Jenny
W enn ich mit dir gehen soll, musst du mir erzählen, warum«, hatte Viktor gesagt.
»Dazu haben wir keine Zeit«, hatte Jenny erwidert, die zu Tode erschöpft und mit noch immer jagendem Herzen in dem schäbigen Köpenicker Pensionsbett neben ihm gelegen hatte. »Wir brauchen Schlaf, und morgen muss ich alles Mögliche für unsere Reise vorbereiten.«
»Nicht jetzt«, hatte Viktor in diesem ruhigen, bestimmten Ton gesagt, bei dem sie sich fragte, ob wirklich sie die Erwachsene war und er das Kind. »Aber wenn wir unterwegs sind, musst du es mir erzählen. Ich wollte hierbleiben, aber ich muss gehen und weiß nicht einmal, wohin. Du musst mir wenigstens sagen, woher ich komme.«
Jenny hatte es ihm versprochen.
Was er damit meinte, wie weit seine Forderung ging, erklärte er ihr erst, als sie Berlin bereits hinter sich gelassen hatten und auf dem Weg waren: auf sich allein gestellt, nur sie beide, in einer Welt, die nichts von ihnen wusste.
Am ersten Abend erreichten sie spät, nach einer Fahrt mit drei Zügen, die Stadt Posen, die jetzt Poznań hieß und in Polen lag. Die Grenze hatten sie in einem Ort namens Hindenburg zu Fuß überqueren müssen, weil ihr Zug im polnischen Korridor nicht halten durfte, und anschließend waren sie in einem polnischen Güterzug weitergefahren. Endlich am Ziel, fand Jenny mit knapper Not noch eine Pension, in der man ihnen ein Zimmer für die Nacht gab, ohne Fragen zu stellen. Nach ein wenig Bettelei verkaufte der Wirt ihr außerdem ein wenig vertrockneten Käse, zwei Zwiebeln, einen halben Laib Brot und je eine Halbliterflasche Milch und Schnaps. Als sie wiederum völlig entkräftet nach ihrer Mahlzeit im Dunkeln lagen, fragte Viktor: »Warum sind wir gerade hierher gefahren? Kennst du die Stadt, wartet hier jemand auf dich?«
»Um ehrlich zu sein – ich weiß es nicht«, antwortete Jenny. »Nur dass niemand hier auf mich wartet, weiß ich. Ich wollte wohl einfach nur in ein anderes Land, wollte eine Grenze zwischen uns und Berlin bringen. Bekannt kommt mir die Stadt nicht vor, aber ich mag wohl mal durchgereist sein, ohne auf sie zu achten.«
Das war nicht gelogen. Oder nur zum Teil. In dieser Nacht hörte sie mit dem Lügen auf.
»Erzähl mir«, sagte er, lag auf dem Rücken wie sie und starrte im Dunkeln an die Decke.
»Was willst du wissen?«
»Wer du warst«, sagte er.
Sie überlegte. Überschlug im Kopf die tausend Ausflüchte, die sie auf Variationen dieser Frage benutzt hatte, und die Abertausend, die ihr noch offenstanden. Sie verwarf sie alle. »Eine Tänzerin«, sagte sie.
»Immer?«, fragte Viktor. »Seit du klein warst?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Jenny. »Das erzählt man von mir. Ich bin in einem großen, besonderen Haus zur Welt gekommen, in einer Familie, die von jeher der Ansicht war, etwas Besonderes zu sein. Baltendeutscher Adel, Abkömmlinge jener Männer, die einst der Deutsche Orden ins heidnische Land gebracht hatte, um es zu christianisieren, zu zivilisieren und ihm Segen zu bringen. ›Am deutschen Wesen wird die Welt genesen.‹ Das kennst du doch. Heute wirbt Hitler damit, aber geglaubt haben die Deutschen es womöglich schon immer.«
»Deine Familie auch?«, fragte Viktor.
