I n dessen mit einem bemerkenswerten Sammelsurium knallbunter Ziergegenstände vollgestellten Wohnung am Innsbrucker Platz sprach Carlo mit Friedhelm Lehwald. Wie es seine Art war, reagierte der Mann, zu dessen Füßen wie ein Hund die Ente Pandora schlief, vollkommen offen und scheinbar ohne Arg:
»Oh ja, ich habe mit Herrn Lermantow gesprochen«, sagte er. »Ich habe sogar recht oft mit ihm gesprochen und werde es wieder tun, wenn wir uns noch einmal über den Weg laufen sollten.«
»Er hat Ihnen seinen Namen verraten?«, fragte Carlo perplex.
»Warum denn nicht?«, fragte Lehwald zurück. »Er hat ja nichts zu verbergen.«
»Er hat Jenny bedroht«, wandte Carlo ein.
»Das mag für die arme Jenny durchaus den Anschein haben«, sagte Lehwald. »Aber aus seiner Sicht ist er nichts anderes als ein Vater, der sich nach seinem Kind sehnt. Er ist in ihrer Wohnung niedergeschlagen worden, aber er hat nicht daran gedacht, sie anzuzeigen. Er will seinen Jungen. Sie will ihn nicht hergeben. Zu verstehen sind sie beide, finden Sie nicht auch?«
Zu seiner Verblüffung musste Carlo ihm recht geben. »Jenny hat Viktor aufgezogen«, sagte er dann. »Die beiden sind so eng verbunden, wie ich es bei einer Mutter und ihrem Kind kaum je erlebt habe, auch wenn es von außen nicht den Anschein haben mag. Es wäre grausam, sie auseinanderzureißen, aber die Richter in unserer Welt sind nun einmal Männer und sprechen den Vätern Recht zu, nicht den Müttern.«
»Ich weiß über die Geschichte der drei viel zu wenig, um mir ein Urteil zu erlauben«, sagte Friedhelm Lehwald. »Ich habe lediglich Mitleid mit dem Vater ebenso wie mit der Mutter und natürlich dem Jungen. Es ist furchtbar für alle Beteiligten, wenn das Schicksal Familien in Stücke schlägt.«
»Ich frage mich, wie Sie es geschafft haben, dass er sich Ihnen derart öffnet«, sagte Carlo.
»Oh, das war nicht weiter schwierig«, erwiderte Lehwald. »Stellen Sie sich vor, Sie wären vollkommen allein in einer fremden Stadt, in der niemand am Abend auf Sie wartet und kein Mensch mit Ihnen spricht. Herr Lermantow hätte nicht einmal die Mittel, Jenny und Viktor nachzureisen, wenn er wüsste, wohin er sich wenden müsste. Er ist ganz auf sich gestellt und hat nichts als die Hoffnung, dass irgendetwas Jenny zurückbringt. Wären Sie in solch einer Lage nicht auch froh, wenn jemand Sie einfach fragt, wie es Ihnen geht und ob er Ihnen behilflich sein kann?«
Carlo hatte Anton versprochen, auf der Hut zu sein, doch es fiel ihm schwerer als erwartet. Friedhelm Lehwald schien mehr Wärme auszustrahlen als ein Kachelofen. Er erzählte ihm noch, dass er Lermantow verschiedentlich vor dem Wintergarten und in der Nähe von Jennys Wohnung getroffen hatte und dass dieser irgendwo in Kreuzberg einen Abstellraum ohne Fenster bewohnte. Dann fuhren sie zusammen mit Sonia mit der Straßenbahn in die Friedrichstraße. Sonia und Friedhelm mussten zu ihrem Auftritt, und Carlo hatte sich mit Darius im Salamander verabredet.
Unterwegs beobachtete er, was Anton beschrieben hatte: Friedhelm führte und schützte seine Sonia wie eine Blinde. Die ganze Fahrt über hielt er sie am Arm, und sobald er die überall präsenten Mitglieder der SA entdeckte, schirmte er sie ab und geleitete sie um die Männer herum.
