Carlo
D en ganzen goldenen, glühenden Hochsommer hatten die Parteien in Berlin versucht, mit dem Ergebnis der Wahl eine Regierung zu bilden. Die Nationalsozialisten lehnten die Beteiligung an einer Koalition mit den bürgerlichen Parteien ab und weigerten sich auch, einen Reichskanzler von Papen zu tolerieren. Es kam zu Tumulten, die auch vor der Uckermark und dem Landrat in Templin nicht haltmachten, und Carlo hatte so viel zu tun, dass er kaum wusste, wo ihm der Kopf stand.
Wenn er Neu-Mahlen verließ, um nach Jenny zu suchen, wäre unklar, wann er wieder nach Hause kam. Deshalb war es ihm wichtig, alles in der bestmöglichen Ordnung zu hinterlassen, sodass die Frauen ohne ihn zurechtkommen würden.
Das politische Dilemma konnte er nicht lösen, doch er hatte sich vorgenommen, zumindest so lange zu bleiben, bis sich absehen ließ, was als Nächstes geschehen würde, und die Lage sich ein wenig beruhigte. Leicht fiel ihm das Abwarten nicht, und umso schwerer fiel es ihm, als nach einer letzten Karte Anfang Juni von Jenny keine Nachricht mehr kam.
»Es geht der Schlangenfrau und dem Schlangenkind gut, und es wird ihnen auch weiterhin gut gehen, denn wenn Schlangen leicht totzukriegen wären, gäbe es keine mehr«, hatte auf jener letzten Karte gestanden. »Also lass das Sorgen, freu dich am Sommer und sieh zu, dass du dein nettes Mädchen heiratest, denn ein so netter Mann wie du muss sich einfach vermehren. Was soll aus diesem gottverdammten Land werden, wenn es nur die Nazis tun?«
Es hatte nach Abschied geklungen, aber er hatte es nicht wahrhaben wollen. Auch dass sie ihm diesmal keine Zeitung für seine Antwort genannt hatte, wollte er nicht als Warnzeichen deuten, sondern setzte seine Anzeige sowohl in die Vossische als auch ins Tageblatt. Während der Sommer verstrich, ohne dass er von ihr hörte, gab er wieder und wieder Anzeigen auf, wurde deutlicher, schrieb: »Melde dich!«, und »Ich werde dich nicht aufgeben«, aber nichts geschah. Beinahe konnte er hören, wie seine Worte ins Leere hallten, und mit jedem Tag wuchs seine Ungeduld.
Am 12 . September schließlich tagte der neue Reichstag zum ersten Mal. An seinem Auftrag, eine Regierung zu bilden, die die Zügel der verstörten Republik führen konnte, scheiterte er und wurde postwendend von Hindenburg aufgelöst. Damit gab es nur noch eine Lösung: Neuwahlen, die der Präsident für November ansetzte.
»Bis dahin bin ich zu Hause«, sagte Carlo zu Oma Hulda, erleichtert, dass er sich nun endlich berechtigt fühlte, seine Suche zu beginnen. Zwar musste er fürchten, dass die NSDAP bei der erneuten Wahl eine absolute Mehrheit erringen würde, aber zumindest im Landrat würde vorübergehend Ruhe einkehren, und dem Kampf gegen den Hitler-Wahn würde er sich stellen, wenn er Jenny wieder bei sich hatte.
»Wenn du es nicht bist, geht die Welt auch nicht unter«, erwiderte seine Oma. »Vergiss das nicht. Und komm nicht ohne deine beiden wieder.«
Carlo hatte den Umschlägen mit den verschmierten Poststempeln lediglich einen flüchtigen Blick gewidmet. Sie würden ihm im besten Fall helfen, die eine oder andere Station von Jennys Flucht zu rekonstruieren, doch in welche Richtung sie weitergereist war und wo sie seit Ende Juni steckte, würde er aus ihnen nicht ablesen können. Und selbst wenn er sie irgendwo in dem riesigen Ameisenhaufen Europas durch eine glückliche Fügung auftrieb, konnte er sie und Viktor ja nicht an den Armen nach Hause schleifen, sondern musste Jenny davon überzeugen, dass sie ohne Angst zurückkehren konnte. Er musste ihr glaubhaft versichern können, dass der Drache, den sie so sehr fürchtete, keine Gefahr mehr darstellte.
