Anton
A nton sprang auf.
Er hätte sich quer durch den Saal voller Menschen, die den Atem anhielten, drängen wollen und den Scharlatan von der Bühne zerren. »Ich weiß, wer dich schickt, wer dich bezahlt, wer mit dir gemeinsame Sache macht«, hätte er so laut auf ihn einbrüllen wollen, dass niemand es überhören konnte. Aber das durfte er nicht. Er musste schweigend stehen bleiben und abwarten, was Nina tat.
Friedhelm Lehwald war an seiner Seite ebenfalls aufgestanden. Der viel Kleinere blickte zu ihm auf, und Anton konnte sich nicht erinnern, je so dankbar für einen Mann an seiner Seite gewesen zu sein.
Nicht mehr seit Passchendaele.
Nicht mehr, seit er seinen Freund Reinhold verloren hatte. Betrauern hatte er ihn nie gedurft, weil die Trauer Rudi gehört hatte und Anton die Schuld. Aber er hatte keine Schuld. Er hatte den Krieg nicht gewollt, und er hatte nichts getan, um halbe Kinder wie Reinhold in den Krieg zu locken. Schuld waren Männer wie der auf der Bühne, die neuen Kriegen das Wort redeten oder sich als Werkzeug missbrauchen ließen.
Nicht seine Nina, dessen war er sicher, auch wenn sein Körper vor Anspannung zitterte.
Er hatte an diesem Abend nicht ausgehen, sondern mit Selma, die gerade erst eine Erkältung auskuriert hatte, zu Hause bleiben und Radio hören wollen. Selma liebte Hörspiele, und er entdeckte ebenfalls seine Leidenschaft dafür und würde demnächst einigen seine Stimme leihen. Dann aber hatte es auf einmal an seiner Tür Sturm geläutet, und auf der Matte hatte Friedhelm Lehwald gestanden.
»Sie müssen mit mir in den Wintergarten kommen, Anton, ich flehe Sie an. Ihre Frau braucht Sie. Nina. Ich bin sicher, sie ist einem Komplott aufgesessen.«
In Antons Kopf hatten verschiedene Stimmen durcheinandergerufen. Da waren die Stimmen von Nina und Jenny, die warnten, es sei besser, Friedhelm nicht über den Weg zu trauen. Zugleich aber war da ein Echo von Carlos Stimme, die zu ihm sagte: »Männer sind wir, indem wir aufhören, uns vor Angst, wir könnten es falsch machen, in die Hose zu pinkeln. Indem wir uns nicht verkriechen, sondern da sind, wenn unsere starken Frauen uns brauchen.«
Während der Widerstreit der Stimmen sich fortsetzte, erklärte Friedhelm ihm atemlos, was geschehen war. Obwohl im Grunde gar nichts geschehen war und es nichts zu erklären gab. Und zugleich alles. Anton brauchte nicht lange, um zu begreifen.
»Ich habe wieder diesen Mann im Theater herumschleichen sehen, und immer wenn dieser Mann dort herumschleicht, geschieht etwas Schreckliches.«
»Was für einen Mann?«
»Ich mag an jedem Menschen das, was er von einem Tier an sich hat«, sagte Friedhelm. »Weil es mir so viel leichter fällt, Tieren zu vertrauen. Der eine hat die haarigen Ohren einer Katze, die andere die Mähne eines schönen Pferdes, aber dieser Mann hat von keinem Tier etwas an sich, sondern sieht einzig aus wie ein Mensch. Ich meine den Mann, der die großen Revuen im Admiralspalast macht, für die sie jetzt sogar Sitzplätze anbauen mussten.«
»Rudolf Kante?«, entfuhr es Anton.
