14. Die Ohrfeige

Valentine

Das Frühstück am Sonntagmorgen ist eine Tradition, die ich und meine Mutter schon immer pflegen. Bei uns ist es schon fast heilig, auch wenn es in manchen Familien bloß eine Gewohnheit ist.

Für Florence ist dieses Ritual eine ganz ernste Angelegenheit. Jede Woche treffen wir uns auf der Panorama-Terrasse um Punkt 10 Uhr. Auf dem hellen Marmortisch kann ich fast immer einen Berg voller Feingebäck und anderen Leckereien aus der besten französischen Bäckerei von L.A. sehen. In ihrem allerschönsten pastellfarbenen Morgenmantel aus Seide küsst mich meine Mutter herzlich und bittet mich, mich an meinen gewohnten Platz zu setzen. Immer zu ihrer linken Seite, die Seite des Herzens, denn ihrer Ansicht nach bringt das Glück. Ich antworte ihr und sage, sie habe es nötiger als ich, sie antwortet mir, dass es „die Pflicht einer jeden Mutter“ sei, ihrer Tochter das Beste zu schenken. Also setzt sie sich nach rechts, ich bestehe nicht weiterhin darauf, küsse sie und stürze mich auf mein Mandelcroissant, das mich immer als Erstes anlacht. Ein oder zwei Stunden lang, je nach ihrer Tagesform und Laune, sprechen wir mit vollem Mund über Gott und die Welt, die Augen auf das Meer gerichtet.

Bloß, dass ich heute Morgen nicht alleine zu ihr komme. Ein ausgehungerter Kleiderschrank, der schon seit Sonnenaufgang wach ist (nach seinem nächtlichen Fitnessprogramm, dem ich anscheinend … versehentlich zugesehen habe), begleitet mich. Meine Mutter ist von meinem männlichen Begleiter völlig überrascht und bittet Nils, sich zu uns zu setzen. Dann geht sie in ihr Schlafzimmer, schließt sich dort ein und tauscht aus Schamgefühl ihren Morgenmantel gegen eine bescheidene, angemessenere Kleidung aus. Ich führe meinen Leibwächter zur sonnigen Terrasse. Hilda, die Haushälterin, ist schon dabei, das dritte Besteck zu bringen, und ich muss dem Wikinger mehrmals auf die Finger schlagen, damit er sich nicht an dem riesigen warmen Kuchen vergreift.

Kaum habe ich mich bei Hilda bedankt, ist das Schoko-Croissant verschwunden. Ach, die Apfeltasche hat er auch schon vertilgt. Ich setze mich und schaue ihn finster an, Nils tut es mir nach, dann zieht er sein Sweatshirt aus, sein göttlicher Geruch macht sich bemerkbar. Eine Mischung aus Duschgel und natürlichem Männerduft, Duftnote „Norwegische Fichte“. Ich versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Ich starre auf den Horizont und spiele mit einem Faden, der aus meinem T-Shirt herausragt, tippe auf dem Tisch herum und schlinge einen ganzen Windbeutel hinunter, damit all meine anderen Sinne ruhig bleiben. Erfolglos. Der Wikinger ist immer noch so verlockend. Auch mit vollem Mund möchte ich ihn am liebsten vernaschen. Er reckt und streckt sich etwas länger neben mir. Taucht gierig die Lippen in seinen Orangensaft und glättet seine feuchten Haare. Die Muskeln seiner angespannten Arme reizen mich. Sein halb geöffneter Mund ruft förmlich nach mir …

Der zweite Windbeutel. Und immer noch kein Ergebnis.

„Es ist Sonntag, es war vielleicht nicht nötig, vor Sonnenaufgang aufzustehen“, merke ich an, als ich ihn gähnen sehe.

„Ich muss eine Agentur leiten, Prinzessin“, sagt er etwas schroff und verschränkt die starken Arme vor seiner Brust. „Ich muss nicht nur auf dich aufpassen …“

„Weißt du, was delegieren heißt?“

„Ich bin für etwa zehn Personen verantwortlich. Es wird mein Verschulden sein, wenn sie ihre Familie nicht mehr ernähren können …“

„Es steht bestens um SAFE!“, widerspreche ich und erinnere mich, dass er am Telefon darüber gesprochen hat.

„SAFE?“, fragt meine Mutter plötzlich ganz hübsch.

Sie kehrt mit einer weißen Hose aus fließendem Stoff und einem dünnen taupefarbenen Pulli zurück, die ihr hinter dieser übergroßen Kleidung Schutz vor dem Blick des blonden Riesen bieten.