Alles zusammen ließ nur einen Schluss zu: Wenn er Jenny finden wollte, musste er den Mann finden, vor dem sie geflohen war.
Viktors Vater.
Und um für die Suche nach ihm zumindest den kleinsten Anhaltspunkt zu haben, musste er mit Anton reden, der ihn leibhaftig gesehen hatte. So oder so würde es guttun, sein Vorhaben mit Anton durchzusprechen. Möglicherweise fielen ihm noch Hinweise oder Andeutungen von Jenny ein, die Carlo weiterhelfen konnten. Und ganz nebenbei würde er vielleicht auch heraushören, wie die Dinge mit Nina standen und ob es etwas gab, das er für die beiden tun konnte.
Auch wenn Oma Hulda natürlich auch in diesem Fall recht hatte: Ebenso wie er und Jenny würden auch Anton und Nina ihre Angelegenheiten allein regeln müssen.
Er schrieb Anton einen Brief, in dem er ihn bat, sich für ein paar Tage bei ihm einquartieren zu dürfen, nannte den Zweck seines Besuchs und erhielt postwendend eine freundliche Antwort:
»Ich freue mich sehr darauf, Dich zu sehen, Carlo, und bin Dir gern so weit behilflich, wie ich irgend kann. Außerdem freue ich mich darauf, Dir meine Tochter Selma vorzustellen, und hoffe, Du hast nichts dagegen einzuwenden. Dein alter Anton, der noch immer nichts lieber wäre als Dein Schwager.«
In der letzten Septemberwoche reiste Carlo nach Berlin und kaufte an einem Kiosk auf dem Schlesischen Bahnhof eine Schlenkerpuppe für Selma. Kaum hatte er bezahlt, wurde ihm klar, dass das Mädchen mit seinen zehn Jahren viel zu groß dafür sein musste.
Sie freute sich trotzdem, und sie war reizend. Schüchtern, sichtlich froh, sich nach dem gemeinsamen Essen in ihr Zimmer flüchten zu dürfen, aber mit einem stillen, schiefen Lächeln, an dem unmöglich etwas Falsches, Einstudiertes sein konnte und bei dem ihr Carlos Herz zuflog.
Antons Lächeln.
»Ich wünschte, ich hätte ihr ein passenderes Geschenk mitgebracht«, sagte Carlo, nachdem Selma gegangen war und die beiden Männer bei einem Glas von Antons Cognac im Salon saßen.
»Dein Geschenk war goldrichtig«, sagte Anton. »Selma hat sich darüber gefreut, weil es das erste Mal ist, dass ihr außer mir und ihren beiden Betreuerinnen jemand etwas schenkt.«
»Ich wünschte, Nina wäre bereit, sie kennenzulernen«, sagte Carlo. »Vielleicht würde sie dann zu dem Schluss kommen, dass es so hart, wie sie glaubt, nicht ist, dass es für euch einen Weg gibt und ihr drei einander guttun könntet.«
»Du weißt nicht, wie oft und wie sehr ich mir das gewünscht habe«, sagte Anton. »Ich bin auch nicht gut darin, es zu verbergen, was für einen Schauspieler eine ziemliche Schande ist. Vor ein paar Wochen hat Selma eines Abends zu mir gesagt: ›Wenn ich nicht mehr da wäre, würde es dir besser gehen. Dann wäre deine Frau wieder bei dir.‹«
Carlo zuckte zusammen. Wie hart musste es für das Kind, das bereits seine Mutter verloren hatte, sein, zu dieser Erkenntnis zu gelangen.