Friedhelm nickte. »Er ist im Theater gewesen, und er hat vor der Tür auf Nina gewartet. Und dann hieß es auf einmal, der große Hanussen kommt und tritt bei uns auf, obwohl der große Hanussen irgendwann einmal gesagt hat, dass er nur bei Jules Marx in der Scala auftritt. Marx ist Jude, und Erik Jan Hanussen mit seinem hübschen schwedischen Namen ist auch Jude …«
»Hanussen ist Jude?«
Friedhelm nickte. »Geboren ist er nicht als Erik Jan, sondern als Herschel Chajm, aber auf einmal will niemand mehr als Jude erkannt werden, und der Herr Hanussen hat sich andere Freunde gesucht. Das geht mich nichts an. Er soll tun, was er nicht lassen kann, solange er nicht meinen Freunden damit schadet. Aber ebendas tut er. Als ich den Herrn Kante im Theater gesehen und kurz darauf das von Hanussen gehört habe, wusste ich, dass Kante dahintersteckt und dass sein Plan sich wiederum gegen Nina richtet. Es war wie damals.«
»Damals?«
»Damals habe ich ihn auch im und um das Theater herumstreichen sehen. Ich kannte Sie alle noch kaum, aber ich war Ihnen so dankbar, weil Sie mich aufgenommen hatten. Ich habe versucht, in den Bühnenraum zu meiner Verabredung mit Nina zu kommen, aber es gab keinen Zugang, und überall sah ich den Herrn Kante. Und dann ist Nina vom Gerüst gestürzt. Und ihr armes kleines Kind ist gestorben.«
»An dem Tag, als Nina vom Gerüst gestürzt ist, haben Sie Kante im Theater gesehen?«
Friedhelm nickte. »Ich versuche, auf alles ein Auge zu haben. Ich will nicht, dass Sonia und unseren Freunden ein Leid geschieht.«
Es ergab alles ein Bild. In Sekundenschnelle, wie beim Fotografen, der eine Aufnahme aus dem Entwickler nahm. Rudi war im Theater gewesen. Rudi war auch bei ihm gewesen und hatte gedroht, er würde Anton sein Kind nicht lassen, weil sein eigenes Kind mit Liesa gestorben war. Der Idiot Anton Wendland aber hatte nicht eins und eins zusammengezählt, sondern hatte sich im Leben nicht vorstellen können, dass sein einstiger Freund zu einer solchen Tat in der Lage war.
Als gäbe es nicht längst Beweise genug, dass dieser Freund an seinem Schmerz wahnsinnig geworden war.
Lieber hatte er sich dem Verdacht der Frauen angeschlossen und das Verbrechen diesem Enten zähmenden Helden zugetraut, der in seinem Leben so viele Verluste erlitten haben musste, dass er seine neu gewonnenen Menschen hütete wie einen Schatz.
»Es tut mir leid, Friedhelm«, hatte Anton gesagt.
»Was tut Ihnen leid?«
»Lass uns Du sagen«, erwiderte Anton. »Dafür ist es höchste Zeit. Mir tut leid, dass ich dir gegenüber argwöhnisch war, dir nicht völlig vertraut habe. Es kam mir und den anderen eigenartig vor, dass du so plötzlich auftauchtest und um jeden Preis zu den Wunderweibern wolltest, obwohl es besser geeignete Engagements für dich gegeben hätte.«
»Ach, das«, sagte Friedhelm freundlich und kein bisschen gekränkt. »Das war wegen Sonia. Ich habe sie über die Bühne schweben und dabei zeichnen sehen, ich habe gesehen, wie sie immer ganz nah an alles, was sie zeichnet, herangeht, und ich habe gedacht: Um sie muss ich werben. Sie ist die eine, die ich brauche, und dem Anschein nach könnte es sein, dass sie auch mich braucht.«
Sie hatte ihn gebraucht, und sie brauchte ihn noch immer. Die beiden hatten sich gesucht und gefunden, und Anton hatte Friedhelm umarmt und ihm alles Glück der Welt gewünscht. Dann hatten sie Selma gebeten, ihr Hörspiel mit Frau Brenneisen und Frau Rottenheimer zu Ende zu hören, und waren losgerannt, denn Nina brauchte ihn.
Unterwegs hatte Anton noch einmal das Ungeheuerliche überschlagen, das er gerade erfahren hatte. Rudi Kante hatte Nina vom Gerüst gestoßen! Er hatte ihm seinen kleinen Sohn geraubt, und er hatte in Kauf genommen, ihm auch Nina zu rauben. Einen Beweis dafür würde es nicht geben, und Rudi zu beschuldigen, würde zu nichts führen. Nicht einmal Rache führte zu etwas. Ihr Kind blieb tot, die Möglichkeit, sich noch einmal auf eines zu freuen, blieb verloren. Anton wollte keinen Funken Kraft auf den Hass auf Rudi Kante verschwenden, sondern alle Kraft auf seine Liebe zu Nina.
Vor allem wollte er verhindern, dass Nina durch Kante noch mehr Leid geschah.
Vor dem Wintergarten standen die Leute Schlange, die auf zurückgegebene Karten hofften wie damals, als die Wunderweiber brandneu gewesen waren und jeder sie hatte sehen wollen. Fridolin Pätznick schleuste Friedhelm und Anton an dem Ansturm vorbei und übergab sie an Hiero, der ihnen kurzerhand zwei Hocker in den Gang neben der letzten Parkettreihe stellte. Nur brennen durfte es nicht, aber warum hätte es ausgerechnet heute Abend brennen sollen?