»Melden Sie sich jederzeit, wenn ich noch etwas tun kann«, sagte er, als sie sich verabschiedeten. »Sonia und ich sind froh, wenn wir helfen können.«
»Jenny fehlt uns«, sagte Sonia leise. »Wir sind ein Körper ohne Herz, seit sie nicht mehr da ist.«
Anton hatte Carlo anvertraut, dass Darius kaum Auftritte bekam und das Geld bei ihm immer knapper wurde. Deshalb hatte er ihn zu Bier und Bockwurst einladen wollen, doch der stolze Grieche lehnte ab und bezahlte das Glas Wasser, das er trank, und die Milch für den alten Ypsilantis selbst.
»Selbst wenn ich mir aus irgendetwas, das in dieser Kneipe angeboten wird, etwas machen würde, könnte ich dein Angebot nicht annehmen«, sagte er. »Ich kann dir schließlich nichts dafür geben. Was ich von Eugenie von Siver weiß, hat sie mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, und unter diesem Siegel wird es bleiben. So wie ich ihr vertraue, dass das, was sie von mir weiß, bei ihr unter sicherem Siegel bleibt.«
»Ich hatte nicht vor, dich auszuhorchen«, verteidigte sich Carlo. »Ich hatte nur gehofft, dass du eine Ahnung hast, wo ich sie finden kann.«
»Und wenn sie nicht gefunden werden will?«, fragte Darius.
»Jenny Gott-weiß-wie-Alomis?« Das war der Wirt Alfred, der an ihren Tisch trat und Carlo ein Bier auf die Platte knallte. »Oh doch, die will jefunden werden, da verwette ick meenen Hut druff. Die is’ kein Tier, das Einsamkeit aushalten kann, aber wer aus diesem janzen Zoo is’ dat schon? Wenn mich eener fragt, dann kricht die mit all ihrem Todesmut die Angst nich’ aus sich raus – es sei denn, sie traut sich noch mal da hin, wo se sich diese Angst einjefangen hat.«
Darius und Carlo starrten Alfred an. Den Namen des Ortes, von dem er redete, brauchte keiner von ihnen auszusprechen.
Mit einem nicht sonderlich sauberen Lappen wischte Alfred eine Pfütze von der Tischplatte. »Bloß da alleine hinzujehen, wo’t sie doch vor Angst schüttelt – dat schafft nich’ mal die Schlangenfrau«, sagte er.
»Das braucht sie auch nicht«, sagte Carlo. »Ich gehe mit ihr. Nur muss ich sie erst einmal finden. Die leiseste Ahnung, wohin sie gegangen sein könnte, würde mir helfen, Alfred.«
»Ick würd’s da versuchen, wo se sich zuletzt zu Hause jefühlt hat«, antwortete der Wirt, der sich sichtlich mehr Gedanken über seine Gäste machte, als Carlo jemals vermutet hätte. »Wenichstens so zu Hause, dat se sich dieset Unjetüm von Namen von da mitjebracht hat. Alomis. Alomis. So heißt doch keen Mensch. Jedenfalls nich’ bei uns.«
»Wo denn dann?«, platzte Carlo heraus.
»Hängt hinter dem Tresen an der Wand«, sagte Darius, und Alfred wies vielsagend in die genannte Richtung.
Der winzige Zeitungsausschnitt, den außer ihnen gewiss noch nie jemand beachtet hatte, zeigte die verschwommene Fotografie einer Frau namens Agnė Alomis und berichtete in wenigen Zeilen über das Vergnügungsviertel in einem litauischen Seebad. Wo Alfred den uralten Artikel aufgetrieben und warum genau er ihn dort aufgehängt hatte, würden sie nie erfahren. Vermutlich, weil er sich mehr Gedanken um seine Gäste machte, als irgendwer vermutete. Und weil seine Kneipe eine von jenen Einrichtungen war, die den wie Treibgut in die Stadt gespülten Fremdlingen die Familie ersetzten.
