landrats kam, sah Blutflecken auf dem sonst blank gefegten Pflaster und zertrümmerte Zeitungsaufsteller in den gepflegten Blumenrabatten. Vor allem aber sah er einen Verletzten, der unter einem der jungen, im letzten Jahr erst gepflanzten und schützend umzäunten Kastanienbäumchen auf dem Rücken lag. Bei ihm knieten ein Mann und ein Mädchen, die sich über ihn beugten. Carlo wollte nach Hause, wollte mit alledem nichts zu tun haben, doch der Anblick ließ ihn erstarren.
Der Mann am Boden schien nicht gefährlich verletzt. Er hatte am Kopf eine Schürfwunde, blutete am Knie und hielt sich den rechten Arm. Er war auch noch kein Mann, sondern ein Junge in kurzer Lederhose und mit einer Hakenkreuzbinde am Arm. Der Mann, der sich über ihn beugte und ebenfalls die Binde trug, war Carlos Jugendfreund Dietrich Schultz. Das Mädchen, das neben ihm kniete und klagende Laute von sich gab, war seine Schwester Otta.
Mit wenigen Sätzen überquerte Carlo den Platz, stieß hemmungslos beiseite, wer immer sich ihm in den Weg stellte, und packte Otta grob an der Schulter.
»Damit ist jetzt Schluss! Du kommst mit mir nach Hause.«
Von dem Geschrei, in das Otta ausbrach, hörte er kaum etwas, sondern wandte sich Dietrich zu. »Meiner Schwester ist es künftig verboten, mit deinem sauberen Verwandten zu verkehren«, herrschte er ihn an und wies voller Grimm auf den Jungen, bei dem es sich zweifellos um jenen Richard aus Westpreußen handelte. »Sie kommt nicht mehr in euer Haus und trifft sich auch sonst nirgendwo mit euch, hast du mich verstanden?«
Eine Antwort wartete er nicht ab, sondern verließ den Platz und zerrte Otta hinter sich her. In seiner bodenlosen Wut war ihm gleichgültig, ob er ihr wehtat oder ob jemand ihn sah.
Erst als sie in die Seitenstraße einbogen, in der er den Landauer abgestellt hatte, kam er zur Besinnung, weil Otta lauthals jammerte: »Au, au, au, bist du verrückt geworden? Du reißt mir ja den Arm aus.«
Schuldbewusst ließ Carlo sie los. Gewalt hatte es in seiner Familie nicht gegeben, und dass ausgerechnet er dazu fähig sein sollte, seiner kleinen Schwester Schmerz zuzufügen, erschreckte ihn. Er hatte sich nicht einmal in der Schule geprügelt, und einen Zorn wie den, der jetzt erst langsam von ihm wich, kannte er an sich nicht.
Otta aber hatte sich blitzschnell wieder erholt und wollte den Augenblick nutzen, um zurück zum Platz zu flitzen. Carlo schaffte es gerade noch, sie von Neuem am Arm zu packen. »Hiergeblieben! Zu diesem Kerl gehst du nicht wieder – nicht heute und auch an keinem anderen Tag.«
»Was fällt dir denn ein?«, keifte Otta und bäumte sich in seinem Griff wie ein Fohlen. »Du hast mir gar nichts zu sagen – du bist nicht mein Vater!«
Ihren Vater hatte Otta nicht kennengelernt. Nach ihrer Geburt war er zwei Tage auf Fronturlaub heimgekommen und hatte versprochen, zu ihrer Taufe zurück zu sein. »Und dann ist der Krieg vorbei, ich bleibe bei euch und erlebe, wie mein zweites kleines Mädchen groß wird.«
Er war weder zur Taufe noch überhaupt je wiedergekommen, und Otta war als männlicher Halt nur ein Bruder geblieben, der mit seinen siebzehn Jahren selbst noch haltlos und mehr Kind als Mann gewesen war. Kein Wunder, dass sie außer Rand und Band geriet. Er musste mit den Frauen reden, musste ihnen einschärfen, wie wichtig es war, dass sie alle besser auf Otta achtgaben.