»Meine Familie unbedingt«, sagte Jenny. »Mein Großvater, Waldemar von Siver, war Ältester der Gilde und damit in den Augen der Riga-Deutschen so etwas wie ein Gott. Er hatte sieben Söhne, und mein Vater, Eduard, war sein Liebling und durfte werden, was er wollte. Er wurde Arzt, damit an seinem Wesen noch mehr Menschen genesen konnten. Und er heiratete Ewa von Löwis, das schönste Mädchen der Livländischen Vorstadt und dazu aus einer Familie, die noch ein bisschen adelsstolzer war als wir. Alles an uns war überhaupt das Beste: Unser Haus war das größte, unser Vater der Beliebteste, mein großer Bruder Georg der Klügste und mein kleiner Bruder Johann das süßeste Kind auf der Welt. Letzteres traf sogar zu. Bis du auf die Welt gekommen bist.«
Sie hielt inne und lauschte auf ein Echo, doch es kam keines. Die Namen auszusprechen, war viel leichter gewesen, als sie erwartet hatte, und auf einmal erschien es ihr richtig so.
»Erzähl weiter«, sagte Viktor. »Von dir. Davon, wie du eine Tänzerin geworden bist.«
Jenny erzählte weiter, und eine versunkene Welt erstand noch einmal auf. Aus dem Dunkel des Pensionszimmers tauchte die lange Straße mit den Birken am Rinnstein auf, die hölzernen Häuser mit den hohen, verzierten Giebeln und die Schaufenster der Geschäfte voller Delikatessen, Zierrat, feinster Wäsche und der neuesten Mode aus Paris. Riga war eine Hansestadt am Eingang des Finnischen Meerbusens, eine reiche Metropole, die Verbindungen in alle Welt unterhielt. Wer hier lebte, konnte sich glücklich schätzen und sich für sein Geld kaufen, was immer er begehrte.
»Weil eben alle bei uns etwas Besonderes waren, musste ich auch etwas Besonderes sein«, fuhr Jenny fort. »Meine Mutter hat überall und immer erzählt, dass ich als kleines Kind ständig tanzte, und dass sie, schon als ich zwei Jahre alt war, erkannt hatte, dass ich eine Tänzerin werden musste. Also gab sie mich zu Tanzlehrern. Zu einem nach dem andern. Sobald sie der Meinung war, der eine könne mir nichts mehr beibringen, engagierte sie einen neuen, noch besseren und noch teureren. Mein Vater ließ sie gewähren. Ich ließ sie auch gewähren. Vielleicht habe ich es auch gern getan und war glücklich dabei, nur erinnere ich mich nicht mehr daran. In meiner Erinnerung taten mir meistens die Füße weh, ich hatte Blasen und aufgeschürfte Knie, und wann immer ich konnte, flüchtete ich an den Fluss. Dort traf ich meinen Freund, der im anderen Viertel lebte und nicht zu uns gehörte, weil er kein Deutscher war. Zu mir gehörte er aber doch, fand ich, denn er war, was ich auch war: ein Tänzer.«
Auch der Fluss erstand vor ihren Augen, der die beiden voneinander getrennten Viertel verband. Das deutsche und das russische. Am Uferhang im langen Gras mit den wie Schneeflocken hingetupften Buschwindröschen lagen zwei Kinder und warfen Kiesel ins Wasser. Im Stehen hätten sie besser werfen können, doch ihre Füße waren schwer wie Blei, und nebeneinander in der Sonne zu liegen, fühlte sich an wie das Paradies.
»War er dein Freund, so wie Darius mein Freund war?«, fragte Viktor. »Dein ganzes Leben?«
»Meine ganze Kindheit«, sagte Jenny und sah nur die Bilder der hellen Stunden, gewann ihre Erinnerung zurück an all das Licht und die Hoffnung, ehe die Dunkelheit gekommen war. »Er war kaum älter als ich, aber ansonsten war es ein bisschen so wie bei dir und Darius: Wir waren zusammen, wann immer wir konnten.«
»Wie hat er geheißen?«
»Ich habe ihn Kirjuscha genannt«, sagte sie.