Carlo war sich nun sicher, zu wissen, wo er nach Jenny zu suchen hatte. Er war sich aber auch sicher, dass sie ihr Problem an diesem Ort nicht lösen konnten und dass es nicht zwischen ihm und Jenny allein lösbar war, sondern dass es einen dritten Beteiligten dazu brauchte. Wenn Jenny ihre Angst überwinden und mit ihm hierher, wo sie zu Hause war, zurückkehren sollte, musste sie sicher sein können, dass die Quelle dieser Angst versiegt war und nicht wieder ausbrechen würde.
Sie musste wissen, dass niemand ihr ihr Kind nahm.
Deshalb gab es noch ein Gespräch, das Carlo zu führen hatte, ehe er die ersehnte Reise endlich antreten konnte.
Er brauchte drei Tage, in denen er sich an allen Orten, die er mit Jenny verband, herumtrieb und sich mit nie gekannter Wucht nach ihr sehnte, ehe der Mann ihm über den Weg lief.
Ihm hatte davor gegraut, er hatte vergeblich versucht, sich den Mann vorzustellen, und hatte sich gefragt, was er wohl denken würde, wenn er ihn – das Phantom so vieler Jahre – endlich leibhaftig sah.
Mit dem, was er tatsächlich dachte, hatte er nicht gerechnet. Vor ihm, in der feuchten Dunkelheit des Herbstabends, stand ein überschlanker, blonder Mann im abgewetzten Mantel, und er dachte: Wir haben etwas gemeinsam. Wir lieben dieselbe Frau.
Als Nächstes dachte er beinahe zärtlich: Er sieht Viktor ähnlich. Auf diese einzigartige, schwer zu beschreibende Art, auf die auch Anton und Selma sich ähnlich sahen.
»Guten Abend«, sagte er und erinnerte sich an das, was Friedhelm Lehwald ihm über die Einsamkeit des Mannes erklärt hatte. »Ich bin Carlo von Veltheim, ein Freund von Jenny Alomis, die Sie wohl unter anderem Namen kennen. Können wir irgendwo, wo es trocken ist, reden? Ich möchte Sie nämlich bitten, mir zu helfen, Jenny und Viktor nach Hause zu holen.«
Der Mann starrte ihn an. Seine Augen hatten die gleiche Form und Farbe wie die von Viktor, aber die wachen, glänzenden Augen des Jungen waren dennoch völlig anders als die erloschenen des Mannes. »Viktor«, murmelte er, »Viktor. Nicht einmal, wie sie meinen Sohn genannt hat, hat sie mir gesagt.«
»Sie hat Angst«, sagte Carlo.
»Das kann ich mir denken«, stieß der Mann heraus.
»Angst, dass Sie ihr ihren Jungen wegnehmen.«
»Und genau das werde ich tun«, rief der Mann. »Irgendwann muss sie zurückkommen. Wenn ihr das Geld ausgeht, wenn niemand ihre wahnwitzigen Verrenkungen mehr sehen will, wenn sie das Alleinsein ohne ewige Ablenkung nicht mehr erträgt, oder wann auch immer. Sie muss einfach kommen. Ich will mein Kind zurück, das sie mir gestohlen hat.«
»Denken Sie dabei auch an Viktor?«, fragte Carlo behutsam.
»Er ist alles, an das ich denken kann«, antwortete der Mann. »Manchmal wünsche ich mir, ich könnte genug Geld stehlen, um loszufahren und sie überall in der gottverdammten Welt zu suchen. Aber wenn ich eine Straftat begehe, verspiele ich mein Recht, meinen Sohn zu mir zu holen. Und ohnehin weiß ich ja nicht, wohin die gottverfluchte Schlange sich verkrochen hat.«
»Ich weiß, wo sie ist«, hörte Carlo sich sagen. »Und ich weiß auch, wo wir alle hinmüssen, um diesen Knoten, den die Weltgeschichte in unsere Leben geschlungen hat, aufzulösen. Ich gebe Ihnen das Geld, das Sie brauchen, um mich zu begleiten, Herr Lermantow. Ich habe nur zwei Bedingungen.«
»Was für Bedingungen?«, brach es aus dem anderen heraus. »Woher kennen Sie meinen Namen, und warum sollten Sie mir Geld geben?«
»Weil ich Sie brauche. Ihren Namen hat mir ein gemeinsamer Freund genannt.«
»Ich habe keine Freunde.«
»Vielleicht doch.«
Es war auf seltsame Weise erregend, ihn sprechen zu hören. Er rollte das R viel stärker und betonte eine Reihe von Wörtern falsch, doch ansonsten glich seine Sprachmelodie der von Jenny wie ein Lied aus einem vergessenen Buch einem anderen.