Und er musste Greta heiraten. Sie hatte es ihm einmal erklärt: Wenn sie im Haus eine Stellung innehatte, konnte sie so etwas wie eine zweite Mutter für Otta sein und über sie wachen. Ottas richtige Mutter war eine wunderbare Frau, die ihre Kinder mit Liebe überhäufte, aber Autorität und Strenge waren nicht ihre Stärken.
Meine auch nicht, dachte Carlo, schob Otta hinauf auf den Kutschbock und trieb ohne viel Federlesens die Pferde in Trab. Aus dem Augenwinkel musterte er dabei seine Schwester, die ihr hübsches blondes Haar in Schnecken geflochten trug. Nina hätte sich eher den Kopf kahl geschoren, als mit einer solchen Frisur herumzulaufen, aber Greta trug ihr Haar nicht viel anders. In dem rot karierten Schürzenkleid, das Otta anhatte, zeichnete sich unverkennbar ihre volle Brust ab.
Carlo sah wieder geradeaus.
Seine kleine Schwester war kein Kind mehr, obwohl sie ihm mit ihren fünfzehn Jahren verwundbarer und schutzbedürftiger vorkam als mit vier, als sie in ihren Kinderreitstiefeln und dem langen Regenmantel forsch und fröhlich durch den Stallgang marschiert war.
»Du kannst mir nicht verbieten, mich mit Richard zu treffen«, stieß sie hervor. »Richard liebt mich, und ich liebe ihn. Er ist schon achtzehn. Wenn er großjährig ist, heiraten wir.«
»Bis dahin sind es noch drei Jahre«, sagte Carlo so nüchtern, wie er es vermochte. »Und wenn er großjährig ist, bist du es noch lange nicht, sondern brauchst, um zu heiraten, das Einverständnis deines Vormunds. Der bin ich, so leid es mir für dich tut. Damit wir uns richtig verstehen, Otta: Zur Heirat mit einem Nazi werde ich dir mein Einverständnis nicht geben, weder heute noch in weiß Gott wie vielen Jahren. Selbst wenn der Nazi nur ein dummer Junge ist, der nicht weiß, was er da eigentlich redet. Wer sich mit Verbrechern gemein macht, muss dafür die Konsequenzen tragen und hat in unserer Familie keinen Platz.«
»Richard ist kein dummer Junge!«, empörte sich Otta. »Und ein Verbrecher erst recht nicht. Richard und seine Freunde wollen, dass es Deutschland endlich wieder gut geht, dass nicht alles den Juden und den Polen und Franzosen hinterhergeschmissen wird, sondern dass man es uns Deutschen gibt, die schließlich nicht die Fußabtreter von Europa sind.«
»Ach Gottchen«, entfuhr es Carlo. »Wir hätten uns wirklich mehr um dich kümmern und für deine Bildung sorgen müssen. Ich hatte gehofft, dass du zu helle bist, um solchen hohlen Unsinn nachzuplappern.«
Es war das Falscheste, was er hätte sagen können, das war ihm selbst klar. Sie war jung, und junge Leute wollten dazugehören, wollten sich im Kreis von ihresgleichen aufgehoben fühlen. Er und Nina hatten immer einander gehabt, aber Otta war viel einsamer, als ihm bewusst gewesen war. Sie hatte ihr Herz damals nicht umsonst an Viktor gehängt.
Er hatte das Falsche gesagt, aber was war das Richtige? »Ich habe dich sehr lieb, Otta«, sagte er schließlich in ihr schmollendes Schweigen, während sie die Kastanienallee von Neu-Mahlen entlang auf den Vorhof einfuhren. »Wir alle haben dich sehr lieb, und wir wollen dich nicht unter dem Einfluss von Menschen wissen, die es nicht gut mit dir meinen.«
»Richard meint es gut mit mir!« Über Ottas Gesicht flossen Tränen. »Und Onkel Dietrich und Tante Käthe auch. Die Schultzens sind wenigstens eine richtige Familie. Von euch kümmert es doch keinen, wie’s mir überhaupt geht.«
Carlo legte den Arm um sie, obwohl er wusste, dass sie ihn abschütteln würde. Er überließ Ferdi Pferde und Wagen, führte Otta ins Haus und verdonnerte sie dazu, beim Abendessen bis zum Schluss auf ihrem Platz sitzen zu bleiben. Eine Runde Schlesische Lotterie, die er hinterher vorschlug, lehnte sie ab und entfloh in ihr Zimmer. Also nutzte er die Gelegenheit, den anderen zu berichten, was geschehen war.