Sie erzählte noch ein wenig weiter von den Ballettmeistern, die sie beide schikaniert und über die sie sich aus Rache lustig gemacht hatten, über Madame Mireille, die Erbarmungslose, die mit dem Taktstock ausholte, wenn man sie bei ihrem richtigen Namen Miroslawa nannte. »Niemand hat es gewagt. Nur Kirjuscha und ich.«
Es war das erste Mal seit ihrem Aufbruch, dass sie beide lachten, Viktor und sie.
Kurz darauf beschlossen sie, zu schlafen und ein andermal weiterzureden. Nach zwei Tagen reisten sie mit der polnischen Bahn weiter nach Danzig, dann nach Königsberg und über die Grenze nach Litauen in die Stadt Kaunas. Als sie dort ankamen, war das Geld, das Jenny sich von Carlo geborgt hatte, so gut wie aufgebraucht, und sie war gezwungen, sich Arbeit zu suchen. Fürs Erste konnte sie in der Altstadt in einem Geschäft für Damenbekleidung aushelfen, weil sie noch immer gut aussah und selbst die hausbackenen Modelle, die der deutschstämmige Inhaber verkaufte, an ihr elegant wirkten. Viel bezahlte er ihr nicht, aber Viktor und sie durften in seiner Mädchenkammer schlafen und wurden mit dem, was seine Familie übrig ließ, verpflegt.
Eine Weile war es in Ordnung. Als aber der Sommer begann, glaubte Jenny, die Enge in der Stadt, in dem Geschäft und in ihrer Kammer nicht länger zu ertragen.
»Lass uns ans Meer fahren«, sagte sie zu Viktor. Zwei Tage später brachen sie auf und fuhren in die Hafenstadt Klaipėda am Kurischen Haff, die vor dem Krieg zum Deutschen Reich gehört und Memel geheißen hatte. Noch als sie das Haus des Kleiderhändlers verließen, hatte Jenny nicht gewusst, dass Klaipėda ihr Ziel sein würde, doch kaum standen sie auf dem Bahnhof und studierten den Fahrplan, wusste sie, dass sie bereit dafür war. Und mehr noch: Sie wusste, dass es von Anfang an Klaipėda gewesen war, auf das sie zugereist war, dass es sie in diese Stadt gezogen hatte, die erste, in der sie sich damals, in der schlimmsten Zeit ihres Lebens, ein wenig sicher gefühlt hatte.
Klaipėda war schön, fand sie. Das alte Postgebäude und die Börse ragten majestätisch über dem Fluss Dange auf, der hier, am Haff, in die Ostsee mündete, und in der Seitenstraße dahinter hatte sich Adomeits Raritätenkabinett versteckt, in dem in gewisser Weise ihr zweites Leben begonnen hatte. Die Luft war frischer und würziger als in Kaunas, und in dem Vorort Melnragė, der damals Mellneraggen geheißen hatte, wartete ein endloser schneeweißer Sandstrand darauf, dass Jenny und Viktor in der blassen baltischen Sonne Ball spielten, in die eisigen Wellen liefen und für ein paar Augenblicke vergaßen, dass sie nicht frei waren, nicht einfach Mutter und Sohn, die einen Sonnentag genossen.
Arbeit fand sie sofort. Für die Dauer des Sommers konnte sie in einer Pension als Zimmermädchen unterkommen und mit Viktor eines der Zimmer beziehen. Es hatte zwar keinen Meerblick und war nicht größer als die Kammer in Kaunas, aber in der Luft hing der wunderbare Duft von Weite.
In Klaipėda verstanden noch immer viele Menschen Deutsch, und zudem besann sich Jennys Gedächtnis auf das Litauische, von dem sie einst eine Menge aufgeschnappt hatte. Viktor ging zwar nicht mehr zur Schule, doch er lernte ununterbrochen, machte überall Orte ausfindig, an denen er sich Bücher ausleihen konnte, und eignete sich die litauische Sprache so rasch an wie zuvor die polnische. Vielleicht wäre es möglich, ihre Flucht hier zu unterbrechen und eine Weile zu bleiben, überlegte Jenny. So wie damals. Vielleicht ließe sich eine Schule finden, auf die Viktor eine Zeit lang gehen konnte.