»Natürlich gebe ich mir alle Mühe, ihr zu versichern, dass ich froh bin, sie bei mir zu haben, und dass ich sie nie wieder hergeben möchte. Aber gerade das ist es wohl, was Nina nicht ertragen kann: dass ich Selma liebe. Dass ein paar Wochen genügt haben, um sie lieben zu lassen, so wie allein der Gedanke genügt hat, um unseren Johnny zu lieben. In Ninas Augen liebe ich sie womöglich sogar mehr, weil Selma lebt und unser Johnny gestorben ist.«
»Es tut mir so weh um euch«, sagte Carlo. »Gibt es etwas, das ich für euch tun könnte?«
»Ich fürchte nicht«, sagte Anton bitter. »Nina lässt mich an sich und ihr Leben schon lange nicht mehr heran. Wenn wir uns begegnen, was selten geschieht, ist sie höflich wie mit einem nicht sonderlich wichtigen Geschäftsfreund. Von ihren Sorgen erzählt sie mir nichts. Ich weiß, wie verzweifelt sie um ihre Existenz kämpft. Aschinger macht ihr unaufhörlich Druck, verlangt Woche für Woche neue Attraktionen von ihr, die den Saal füllen, und Nina weiß einfach nicht mehr, woher sie sie noch nehmen soll. Vor Kurzem hat er ihr die Pistole auf die Brust gesetzt: Wenn sie ihm für das Herbstprogramm keine große Sensation liefert, mit der der Wintergarten der Scala den Rang abläuft, löst er ihren Vertrag auf. Und den für die Wunderweiber gleich mit.«
»Was für ein Dreckskerl«, entfuhr es Carlo. »Sie hätte sich auf diesen Vertrag mit ihm nie einlassen dürfen.« Er war entsetzt. Dass Nina sich mit Sorgen quälte, war ihm nicht entgangen, doch in welcher Bedrängnis sie sich tatsächlich befand, hatte er nicht gewusst. Eine von Oma Huldas Weisheiten fiel ihm ein: Wer mit dem Teufel Einkriegen spielt, darf sich nicht über Brandblasen wundern.
»Ich bin sicher, unter normalen Umständen hätte sie sich auch nicht darauf eingelassen«, sagte Anton. »Er hatte ihr den Posten ja schon einmal angeboten, und sie hat sich dagegen entschieden. Dann aber starb unser Kind, wenig später begann die Wirtschaftskrise, und die Luft für Varieté-Künstler wurde dünner und dünner. In Ninas Augen ist der Wintergarten alles, was ihr bleibt. Deshalb kämpft sie mit Klauen und Zähnen um ihn und glaubt, sie müsse sich mit einem Mann wie Aschinger gemein machen.«
»Aber der Mann ist ein Nazi!«, rief Carlo.
»Streng genommen ist er nicht einmal einer«, erwiderte Anton. »Nina hat ihn zu irgendeinem Anlass gefragt, ob er in die Partei eingetreten ist, und er hat ihr zur Antwort gegeben: Solange nicht feststeht, dass es sich finanziell lohnt, wird man mich im Mitgliedsregister einer Partei nicht finden.«
»Ich glaube, ich finde das noch ein bisschen widerlicher als die Nazis bei mir zu Hause«, sagte Carlo. »Die glauben wenigstens daran, das Gute und Richtige zu tun, auch wenn ich mich frage, wie viele Bretter man eigentlich vor dem Kopf haben muss, um das zu glauben. Gut ist aber, dass Nina mit dir über all das, was sie belastet, spricht. Es zeigt doch, dass sie dir auch jetzt noch vertraut und dass es einen Weg für euch gibt.«
»Sie spricht nicht mit mir darüber.« Anton stand auf und ging zum Fenster, sah hinaus in den nächtlichen Hof, in dem der Wind mit den Deckeln der Mülltonnen klapperte. »Ich spreche mit Friedhelm, und der bekommt einiges mit, weil Nina so oft bei Sonia ist. Friedhelm scheint überhaupt das meiste mitzubekommen. Bei deiner Suche nach Jenny wird er auch helfen können, und das ist ja der eigentliche Grund deines Besuchs. Das Problem ist nur …«
Er drehte sich wieder zu Carlo um, sprach jedoch nicht weiter.
»Was ist das Problem?«
»Nina traut Friedhelm nicht über den Weg«, brachte Anton zögerlich heraus. »Sie mag ihn. Man muss ihn ja mögen, alles, was er sagt und tut und an sich hat, ist liebenswert. Aber sie kommt nicht darüber hinweg, dass er aus dem Nichts in ihrem Leben aufgetaucht und dabei gewesen ist, als das Kind starb. Sie spricht nicht darüber, weil die Anschuldigung ja viel zu ungeheuerlich ist, um sie ohne Beweise vorzubringen. Aber man merkt es ihr an. Und Jenny ging es genauso.«
»Um Gottes willen.«
Anton nickte. »Ich weiß nicht, ob etwas dran ist. Aber wir sollten vorsichtig sein. Zumal du nicht umhinkommen wirst, mit Friedhelm zu sprechen.«
»Warum nicht?«, fragte Carlo.
