34

Jenny

Klaipėda
Oktober

S ie waren eine gute Arbeiterin«, sagte Justina, die Wirtin der Pension, in der Jenny und Viktor seit drei Monaten lebten. »Es tut mir leid, Sie gehen lassen zu müssen, aber im Winter kommen nach Klaipėda kaum Gäste, und wir leben selbst von der Hand in den Mund.«

Jenny hätte es wissen müssen. Von Anfang an hatte Justina ihr gesagt, sie könne sie nur den Sommer über beschäftigen, und dennoch erschrak sie bis ins Mark. Wie sollte sie Viktor beibringen, dass sie wiederum ihre paar Sachen packen und weiterziehen mussten? Er hatte in eine Art Ruhe gefunden, liebte das Meer und ging zwar nicht zur Schule, aber täglich in die örtliche Bibliothek, um zu lesen. Litauisch sprach er, als hätte er nie etwas anderes getan, sie aßen gern Cepelinai in der kleinen Wirtschaft, und in ihrer winzigen Kammer hatten sie sich eingelebt. Was mehr konnte man tun, um sich so etwas wie ein Heim zu schaffen, wenn man nicht das Risiko eingehen durfte, sich an Menschen zu binden und Freundschaften zu schließen?

Hinzu kam, dass das Wetter umgeschlagen hatte. Über Nacht war der blasse, milde litauische Sommer vorbei, und es war nasskalt und unwirtlich geworden. Der Gedanke, im Dauerregen mit Viktor unterwegs zu sein, schreckte Jenny fast ebenso sehr wie die Erkenntnis, dass sie nicht wusste, wohin sie von hier aus gehen sollten.

»Könnten Sie uns nicht wenigstens das Zimmer lassen?«, fragte sie Justina. »Wir kosten Sie nichts. Ich suche mir Arbeit in der Stadt.«

Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Leute, die im Winter in dieser Stadt Arbeit suchen, gibt’s mehr als Sand an unserem Strand«, sagte sie. »Sie würden nichts finden, und wir könnten Sie mit Ihrem Jungen nicht hungern lassen, aber wir haben eben selbst nichts abzugeben. Mein Mann sagt, Sie müssen gehen. Es ist einem das Hemd nun einmal näher als die Jacke.«

Und wir sind nicht einmal die Jacke, dachte Jenny. Wieder traf sie die Tatsache, dass sie allein war, dass sie die Einzige war, die dafür sorgen konnte, dass Viktor nichts geschah. Sie ging, um ihn von der Bibliothek abzuholen, obwohl er an ihren Arbeitstagen sonst allein nach Hause ging. Justina wollte, dass sie das Zimmer bis morgen Abend geräumt hatten. Sie würde ein letztes Mal mit ihm am Meer entlangspazieren und es ihm dabei erklären. Er war ein starker, tapferer Junge. Keine Mutter wünschte sich, dass ihr Kind gezwungen war, stark und tapfer zu sein.

Mit seinem Bücherstapel unter dem Arm kam ihr Sohn aus dem windschiefen, zweistöckigen Häuschen, das die Bibliothek beherbergte.

»Mama!«

Dass ihr Kommen nichts Gutes bedeutete, spürte er sofort.

»Du musst die Bücher zurückbringen«, sagte sie. »Oder nein. Lass mich mit dir kommen. Ich kaufe sie für dich.«

Die Bibliothekarin überließ ihr die zerfledderten Exemplare für ein paar Pfennige, doch für ihren Geldbeutel bedeuteten selbst die ein Vermögen. Länger als ein paar Tage würden sie auf der Reise nicht durchhalten können, aber daran durfte sie jetzt nicht denken. Sie hatte es die ganze Zeit so gehalten, hatte versucht, einen Tag nach dem anderen zu nehmen, und die Wochen in Klaipėda waren nicht mehr gewesen als eine Atempause.

»Wir müssen weg?«, fragte Viktor, als sie mit den Büchern die Bibliothek verließen. »Jetzt gleich?«

»Morgen«, sagte Jenny. »Viktor, sage ich dir manchmal, wie lieb ich dich habe?«

»Nein, tust du nicht«, sagte Viktor. »Aber das brauchst du auch nicht. Ich bin ja nicht blöd.«

Nebeneinander gingen sie den leeren Strand entlang, hinter dem sich die Reihe der hohen Föhren im Wind bog. Aufgepeitscht tobte das Meer. Es würde bald wieder zu regnen beginnen.

In den Nächten, in denen sie neben ihrem Sohn gelegen und keinen Schlaf gefunden hatte, hatte Jenny sich häufig nicht vor Bildern wie dem retten können, das sie jetzt boten: Sie war mit Viktor allein, weit und breit keine Hilfe und kein Ort, an dem sie sich verstecken konnten – und jemand kam auf sie zu. Dass er aufgeben würde, sie nicht länger verfolgte, hatte sie nie wirklich zu hoffen gewagt.