Sie würde nicht mehr an Carlo schreiben, beschloss sie. Ihr Magen verkrampfte sich, ihr ganzer Körper wollte sich wehren und ihr zu verstehen geben, dass es Carlos Nachrichten waren, in denen sein Lächeln und seine Wärme lagen, die sie bei Verstand gehalten hatten. Aber sie hatte die ganze Zeit schon gewusst, dass es mit diesen Nachrichten ein Ende haben musste, und wenn sie tatsächlich vorhatte, fürs Erste hierzubleiben, war dieses Ende jetzt gekommen.
Sie musste es zumindest versuchen, die Tatsache ausnutzen, dass sie sich nicht mehr nur panisch und gehetzt fühlte, sondern ein wenig zur Ruhe kam.
»Dir geht es hier besser«, sagte Viktor. »Hat das einen Grund?«
Unterwegs hatte Jenny in kleinen Schritten, überall dort, wo sie in der Nacht ein Zimmer für sich hatten, und wann immer sie nicht zu müde waren, ihre Erzählung fortgesetzt. Sie hatte Viktor die großen Feste im Haus ihrer Eltern geschildert, die Besuche der sechs Onkel und sechs Tanten und all der Cousinen und Cousins. Auf seine Fragen hin hatte sie ihm erzählt, welchen der Onkel sie am liebsten gemocht hatte, welcher schlüpfrige Witze zum Besten gegeben hatte, und welche Tante dabei errötet war. Sie hatte ihm erzählt, wie erst Kirjuscha und dann sie selbst nach Sankt Petersburg geschafft worden waren, um an der Waganowa-Ballettakademie zu großen Tänzern gedrillt zu werden. Sie hatte nicht fortgewollt. Doch alles Weinen und Schreien hatte ihr nichts genützt.
»Wen hast du am meisten vermisst?«, hatte Viktor gefragt.
»Georg und Johann«, hatte Jenny gesagt. »Meine Brüder.« Dass sie sich verraten gefühlt hatte, weil die Brüder bleiben durften und ihr nicht beigestanden hatten, hatte sie für sich behalten. Stattdessen hatte sie ihm von dem Glück erzählt, Kirjuscha wiederzufinden, von ihrem Band, das in jenen Jahren, in denen sie nur einander gehabt hatten, noch enger geworden war.
Unzertrennlich.
Zumindest hatten sie das damals geglaubt.
Mit noch nicht ganz fünfzehn war sie als Primaballerina nach Hause zurückgekehrt, ans Deutsche Theater von Riga, und er im selben Jahr als Meistertänzer, der Primoballerino hätte heißen müssen, aber nicht so genannt wurde. Sie hatten getanzt und getanzt und getanzt, und wenn Jenny darüber nachgedacht hatte, hatte sie es ein wenig mit der Angst zu tun bekommen, weil sie beide gar nichts anderes konnten als tanzen. Wenn sie auf Gastspiele fuhren, wurden sie umsorgt wie kleine Kinder. In ihren Pausen vom Tanzen sprachen sie davon, dass sie heiraten, ein Haus kaufen und Kinder haben würden.
Nicht in Riga. Weil in Riga Deutsche und Russen einander nicht heirateten. Aber wo sonst?
»Theater, an denen wir tanzen können, gibt es überall«, hatte Kirjuscha gesagt, und Schenja hatte ausgerufen: »Aber wir wissen doch gar nicht, wie man außerhalb von Theatern lebt!«
Darüber hatte er gelacht. »Wir werden es schon lernen. Wir haben ja viel Zeit.«
Dann war der Krieg gekommen, aber an dem Punkt hatte Jenny aufgehört, ihrem Sohn ihre Geschichte zu erzählen. Sie würde es später tun. So wie bisher, in kleinen Schritten. Jetzt aber stand er vor ihr, so groß und schlaksig, dass schon gar nichts Kindliches mehr an ihm war, und wollte wissen, ob es einen Grund dafür gab, dass es ihr hier in Klaipėda besser ging als auf all den anderen Stationen ihrer Reise.