»Ach, unser Ottchen«, rief Tante Sperling. »Wie muss sie sich erschrocken haben. Aber ein so liebes Mädchen wird schon nichts Dummes und schon gar nichts Böses tun.«
»Herrgott, Sperling, die gesamte Menschheitsgeschichte ist wie ein Rehrücken gespickt mit lieben Mädchen, die Dummes tun«, wetterte Oma Hulda. »Und dass sie nichts Böses tun, halte ich auch für Stoff, aus dem Legenden sind. Das Problem liegt darin, dass die Menschheitsgeschichte noch nichts erfunden hat, womit man sie daran hindern kann.«
»Otta ist noch so jung«, mischte sich Carlos Mutter ein. »Von dem, was diese Nazis herumkrakeelen, versteht sie doch gar nichts. Sie ist einfach in diesen Richard verliebt, der ja kein schlechter Kerl sein muss, nur weil er in den falschen Kreisen verkehrt. Fanden wir nicht alle das Leben recht schwierig, als wir in diesem Alter waren? Und heutzutage bekommt man nicht einmal mehr zur Konfirmation ein Buch mit Benimmregeln geschenkt, weil kein Mensch mehr weiß, welche noch gelten.«
»Ich glaube nicht, dass es so harmlos ist«, begann Carlo vorsichtig, aber Greta schnitt ihm das Wort ab.
»Nein, es ist nicht harmlos«, sagte sie. »Aber das Problem liegt nicht in Ottas Freundschaft mit Richard Schultz. Sie ist verwirrt, sie hat niemanden, der ihr Grenzen setzt, und auch keinen, zu dem sie aufblickt und von dem sie lernt. Ich würde sie gern unter meine Fittiche nehmen und ihr ein wenig Führung geben. Nur weiß ich nicht, ob man mir in dieser Familie das Recht dazu zuspricht. Schließlich bin ich kein Mitglied, sondern im Grunde eine Fremde.«
»Aber liebes Gretchen«, rief Tante Sperling. »Du bist doch keine Fremde, und natürlich freuen wir uns, wenn du dich unseres Ottchens ein bisschen annimmst. Ihr beiden Mädchen könntet schließlich beinahe Schwestern sein.«
Carlos Mutter wollte sie offenbar unterstützen, aber Oma Hulda war schneller: »Oh doch, das Fräulein von Metzler hat recht«, sagte sie. »Sie ist kein Mitglied der Familie, und unsere Probleme müssen wir unter uns lösen. Ich schlage vor, wir setzen dieses Gespräch ein andermal fort. Ich bin recht müde und mache mir außerdem gern erst Gedanken, ehe ich zu allem und jedem meine Meinung in die Welt posaune.«
Sie trennten sich, zogen sich alle zurück. Carlo fing Gretas halb fragenden, halb vorwurfsvollen Blick auf, sah sich jedoch nicht in der Lage, an diesem Abend mit ihr zu sprechen. Ihm ging es wie Oma Hulda: Er musste sich Gedanken machen. Die Spannung im Haus gehörte offenbar auch zu den Dingen, die er unterschätzt hatte, und was Greta über Otta gesagt hatte, schien Hand und Fuß zu haben. Auch durfte er die junge Frau, die er um ihre Hand gebeten hatte, nicht länger Kränkungen aussetzen. Carlo liebte seine Oma über alle Maßen, aber er wusste auch, dass sie Menschen das Leben schwer machte, wenn sie sich entschlossen hatte, sie nicht zu mögen.
Sie hatte Greta gefälligst zu mögen, sie als Carlos künftige Frau zu akzeptieren. Er würde das endlich in Ordnung bringen, würde den unterschwelligen Streit im Haus schlichten und dafür sorgen, dass sie eine richtige Familie waren. Eine Familie, in der Otta den Halt fand, den sie brauchte.
Sie hatten geglaubt, ihre Liebe würde genügen, doch wie es aussah, sehnte sich ein junger Mensch nach Form, nach Struktur. Carlo würde diese Form, diese Struktur für seine Schwester und sie alle schaffen, aber er würde noch die paar Tage abwarten, bis die Wahlen überstanden waren.
