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Viktor

Riga
7 . November 1932

D ie Telefonnummer kannte er auswendig. Viktor kannte die Nummern aller seiner Freunde auswendig und dazu die von etlichen anderen Leuten, die er aber nie benutzte. Es fiel ihm leicht, sich Zahlen zu merken, auch wenn er Geschichten interessanter fand.

Die Gelegenheit zum Telefonieren war günstig. Seine Mutter, sein Vater und Carlo saßen in der Hotelbar und tranken Tee mit einem fast schwarzen Kräuterlikör, von dem seine Mutter behauptete, er schmecke so abscheulich, dass er einfach helfen müsse.

»Gegen Kälte?«, hatte sein Vater gefragt.

»Gegen alles«, hatte seine Mutter erwidert. »Zumindest hat das meine Oma behauptet. Gegen Kälte, Leibschmerzen, Bräune, Furunkel, Albträume, Hitler und Traurigkeit.«

»Gegen Hitler auch? Das ist gut«, sagte Carlo. »Der muss um jeden Preis wieder weg.« Selbst Carlo hatte nicht protestiert, als Viktors Mutter ihm von dem Likör, der »Schwarzer Balsam von Riga« hieß, noch einen Schuss in seine Tasse gegossen hatte.

Sie würden alle drei lange genug miteinander beschäftigt sein, ohne Viktor zu vermissen.

Er trat an den Empfangstisch des Hotels, das ihm gefiel, weil es hochmodern und mit der neuesten Technik ausgestattet war. »Ich bin Viktor Alomis von Zimmer sechzehn«, sagte er zu dem Herrn, der in einer in Weiß und Dunkelrot gehaltenen Livree an der Rezeption saß. »Ich möchte ein Telefongespräch nach Deutschland anmelden. Nach Berlin. Die Kosten schreiben Sie bitte auf die Rechnung für Herrn von Veltheim.«

Lettisch konnte Viktor nicht sprechen, was er so bald wie möglich zu ändern gedachte, aber der Herr sprach fehlerlos Deutsch. »Sehr wohl«, sagte er. »Haben Sie bitte den Namen und die Nummer des Anschlusses für mich?«

Es war das erste Mal, dass Viktor von jemandem gesiezt wurde.

Er teilte dem Herrn das Gewünschte mit, und dann wartete er, während dieser sich an seinem großen schwarzen Telefonapparat durch eine Reihe von Ämtern wählte.

»Bitte sehr«, sagte er schließlich und reichte Viktor den Hörer. »Eine Dame für Sie.«

Viktor hatte damit nicht gerechnet und daher alle Mühe, seine Freude im Zaum zu halten. »Guten Abend, ich bin es«, sagte er, so beiläufig er konnte.

Die Dame am anderen Ende hielt ihre Freude nicht im Zaum, sondern kreischte so laut auf, dass Viktor den Hörer von seinem Ohr weghalten musste. Nachdem das Freudengekreisch überstanden war, bombardierte sie ihn mit einer Salve von Fragen, die Viktor so knapp wie möglich beantwortete und ansonsten auf später verschob. »Wir sind ja bald wieder da«, versprach er. »Dann erzähle ich dir alles.«

Schließlich rief er doch an, weil er selbst eine eilige Frage hatte, und außerdem wusste er nicht, was so ein Telefongespräch ins Ausland womöglich kostete.

Er stellte ihr seine Frage, und sie stieß noch einen Freudenschrei aus. »Du rufst genau im richtigen Moment an! In der Funkstunde haben sie es gerade durchgegeben.«

Viktor ließ sich sämtliche Zahlen aufsagen und merkte sie sich. Zahlen waren leicht zu merken, und schließlich hatte man nicht immer einen Bleistift bei sich.

Er bedankte sich herzlich und verabschiedete sich.

»Pass auf dich auf, mein Schatz«, sagte sie. »Und auf den Rest von euch auch. Wenn du nach Hause kommst, habe ich eine Überraschung für dich, die dir hoffentlich gefällt.«

»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte Viktor, der Carlo durch die Tür des Empfangsbereichs kommen sah. »Es dauert ja nicht mehr lange, bis wir uns wiedersehen.«

»Gott sei Dank, hier steckst du!«, rief er und legte Viktor die Hände auf die Schultern. »Wir haben uns Sorgen gemacht. Mit wem hast du denn telefoniert?«

»Das war Tante Nina«, sagte Viktor stolz.

»Du hast einfach so Tante Nina angerufen?«

Carlo grinste, und Viktor grinste zurück. »Auf deine Rechnung. Ich dachte, du wolltest das wissen.«

»Was wollte ich wissen?«

»Dass das schwarze Balsam-Zeug gegen Hitler hilft«, antwortete Viktor. »Der hat bei der Wahl gestern fünf Prozent von seinen Stimmen verloren. Der zettelt keinen Krieg an, sondern kommt wieder weg.«

ENDE