»Weil er den Mann, nach dem du suchst, gesehen hat. Den Mann, den wir für Viktors Vater halten.«
»Woher weiß er denn von dem Mann?«, fuhr Carlo auf. »Hat Nina es ihm erzählt? Oder Sonia?«
Anton hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Mir hat er gesagt, er hat den Mann vor dem Theater herumlungern sehen und ihn angesprochen, weil er sich Sorgen um Sonia machte. Friedhelm macht sich ununterbrochen Sorgen um Sonia. Wenn er mit ihr eine Straße entlanggeht, könnte man meinen, er führe eine Blinde.«
Etwas an diesen Worten ließ Carlo aufmerken, doch die Irritation verflog gleich wieder, und er konzentrierte sich von Neuem auf das, was ihn drängte: »Friedhelm hat also Viktors Vater angesprochen, weil er glaubte, es ginge ihm um Sonia«, konstatierte er. »Und der Mann hat ihm gesagt, er sei in Wahrheit wegen Jenny dort?«
Anton nickte. »Wie es Friedhelm gelungen ist, sein Vertrauen zu gewinnen, darfst du mich nicht fragen. Friedhelm gewinnt jedermanns Vertrauen. Der Mann hat ihm gesagt, er wird sich nicht vertreiben lassen, sondern warten, bis sie zurückkommt oder er herausfindet, wo sie ist. Schenja. Nicht Jenny. Friedhelm sagt, das ist die russische Koseform für Eugenie.«
»Der Mann ist Russe?«
Wieder nickte Anton. »Wir können wohl davon ausgehen, dass er aus der russischen Bevölkerung von Riga stammt. Sprich mit Friedhelm, er kann dir vermutlich noch mehr sagen, nur sei dabei auf der Hut. Du weißt nicht, wie froh ich wäre, wenn Jenny zurückkommt. Um deinetwillen und auch, weil ich sie und ihre galgenhumorige Unverwüstlichkeit selbst vermisse. Aber vor allem, damit Nina nicht länger mit dieser Riesenlast allein ist.«
Noch einmal wandte er sich zum Fenster und fragte hinaus in die Dunkelheit: »Was haben wir eigentlich falsch gemacht, dass uns alles, auf das wir so stolz waren, in so kurzer Zeit zerbrochen ist? Kannst du mir das sagen?«
Carlo überlegte. »Vielleicht nicht allzu viel«, sagte er langsam. »Wir waren gezwungen, auf einer Welle zu reiten, die einen Kontinent überrollt hat, und jemanden, der uns hätte sagen können, wie man das macht, gab es nicht. Nein, Anton. Allzu schlecht haben wir uns nicht geschlagen, und aufgeben dürfen wir nicht. Gerade deshalb habe ich mich entschieden, Jenny zu suchen und um sie zu kämpfen. Weil wir einander brauchen werden, wenn wir das, was wir aufgebaut haben, verteidigen wollen. Unsere Wärme. Unsere Liebe. Unsere Fröhlichkeit gegen den Hass.«
Anton kam zum Tisch zurück. Um seine Lippen spielte ein wenig scheu das Lächeln, das seine Tochter von ihm geerbt hatte. »Weißt du, dass du ein ziemlich grandioser Kerl bist?«, fragte er. »Ich bewundere dich, und ich verspreche dir in die Hand, dass ich dich unterstützen werde, wo immer ich kann.«
»Ich dich auch«, erwiderte Carlo. »Oma Hulda hat gesagt, Jenny verdient einen Mann. Und den will ich ihr jetzt endlich bieten. Nina verdient auch einen, Anton.«
Hilflos lachte sein Schwager auf. »Ich fürchte, das ist der Kern des Problems – dass wir keine Ahnung mehr haben, wie man das richtig macht: ein Mann zu sein.«
»Vielleicht indem wir aufhören, uns vor Angst, wir könnten es falsch machen, in die Hose zu pinkeln«, sagte Carlo und stieß mit ihm an. »Indem wir uns nicht verkriechen, sondern da sind, wenn unsere starken Frauen uns brauchen.«