Das Ergebnis der sechsten Wahlen zum Reichstag erfuhr Carlo am Abend darauf bei einem Festakt im Dorfkrug, zu dem der Landrat eingeladen hatte. Er hatte nicht hingehen wollen, war jedoch zu der Überzeugung gelangt, sich nicht entziehen zu dürfen, und immerhin würde er in der Gastwirtschaft am schnellsten an das Ergebnis gelangen. Um ihn herum herrschten Lärm und Trubel, er selbst aber brachte vor Anspannung kaum ein Wort heraus. Als das Telefon läutete, begann sein Herz, hart und dumpf zu hämmern.
»Hitler bei fast vierzig Prozent«, verkündete Berti, der Wirt, verdattert, ehe er den Hörer auflegte. Gleich darauf brach der gesamte Schankraum in Jubel aus.
Das Gesamtergebnis wurde wenig später von einem von Bertis Söhnen mit Kreide an eine Schiefertafel geschmiert. Die NSDAP hatte mehr als siebenunddreißig Prozent der Stimmen errungen und war damit stärkste politische Kraft im Land geworden, während die Sozialdemokraten mit einundzwanzig Prozent weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz landeten. Nicht nur sie hatten verloren. Die Demokratie hatte verloren, und sie alle mit ihr.
Carlo saß wie versteinert, bis Dietrich Schultz ihm mit Wucht auf die Schulter haute. Der Mann war rot im Gesicht, schien wie in Ekstase.
»Jetzt wirst du deine Meinung noch ändern, was, Mann?«, grölte er. »Komm zu uns, Carlo. Du hast doch auch deinen Vater verloren, dir ist doch genauso unrecht geschehen, als die verdammten roten Schweine unseren kämpfenden Truppen den Dolch in den Rücken gestoßen haben. Denen haben wir den verlorenen Krieg zu verdanken! Aber damit räumt Hitler jetzt auf. Mit den Bolschewisten, den Juden, mit allem. Deutschland ist wieder wer!«
Carlo erwachte aus seiner Trance.
»Glaubst du das wirklich?«, fragte er.
»Was?« Nicht nur Dietrich, sondern mindestens drei weitere Männer starrten ihn an wie einen Gast von einem fremden Stern.
»Dass Deutschland den Krieg verloren hat, weil es eine Revolution gab? Dass wir andernfalls hätten gewinnen können?«
»Ja, wie bei den Russen«, rief einer.
»Rotfront, verrecke«, krakeelte ein anderer.
Carlo stand auf. »Kriege gewinnt niemand«, sagte er, ohne darauf zu achten, ob in dem Trubel jemand ihn hörte. »Aber selbst davon abgesehen, ist das, was man euch da eingeredet hat, eine Lüge, die neuen Schaden anrichten wird. Mehr Schaden, als wir im Augenblick ermessen können. Vielleicht wären wir andernfalls nicht so dumm. Gute Nacht.«
Damit verließ er das Lokal. Er war mit Arndt von Quadt im Wagen gekommen und würde nun den ganzen Weg nach Hause zu Fuß gehen müssen, doch das machte ihm nichts aus. Der Sommerabend hing mit seiner schweren, roten Schönheit tief über dem Land, und Carlo brauchte Zeit zum Nachdenken.
Lügen richteten immer Schaden an. Lügen, die die Vergangenheit verfälschten und eine Zukunft auf Unwahrheiten bauten, gaben keinen Halt, sondern schufen Unsicherheit und Argwohn. Auch seine eigene Lüge mochte ihm als der einfachere Weg erschienen sein, aber sie war es nicht.
Als er sein Haus erreichte, saßen dessen Bewohner – bis auf Gretas Mutter, die selten herunterkam – im Salon versammelt. Kaum dass sie ihn erblickte, ließ Tante Sperling ihren Stickrahmen fallen und eilte ihm entgegen. »Ach Carlchen, wir haben es gerade aus dem Radio erfahren! Es tut mir so leid, ich weiß ja, wie schwer du es nimmst. Aber es sind doch nur Wahlen, und es kommen doch auch wieder neue.«
»Machst du deinen Mund irgendwann wieder zu und lässt den Jungen auch mal etwas sagen?«, blaffte Oma Hulda. »Du weißt doch überhaupt nicht, was er uns mitzuteilen hat. Vielleicht brennt der Heuschober, oder unter den Stuten herrscht die Räude.«
Jene Art von Schweigen setzte ein, in dem man sich das Fallen einer Stecknadel vorstellen konnte. Carlo hätte warten, einen besseren Augenblick abpassen sollen, doch er schaffte es nicht mehr.