Wenig später brannte es tatsächlich — gewissermaßen. Der von Kante und seinen Nazi-Freunden gekaufte Hanussen setzte den Saal in Brand:
»Reichskanzler – wird Adolf Hitler.«
Kein Ton war aus dem Publikum zu hören.
Anton und Friedhelm sprangen von ihren Hockern und standen still, wie gebannt. Voller Sorge wagte Anton einen Blick hinüber zu Nina, die allein in der Intendantenloge saß. Noch einen Moment konnte er warten und hoffen, dass sie etwas tat. Dann würde er selbst sprechen müssen, denn das, was gerade geschehen war, durfte nicht unwidersprochen bleiben.
Kaum merklich wandte Nina den Kopf. Anton sah in ihr von Entsetzen gezeichnetes Gesicht und glaubte zuerst, er müsse sich täuschen. Aber er täuschte sich nicht: Sie hatte ihn entdeckt, und ihre Blicke trafen sich. Anton hob die Hände und reckte die Daumen in die Höhe, um ihr zu signalisieren: Ich bin für dich da. Wir bekommen das hin. Leute wie Kante können uns wehtun, aber sie können uns nicht kleinkriegen, und dieser Hellseher ist nur ein Würstchen, wie deine Oma sagen würde, ein Jude, der sich ausgerechnet den Nazis andient.
»Nein!«, rief Nina laut über die Köpfe der Zuschauer hinweg. »Nein, nein, nein! Er ist gar kein Hellseher und kann natürlich nicht in die Zukunft sehen. Er ist nur ein Taschenspieler, das hat er mir selbst gestanden, und das wäre ja auch amüsant gewesen – aber unter unserem Sternenhimmel verkündet niemand einen Reichskanzler Hitler!«
»Bravo!«, rief Anton ebenso laut. »In unserem Land wird kein Hitler Kanzler, und in unserem Varieté glauben wir an keinen Scharlatan!«
Behände wie ein Äffchen kletterte Nina über die Brüstung der Loge, und Anton rannte den Gang hinunter. Vor der Bühne trafen sie zusammen.
»Josef!«, rief Nina dem Dirigenten in seinem Orchestergraben zu. »Spielen Sie, was das Zeug hält! Spielen Sie … ›Blue Skies‹ von Irving Berlin!«
Antons Herz zuckte. Der Song, der einem Broadway-Musical entstammte und mit dem ersten Tonfilm um die Welt gegangen war, hatte zu ihren Lieblingsstücken in ihren glücklichen Jahren gehört. Es konnte in ganz Berlin unmöglich ein Lokal geben, in dem sie nicht danach getanzt hatten.
Josef Reindl, der Dirigent, war sichtlich froh, etwas zu tun zu haben, hob seinen Stab, und seine Musiker brauchten offenbar nicht einmal nach den Noten zu suchen, sondern begannen auf der Stelle, die populäre Nummer zu spielen:
»Blue skies, smilin’ at me.
Nothing but blue skies do I see.«
Nina lief zur Seite, sprang mit einem Satz auf die Bühne, und Anton folgte ihr.
Wie in unzähligen glücklichen Nächten öffnete er die Arme, fing sie darin ein und begann, mit ihr zu tanzen. Sie schmiegte sich in seine Umarmung, wie sie es immer getan hatte, ihre beiden Körper im Tanz füreinander gemacht.
»Noticin’ the days hurryin’ by
When you’re in love, oh how they fly.«
Vorn an der Bühne entdeckte er Friedhelm, der besorgt zu ihnen aufblickte, und aus dem Aufgang, der hinter die Bühne führte, lugte Sonia. »Kommt tanzen!«, rief Nina.
Wie ein Reh hüpfte Sonia über die Bühne und hielt Friedhelm die Hand entgegen, der am Graben vorbei zu ihr hinaufstieg. Die zarte Sonia war keine geübte Tänzerin, aber Friedhelm führte sie mit fester Hand, so wie er sie durch die Wirren und Gefahren der Stadt führte. Als die beiden an ihnen vorbeiglitten, sah Nina, dass Sonias Bauch unter dem Schneeflocken-Kleid sich wölbte. Zu ihrer Verblüffung verspürte sie keinen Neid, sondern reine Freude.