Jenny schluckte und schaute ihrem Sohn in die Augen. »Ja«, sagte sie. »Dafür gibt es den wichtigsten Grund in meinem ganzen Leben. Du bist hier zur Welt gekommen.«
An einem der folgenden Abende ging sie mit ihm durch das enge Gassengewirr hinter der Alten Post und der Börse, zeigte ihm, wo Adomeits Raritätenkabinett gewesen war und jetzt ein Trödler seine Ware anbot. Sie zeigte ihm die kleine Wirtschaft, über der sie gewohnt hatte, das Jūrininkai – Bei den Seeleuten –, und sie gingen hinein, um zu Abend zu essen. Etwas anderes als Cepelinai, mit Quark gefüllte Klöße aus Kartoffelteig, gab es nicht, aber damit waren sowohl Viktor als auch Jenny zufrieden. Viktor trank Kefir dazu und Jenny Quittenwein, der ihr zu süß war, dessen benebelnde Wirkung ihr aber willkommen war. In dieser Nacht erzählte sie Viktor von ihrer Flucht aus Riga.
»Ich saß auf einem Pferd, obwohl ich nicht reiten konnte. Mit meinen Brüdern bin ich geritten, mein Bruder Georg ist Kavallerist geworden, und Johann liebte sein lustiges Pony, aber ich sollte immer nur tanzen und habe das Reiten verlernt.«
»Warum bist du geritten?«
»Weil ich fortmusste. Mich in Sicherheit bringen, ehe du auf die Welt kamst. Es gab keine Züge, keine Wagen, und überall wurde noch gekämpft.«
Ihre Erinnerung lag unter Nebeln verborgen. Von der Angst und der Trauer wusste sie noch, doch sie spürte sie nicht mehr. Nur die Schuld. Und den Wunsch, fortzukommen, egal wohin. Irgendwann hatte sie die Kraft verlassen, und sie war gestürzt. Was genau mit ihrem Rücken dabei geschehen war, hatte sie nie erfahren. Ein Arzt hatte später zu ihr gesagt: »Dass Sie laufen können, ist ein medizinisches Wunder, aber tanzen werden Sie nach diesen Brüchen nie wieder.«
Um das zu wissen, hatte Jenny keinen Arzt gebraucht.
Als der Unfall geschehen war, hatte ihr Rücken sie nicht interessiert, auch wenn die Schmerzen sie um den letzten Rest Verstand brachten. Sie hatte nur eines interessiert: das Kind, das sich unaufhaltsam aus ihr herauskämpfte. Zu früh, hatte alles in ihr geschrien, es ist doch zu früh, und mein Körper ist zerbrochen, wie kann mein Kind denn überleben?
Aber es war gut gegangen. Nicht wie bei Nina. Ihr Kind hatte überlebt.
Die Frau, der sie das verdankte, die sie halb tot mit ihrem Säugling in den Armen gefunden und in die Stadt hineingeschleppt hatte, hieß Agnė Alomis. Eine alternde Artistin, eine Schlangenfrau, die sich in Adomeits Raritätenkabinett ein paar Pfennige verdiente, obwohl sie sich vor Schmerzen kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sie hatte Jenny und ihr Kind gesund gepflegt und sie durchgefüttert, bis Jenny – das medizinische Wunder – auf ihren eigenen Beinen wieder laufen konnte.
»Was hast du in deinem früheren Leben gemacht, schöne Schwarze?«, hatte sie Jenny gefragt.