Sie waren zu zweit. Noch waren sie so weit entfernt und im schwindenden Licht nicht gut zu erkennen, sodass sie einfach zwei Fremde hätten sein können, die wie sie selbst einen letzten Abendrundgang am Strand genossen.

Aber sie waren keine zwei Fremden. Jenny spürte es, lange bevor sie es sah und ihren Beinen den Befehl erteilen konnte, nicht weiterzugehen. Er war es. Er war gekommen, um zu tun, was er ihr angedroht hatte: Er würde ihr ihren Sohn wegnehmen.

Jenny erstarrte im Gehen. Die beiden Männer fielen in Laufschritt.

»Viktor!«, schrie sie. »Lauf weg!«

Viktor rannte, aber er rannte nicht weg. Statt von den Männern fort, rannte er auf sie zu, und wenn sie sich nicht von ihm trennen wollte, blieb Jenny nichts übrig, als mit ihm mitzurennen.

»Wir müssen weg!«, versuchte sie es noch einmal, aber ohne Erfolg. Viktor rannte einfach weiter, und auf seinem Gesicht lag ein Strahlen.

»Es ist Carlo!«, rief er.

Jenny stolperte, und ihr wurde schwarz vor Augen. Als sie sich mit den Händen im Sand abfing und wieder sehen konnte, hatten die Männer sie erreicht, und Carlo schlang seine Arme um sie.

Und sie schlang ihre um Viktor.

Jenny wollte zappeln, sich wehren, sich entwinden, doch die Kräfte verließen sie. Es war, als würde die ganze Erschöpfung, die sie während ihrer langen Reise niedergekämpft hatte, auf einmal ausbrechen und sie übermannen.

Carlo hielt sie. Er hielt Viktor in seinem anderen Arm und streichelte ihr mit seinem Kinn übers Haar. Viktor weinte. Carlo weinte auch. Ob sie selbst weinte, wusste sie nicht, und wo Kyrill steckte, konnte sie nicht sehen.

»Du bist in Sicherheit, Jenny«, sagte er. »Ihr seid beide in Sicherheit und braucht nicht länger wegzulaufen. Alles wird jetzt gut, meine Liebste. Meine arme, mutige, süße, viel zu tapfere Liebste. Meine Jenny.«

Sie wollte sich noch immer wehren. Sie wollte ihn anschreien, wie er ihr das antun konnte, wie ausgerechnet er ihren Feind auf ihre Fährte setzen und hierherbringen konnte, aber ihr Körper hing schlaff in seinem Arm, und aus ihrem Mund kam kein Wort, nur schluchzende, sinnlose Laute.

»Kyrill wird euch nichts tun«, sagte Carlo. »Er wird warten und dir zuhören, bis alles erzählt ist. Vorher gibt es keine Entscheidung. Und ich bleibe die ganze Zeit bei euch und gebe auf euch acht. Ich bleibe jetzt immer bei euch, liebste Jenny. Es sei denn, einer von euch sagt mir, ihr wollt mich in eurem Leben nicht haben und ich soll zusehen, dass ich Land gewinne.«

»Ich sag’s dir nicht«, sagte Viktor.

Jenny wollte es ihm sagen, aber es kam nicht heraus.

»Fahren wir jetzt nach Hause?«, fragte Viktor mit einer Sehnsucht in der Stimme, bei der sich Jennys Herz zusammenzog.

»Noch nicht, Viktor, mein Freund«, sagte Carlo. »Erst müssen wir an den Ort, an dem die Geschichte, die ihr alle braucht, zu Hause ist. Ohne die Geschichte kommt ihr nicht zur Ruhe und werdet immer wieder vor ihr davonlaufen müssen. Das weißt du, oder?«

Viktor nickte. »Ich glaub, Mama weiß es auch.«

Ja, dachte Jenny und begriff, dass sie es die ganze Zeit gewusst hatte: dass ihre Flucht zugleich eine Reise zurück gewesen war, weil sie vor ihrer Vergangenheit nicht fliehen konnte. Sie lebte in ihr, und ohne sie ging es für keinen von ihnen weiter. Sie musste sich ihr stellen, was immer danach auch geschah, und auf einmal fühlte sie sich schwach vor Dankbarkeit, weil Carlo dabei sein würde, wenn sie es tat.

Endlich gelang es ihr, sich aus seiner Umarmung zu lösen und sich aufzurappeln. Sie sah Kyrill an, der in seinem alten Mantel und mit dem geknifften Hut zwei Schritte von ihr entfernt stand. Er sah müde aus, als wäre er meilenweit gerannt. So müde wie sie.

»Ja«, sagte sie mit fester Stimme, »ich weiß es auch. Fahren wir nach Riga.«