»Es tut mir leid, Greta«, sagte er. »Ich habe dir großes Unrecht getan, und ich werde mich nach Kräften bemühen, dafür geradezustehen, aber man macht einen Fehler nicht wett, indem man einen weiteren obendrauf häuft. Ich kann dich nicht heiraten, weil wir beide unser Leben mit einer Lüge verbringen müssten: ich mit der Lüge, dass ich die andere Frau nicht mehr liebe, und du mit der, dass du nichts davon merkst.«
Das Schweigen kehrte zurück, doch statt der Stecknadel hörte er seinen eigenen Atem. Dann sprach Oma Hulda. »Bravo«, sagte sie.
Greta sprang auf. »Dass du mich nie leiden konntest, weiß ich«, rief sie erstickt in Oma Huldas Richtung. »Aber das war nicht nötig.«
»Die Wahrheit auszusprechen, ist weit öfter nötig, als wir glauben«, erwiderte Oma Hulda ungerührt. »Ob ich dich leiden kann oder nicht, tut dabei nichts zur Sache, Kindchen. Dass mein Enkel die richtige Entscheidung getroffen hat, begrüße ich, weil es uns in die Lage versetzt, ebenfalls endlich die richtige zu treffen.«
»Ihr werft mich und meine Mutter aus dem Haus«, sagte Greta. »Spart euch die Mühe. Wenn ihr so freundlich seid, mir bis morgen Zeit zu lassen, gehe ich von allein.«
»Den Teufel wirst du tun«, sagte Oma Hulda. »Und wir auch. Dass Carlo vernünftig genug ist, dich nicht zu heiraten, weil er nicht der richtige Mann für dich ist, heißt nicht, dass wir nicht für dich und deine Mutter sorgen. Um dich deiner Vorstellung gemäß verheiraten zu können, brauchst du eine entsprechende Stellung in einer der alten Familien, also werde ich dich adoptieren. Das macht Carlo zu deinem Verwandten, der dich von Rechts wegen mit einer Mitgift auszustatten hat. Die rechtlichen Schritte habe ich vorbereitet und hätte sie auch längst vollzogen, wenn ihr zwei mit eurer lächerlichen Turtelei nicht so viel Zeit verplempert hättet.«
Der Raum voller Menschen glich Dornröschens Schloss nach dem Stich mit der Spindel: Alles erstarrte. Bis Carlo grinsen musste.
»Wieso versuchen wir eigentlich, unsere Angelegenheiten selbst zu regeln?«, fragte er. »Wir wären besser dran, wenn wir gleich unsere Oma fragen würden. Kannst du das mit den Nazis bitte auch wieder in Ordnung bringen, Oma Hulda?«
»Werde mich bemühen«, brummte Oma Hulda. »Aber deine Angelegenheit, die musst du, genau wie unsere Nina, selber regeln, und das weißt du hoffentlich. Die bewusste Dame hat keine Oma verdient, sondern einen Mann.«
Ja, Carlo wusste es. Er würde sich über törichte Versprechungen und falsche Rücksichten hinwegsetzen und Jenny suchen. Er würde ihr sagen, dass man mit Lügen und Rätseln sein Spiel nicht gewinnen konnte, weil man sein eigenes Blatt nicht kannte. Dass aber mit der Wahrheit nichts unmöglich war, weil selbst ein schlechtes Blatt zum Sieg führen mochte, wenn man es endlich richtig ausspielen konnte.
Er würde ihr sagen, was die ganze Zeit über die Wahrheit gewesen war:
Dass er sie liebte. Und dass ihn an der Frau, die sie war, nichts schreckte. Nichts in ihrer Gegenwart, nichts in ihrer Zukunft und erst recht nichts in ihrer Vergangenheit.