Search and Find Eriksen, meine Privatdetektei“, antwortet er höflich. „Entschuldigung, dass ich Sie gestört habe, Frau Laine-Cox. Ich wollte mich nicht unerlaubt zu Ihnen an den Tisch setzen, sondern nur meine Arbeit tun …“

Er scheint die Verlegenheit meiner Mutter und ihre Schüchternheit bemerkt zu haben. Ich vergesse immer, dass dieser Neandertaler auch feinfühlig sein kann …

„Valentines Kühlschrank ist immer leer, es war eine gute Idee, hier zu frühstücken!“, sagt sie lachend und setzt sich. „Und Sie haben völlig recht, auch an Ihre Angestellten zu denken. Gute Arbeitgeber sind heutzutage recht selten.“

„Wollt ihr vielleicht unter vier Augen sein?“, schlage ich vor, ganz erfreut, sie so fröhlich zu sehen.

„Was für eine Idee?!“, kokettiert meine Mutter. „Los, bedient euch!“

Man braucht es ihm nicht zweimal zu sagen. Nils füllt und leert seinen Teller wieder in Rekordzeit. Zweimal sogar. Meine Mutter traut ihren Augen kaum, als sie einen solchen Bärenhunger sieht.

„Wollen Sie, dass Hilda Ihnen etwas anderes zubereitet? Ein Omelette? Speck? Ein Sandwich?“, schlägt sie vor.

„Eine ganze Rinderherde am Spieß?“, frage ich ironisch.

Dieser Vielfraß mit grauen Augen ignoriert meinen Kommentar und bestellt ein „ganzes“ Omelette. Ich verfolge ihre Unterhaltung, wie er und meine Mutter über alles und nichts sprechen. Er, der sonst weder gesprächig noch zugänglich ist, zeigt sich ganz sanft und rücksichtsvoll, als ob er wüsste, dass sie zerbrechlich ist. Florence scheint vollkommen verändert. Sie fühlt sich in Nils’ Gegenwart viel ausgeglichener. Scheint, seinem Charme zu erliegen. Vielleicht zu sehr. Ein kleiner Alarm ertönt in mir: Da ich weiß, dass sie des Öfteren an Männer gerät, die oft gewalttätig sind und denen man besser aus dem Weg geht (Darren ist ein Chorknabe im Vergleich zu ihren Expartnern), bleibe ich wachsam. Das ist verrückt, aber Nils ist für mich immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Auch wenn er sich immer sehr respektvoll zeigt und den Beschützer spielt, bleibe ich auf der Hut. Manche Männer sind in der Lage, sich von heute auf morgen völlig zu verändern. Die Frau, die am anderen Ende des Tisches kichert, hat diese Erfahrung schon oft gemacht.

Und ich auch … Das liegt wohl in der Familie.

„Also, wie läuft es mit der Wohngemeinschaft?“, fragt Florence und schenkt mir Milchkaffee nach.

„Valentine ist immer noch am Leben“, sagt mein Leibwächter. „Ich auch. Also ist alles bestens.“

„Wenn du dieses Mandelhörnchen anrührst, wirst du schon sehen, dass es sich ganz schnell ändern kann“, sage ich drohend und sehe dabei mein kostbares Gebäck besitzergreifend an.

„Böses Mädchen …“, flüstert er und hustet künstlich.

„Vielfraß …“, erwidere ich im gleichen Ton.

„Ihr passt ja wunderbar zusammen, würde man meinen“, kommentiert meine Mutter, die von dieser Show ganz begeistert scheint.

„Ich darf dich daran erinnern, dass Darren Nils bezahlt, um über mich zu wachen, Mama. Das ist alles.“

„Der Mann, der für die Videoüberwachung zuständig ist, ist bestimmt schon da“, sagt er und steht plötzlich auf. „Ich muss euch verlassen.“

„Schon?“, flüstert meine Mutter.

„Die Pflicht ruft“, bestätigt er und schenkt ihr ein nachdrückliches Lächeln, bei dem sie kichern muss.

Wirklich?! Er will ihr hoffentlich nicht auch noch die Hand küssen, wenn er schon dabei ist?

Bevor er aufbricht, sieht mein Leibwächter mich mit seinen stahlgrauen Augen an. Ich habe verstanden, was er mir damit sagen will (ich soll ihm sofort Bescheid sagen, wenn ich diese Terrasse verlasse), und gebe ihm ein Handzeichen, dass er gehen kann.

Seine unverschämte Art bringt mich zum Lächeln, als er das letzte Mandelcroissant unter meinen Augen stiehlt. Sau. Geile Sau.