»Kommen Sie alle!«, rief Nina. »Tanzen Sie mit uns unter unseren Blue Skies. In unserem Wintergarten regiert kein Hass, sondern Liebe, wir hören nicht auf Hetze, sondern nur auf Musik, und unser Reichskanzler wird Irving Berlin oder vielleicht auch Bing Crosby!«
Tosender Jubel setzte ein, gefolgt vom Getrappel zahlloser Füße. Scharen von Paaren strebten auf die Bühne zu, verstopften die Gänge, halfen einer dem anderen nach oben und begannen zu tanzen. Der Ständer mit der Kugel fiel um. Wohin der Hellseher verschwunden war, hatte Anton nicht mitbekommen.
»Blue days, all of them gone.
Nothing but blue skies from now on.«
»Aschinger wird mich rausschmeißen«, sagte Nina.
»Er wäre schön blöd, das zu tun«, sagte Anton mit einem Nicken zu der Menschenmenge, die noch immer auf die Bühne strebte und sich augenblicklich dem Tanz hingab. »Aber du wirst ihm kündigen.«
»Ja, das muss ich wohl«, sagte Nina. »Ich hätte mich nie darauf einlassen dürfen, mich so eng an ihn zu binden.«
»Du hast das Beste gewollt«, sagte Anton. »Nicht das Beste vom Guten, sondern das Beste für deine Kunst und die Menschen, die dir am Herzen liegen. Je schwieriger die Entscheidungen sind, die uns abverlangt werden, desto größer ist nun einmal die Gefahr, dass wir Fehler begehen. Ich habe viel mehr davon begangen als du.«
»Die Frage ist, wovon ich in Zukunft lebe. Wovon meine Wunderweiber leben sollen. Und wie die Welt ohne Wintergarten aussieht.«
»Aschinger denkt nur ans Geld«, sagte Anton. »Er weiß, dass die Berliner dich lieben, dass zum Wintergarten Nina Veltheim und ihre Wunderweiber gehören. Er wird euch wieder engagieren, auch wenn du nicht länger als Intendantin nach seiner Pfeife tanzt. Und falls ich mich irre, kommst du auch durch. Du bist gut, Nina. Und du bist nicht allein.«
Sie sah auf, und durch den Wirbel der flackernden Lichter von der Sternendecke trafen sich ihre Blicke. Der ihre war fragend. Anton zog sie noch dichter an sich. Er wusste, dass in diesem Augenblick für die Zukunft kein Versprechen abgegeben, sondern nur eine Hoffnung geweckt werden konnte.
»Ich wäre gern für dich da«, sagte er.
»Wenn du nicht da gewesen wärst, wenn ich dich nicht dort unten neben Friedhelm hätte stehen sehen, hätte ich das hier nicht gewagt.«
»Das verdanke ich Friedhelm. Dem wir nie hätten misstrauen dürfen. Es ist meine Schuld. Ich hätte darauf kommen müssen, dass Rudi Kante hinter allem steckt. Wenn ich dir nicht verschwiegen hätte, dass er vor jenem schrecklichen Tag bei mir war und mich bedroht hat, wäre Johnny vielleicht nicht gestorben.«
»Rudolf Kante? Du meinst, er hat …?«
Anton nickte. Sie waren beide nicht in der Lage, es auszusprechen.
»Er muss wahnsinnig sein«, brach es aus Nina heraus. »Er schreckt nicht einmal vor Mord zurück.«
»Ich glaube, es gibt überhaupt nicht mehr viel, vor dem er zurückschreckt«, sagte Anton. »Der Verlust von Reinhold und Liesa hat ihn über eine Grenze geschickt, von der er nicht zurückkommt, und in seinen Augen trage ich die Schuld daran. Wir werden ihn nicht belangen können, aber wir müssen uns in Acht nehmen.«
Nina nickte, und sie tanzten ein paar Schritte weiter. In der Bewegung gab sie einen kleinen erschöpften Laut von sich und lehnte den Kopf an seine Schulter.
»Komm mit mir nach Hause, Nina«, sagte er. »Ich liebe dich.«
»Ich weiß noch immer nicht, ob ich es kann«, sagte sie. »Leben, mit dir und – deinem Kind.«
»Das brauchst du auch jetzt nicht zu wissen«, sagte er und berührte mit den Lippen ihr Haar. »Komm nur für heute Nacht und bleib, solange du willst. Wir versuchen es. Nehmen es Tag für Tag.«
»Und wenn es schiefgeht?«
»Dann versuchen wir etwas Neues.«
»Das klingt nach mir.«
»Nach mir auch.«
Sie blickte wieder zu ihm auf, und auf ihre Lippen wagte sich ein Lächeln.
»Nach uns«, sagte sie.