Der Regen wurde stärker. Der uralte Hut, den Lermantow auf seinem dichten, hellen Haar trug, war längst völlig durchnässt. Noch immer sah er Carlo unverwandt an. »Sie lieben sie«, stellte er fest. »Sie sind einer von denen, die sie zu dicht an sich herangelassen haben und denen sie ins Blut gekrochen ist, aus dem man sie nicht mehr entfernen kann.«
Seine Ausdrucksweise, fand Carlo, war ein wenig übertrieben, und in Blut konnte man streng genommen weder kriechen noch etwas daraus entfernen. Aber er glaubte zu wissen, was der andere meinte, und lächelte. »Nein, wer sich in Jenny verfängt, der kommt nicht wieder frei«, sagte er. »Aber ich bin froh darüber. Ich habe nie so intensiv gelebt wie in den Jahren, die ich mit ihr verbracht habe. Ich habe eigentlich in diesen Jahren erst leben gelernt. Und ich bin nie so glücklich gewesen.«
»Habe ich Sie danach gefragt?«
»Nein«, sagte Carlo. »Aber ich frage Sie.«
Der Mann wartete. Kämpfte mit sich. Sein Kehlkopf ruckte mehrmals, und seine Augen wurden glasig. »Ich auch«, sagte er heiser. »Nachdem sie mich weggeworfen hatte, war alles leer, und ich habe nie wieder etwas zustande gebracht. Ich habe mit den Roten lettischen Schützen gekämpft, ich habe mir eingeredet, ich glaube an den Bolschewismus, und als wir den Krieg um Lettland verloren hatten, bin ich nach Russland gegangen, weil ich dachte, ich gehöre dorthin. Ich müsse irgendwohin gehören, habe ich gedacht, aber in Russland und bei den Bolschewiken war ich so falsch wie überall. Letzten Endes habe ich außer Landes fliehen müssen, weil ich als Konterrevolutionär gesucht wurde. Ein Tänzer war ich, aber auch bei den Tänzern blieb ich fremd und werde nie wieder tanzen. Ich habe immer nur zu Schenja gehört. Sonst nirgendwohin.«
Er zitterte zum Gotterbarmen.
»Erlauben Sie mir, Sie zu einer Mahlzeit und einem warmen Getränk einzuladen«, sagte Carlo. »Irgendwo hier in einem Lokal, in dem niemand uns kennt. Ich könnte selbst etwas im Magen gebrauchen, und während wir essen, können wir unsere Pläne für die Reise besprechen.«
»Sie meinen das ernst?«
»Und ob«, sagte Carlo und nahm ihn am Arm. »Kommen Sie.«
Er führte den Mann die Straße hinunter auf eine Wirtschaft zu, aus deren Fenster Licht fiel.
»Sie haben mir noch nicht Ihre Bedingungen genannt«, sagte Viktors Vater im Gehen. »Was ist, wenn ich sie nicht akzeptieren kann?«
»Sie werden schon können«, erwiderte Carlo. »Es gibt für uns alle keinen anderen Weg.«
»Also los«, brummte der andere. »Nennen Sie sie.«
»Die erste Bedingung lautet: Sie beide werden einander anhören«, sagte Carlo. »Ich werde dabei sein, und wir werden keine Entscheidung treffen, ehe Ihrer beider Geschichte nicht zu Ende erzählt ist.«
»Und die zweite?«, fragte der Mann, während Carlo stehen blieb, um die Tür des Lokals aufzuziehen.
»Die Entscheidung wird auch nicht getroffen, ehe wir da sind, wo sie hingehört«, sagte Carlo.
»Und wo soll das sein?«
»Das wissen Sie so gut wie ich. Da, wo alles angefangen hat. In Riga.«