„Dieser Nils Eriksen … in deinem Alter hätte ich nicht widerstehen können“, seufzt meine Mutter und schaut ihm hinterher, als er verschwindet. „Diese kräftige Gestalt. Diese Augen. Die Kraft, die er ausstrahlt. Diese Tiernatur …“

„Mama, ich esse gerade!“

„Huch, ich habe laut gedacht!“, sagt sie lächelnd wie ein kleines, freches Kind.

Sie hat schon seit Monaten nicht so gelächelt.

Der Wikinger hat schon wieder ein Wunder vollbracht …

***

Ich gehe widerwillig zum Cox-Tower (oder besser gesagt fährt Nils mich in seinem Hummer dorthin), und er weiß bestens, dass die Montagsbesprechung (die längste überhaupt) auf mich wartet. Währenddessen hat Aina eine schöne Zeit am anderen Ende der Vereinigten Staaten, angeblich nimmt sie an einer Konferenz über den Klimawandel teil. Es ist noch nicht einmal 8 Uhr in Los Angeles, aber schon fast 11 Uhr in New York. Ich bin bei Sonnenaufgang aufgestanden und möchte den ganzen Morgen lang ausschlafen, sie kommt gerade aus dem Bett und ist offensichtlich ganz verkatert.

Auf jeden Fall ist es das, woran mich ihre SMS denken lässt:

[Wusstest du schon, dass es tödlich sein kann, Rum mit Wodka zu mischen?]

[Natürlich. Haben die Lemuren dir nichts beigebracht?]

[Anscheinend nicht. Aber der Kerl von letzter Nacht hat mir tantrische Künste gezeigt …]

[Also? Hattest du Spaß?]

[Ja. Aber es wäre mir lieber gewesen, dass er nicht mit meiner Kreditkarte verschwindet …]

[Soll das ein Witz sein?!]

[Nein. Anscheinend sind aber zwei Orgasmen in einer Nacht wirklich teuer.]

[Hast du dein Konto sperren lassen?!]

[Nein. Rum und Wodka haben mich daran gehindert.]

[Vololoniaina Rakotonalohotsy! Du rufst SOFORT bei deiner Bank an!]

[Wow! Du weißt, wie man meinen Namen schreibt?!]

[SOFORT habe ich gesagt!]

[Du fehlst mir.]

[Dito. Ruf bei deiner Bank an.]

Nils dreht sich zu mir um, als würde er etwas erwarten. Ich habe nicht mitbekommen, dass sein G.I.-Joe-Hummer am Cox-Tower angekommen ist. Es ist Zeit, dass ich aus dem Wagen steige.

„Gibt es ein Problem?“, fragt er mit einer erstaunlich sanften Stimme.

Seine beiden Hände liegen flach auf dem Lenkrad. Seine blasse Haut, seine langen, dünnen Finger. Seine Hände scheinen zu zart für die eines Barbaren.

Und vor nicht allzu langer Zeit erst hat er damit meinen ganzen Körper berührt …

„Zwei Probleme eigentlich“, sage ich mit einem kleinen Lächeln, als die Verwirrung immer mehr von mir Besitz ergreift. „Die Besprechung, die mich erwartet, wird mich sicher erledigen. Und meine beste Freundin könnte einen Nils Eriksen wirklich gut gebrauchen.“

„Aina? Ich könnte ihr einen meiner Männer schicken“, schlägt der Wikinger ganz ernst vor.

Seine Hände verlassen plötzlich das lederne Lenkrad und er schnappt nach den beiden Telefonen wie aus der Pistole geschossen. Dieser Mann zieht ganz schnell.

Ähm …

„Ich scherze, Nils.“

„Ich nicht“, sagt er und wählt eine Nummer. „Ich könnte jemanden in weniger als zehn Minuten bei ihr vorbeischicken.“

„Nicht nötig, vielen Dank“, sage ich lachend und greife nach dem Telefon.

Ich lege auf und versichere ihm, dass er nicht eingreifen muss. Er taucht den Blick in meine Augen und sieht mich trotzig an, reicht mir die Hand und öffnet sie. Bei der Leidenschaft, die er ausstrahlt, legen sich meine rebellischen Gedanken wieder. Ich bewundere seine wilde Schönheit, schlucke schwer und gebe ihm sein Telefon zurück, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Du wirst noch zu spät kommen …“, flüstert er, ohne mich aus den Augen zu lassen.