»Getanzt«, hatte Jenny gesagt. »Aber ich glaube, ich habe mir den Rücken gebrochen.«
Agnė hatte sich ihren Rücken angesehen und entschieden: »Ich bringe dir bei, was ich mache. Beim Biegen stört’s vielleicht nicht, dass er gebrochen ist.«
Sie hatte ihr alles beigebracht, was sie konnte, und Jenny hatte ihren Rücken gebogen, weil sie irgendetwas eben tun musste, um für sich und ihr Kind zu sorgen. Ein einziges Mal waren sie in Adomeits Raritätenkabinett zusammen aufgetreten, und die Handvoll Zuschauer hatten den Atem angehalten. »Ist es nicht berauschend?«, hatte Agnė gefragt. Tags darauf hatte sie nicht mehr aus ihrem Bett aufstehen können, und Jenny hatte ihren Platz auf der Bühne eingenommen. Je gesünder sie sich fühlte, desto mehr wuchs ihre Angst, es drängte sie, weiterzuziehen. Sie blieb jedoch und sorgte für Viktor und Agnė fünf Monate lang, bis die alte Schlangenfrau starb. Dann nahm sie ihren Namen an, weil sie den, mit dem sie geboren war, nicht mehr tragen konnte, packte ihr Kind und ihre paar Habseligkeiten und machte sich wieder auf den Weg.
Zu ihrer Überraschung hatte Agnė in einer hölzernen Schmuckkassette einen ziemlichen Batzen Geld gehortet. Auf den Zettel, der dabeilag, hatte sie in ihrer spinnenhaften Handschrift geschrieben: »Für dein neues Leben«.
»Ich habe es nicht angerührt, bis wir nach Berlin kamen«, erzählte sie Viktor und fühlte eine gewaltige Welle von Müdigkeit über sich hinwegschwappen. »Gelebt haben wir von meinen Auftritten auf Jahrmärkten und beim Wanderzirkus. In Berlin aber hat es uns geholfen, uns eine richtige Wohnung zu nehmen und Darius einzustellen. Wenn man in Berlin Eugenie heißt, nennt alle Welt einen Jenny, und das gefiel mir deutlich besser. Viktor dagegen ist in Berlin so schön wie überall und konnte so bleiben. Und den Rest von unserer Geschichte kennst du – ich habe dir jetzt alles erzählt.«
»Bis auf den Teil, den du ausgelassen hast«, sagte Viktor.
Ja, dachte Jenny, bis auf den Teil, den ich ausgelassen habe.
Die Jahre, die zwischen unserer triumphalen Saison am Deutschen Theater und meiner Flucht aus meiner Heimatstadt lagen.
Die Jahre des Krieges.
Jenny war stolz darauf gewesen, dass sie die Kraft gefunden hatte, all die vergrabenen Jahre noch einmal in sich wachzurufen und ihm davon zu erzählen, dass sie kaum je gestockt und nichts ausgelassen hatte, aber jetzt verkrampften sich ihre Muskeln, und ihre Stimme wollte ihr den Dienst versagen.
»Kannst du darauf verzichten?«, fragte sie Viktor, der wie so oft neben ihr auf dem Rücken lag und hinauf zur Decke blickte.
»Das weißt du selbst, dass ich es nicht kann«, sagte er.
»Ich glaube nicht, dass ich die Kraft dazu aufbringe«, sagte Jenny. »Ich kann nicht einmal daran denken, geschweige denn mir vorstellen, dass du für den Rest deines Lebens daran denken musst.«
Die ganze Zeit über, in all diesen Nächten ihrer Flucht, hatte sie ihm die Wahrheit gesagt, doch in dieser einen verschwieg sie sie. Ich habe Angst, dass ich dich verliere, wenn ich es dir erzähle, lautete die Wahrheit. Ich habe aufgegeben, was ich hatte, kann ohne alles sein, sogar ohne Darius und Nina und auch ohne Carlo, aber nicht ohne dich.
»Ich werde für den Rest meines Lebens daran denken, wenn du es mir nicht erzählst«, sagte Viktor. »Darauf verzichten kann ich nicht. Aber wenn du willst, versuche ich, darauf zu warten.«