Etwas verunsichert, brauche ich eine gewisse Zeit, um zu begreifen, dass er recht hat. Ich greife schließlich nach meiner Handtasche und öffne die Tür, was mir erst nach dem zweiten Anlauf gelingt.

„Nils?“, frage ich und quetsche mich aus dem Auto.

„Hmm?“

„Vielen Dank.“

Ein leichtes Lächeln zeichnet sich auf seinen Lippen ab, er schaut mir ins Gesicht. Mein Herz schlägt ziemlich heftig. Ich schlage die Tür zu und hoffe, wieder etwas Klarheit in meine Gedanken bringen zu können, doch vergeblich. Jetzt bin ich aus dem Panzer ausgestiegen. Ich mache ein paar Schritte, dann lässt mich seine Stimme innehalten.

„Sag mir eine Viertelstunde vorher Bescheid, bevor du die Räumlichkeiten verlässt“, sagt er und lässt die Scheibe herab.

„Warte!“, sage ich und nähere mich ihm. „Kommst du heute nicht vorbei?“

Und ich bereue sogleich diese dumme Frage.

„Werde ich dir etwa fehlen?“, sagt er lachend.

„Ich will nur wissen, warum du mich manchmal begleitest und mich manchmal alleine lässt …“

Ich trotze seinem Blick und erhalte auch eine Antwort.

„Weil die Büros im Cox-Tower vom Sicherheitsdienst beschützt werden. Du kannst ihn nicht sehen, aber ich habe noch einen anderen Kerl, der dich beschützt, wenn ich nicht da bin. Und weil ich mir, ehrlich gesagt, bei euren Besprechungen am liebsten die Kugel geben möchte …“

„Gute Antwort.“

Ich schenke ihm ein Lächeln und beobachte ihn einen Moment lang. Seine olivgrüne Jacke steht ihm gut. Seine hellen Augen wirken in der Morgendämmerung noch heller. Ein paar Haarsträhnen stehen auf seinem Hinterkopf wegen der Kopfstütze aufrecht, und ich möchte ihn am liebsten berühren. Ich schweife schon wieder ab. Mir wird wieder ganz heiß. Er dreht sich wieder zu mir um und fragt sich, was ich hier wohl noch suche. Als er meinen Ausdruck sieht, kneift er leicht die Augen zusammen. Sein Blick fällt auf meine Lippen. Ziemlich lange, sodass mein Herz zu rasen beginnt. Dann lässt der Riese mich wieder aus seinen nebelgrauen Augen, ohne sein verschmitztes Lächeln dabei zu verbergen.

„Ich wünsche dir eine angenehme Konferenz, Prinzessin …“

Nach diesen Worten mit seiner tiefen und warmen Stimme bedeutet er mir, zur Seite zu gehen, und rast los. Verfluchter Barbar in seinem Hummer.

Verfluchtes Herz, das in meiner Brust pocht.

***

Mittag. Die Sonne scheint schon sehr hell am Himmel in Downtown Los Angeles und ich verliere mich in einem Meer von Zahlen, Projektionen und unnötigen Höflichkeitsfloskeln. In der hermetischen Blase, die uns als Besprechungsraum dient, fällt mir das Atmen schwer, ich öffne meine Bluse und richte mich auf meinem Sessel wieder auf. Lewis’ monotone Stimme gibt leicht nach, sein Vortrag hat schon vor etwa anderthalb Jahrhunderten begonnen. Auf der anderen Seite des Tischs kritzelt Darren energisch eine Liste auf (wahrscheinlich die nächsten Köpfe, die rollen werden), während Lana vorgibt, eine gewisse Vorliebe für Aktien-Tabellen entdeckt zu haben.

Irgendwie habe ich den Eindruck, dass es nicht das Einzige ist, was sie vortäuscht …

Alarmstufe rot: Mir wird schlecht.

Ich habe kaum zehn Worte seit Anfang der Besprechung sagen können. Ich mag Action und nicht so ein Blabla. Ein Unternehmen wie das unsere kann natürlich nicht ohne eine Armee von denkenden Köpfen und Rednern auskommen, die gleichermaßen brillant wie einschläfernd sind, aber ich mag es auszuprobieren, zu erschaffen, zu erneuern, neue, unerforschte Bereiche zu erkunden. Der Rest, die Veranstaltungen, die Videokonferenzen, die Kniefälle und die Prezis: Hilfe.

Normalerweise möchte ich nicht, dass die Praktikanten solche Tätigkeiten ausüben, aber jetzt gebe ich nach: Ich verlange unauffällig einen Kaffee bei dem jungen Mann, der sich sichtlich langweilt. Das ist schon meine dritte Dosis Koffein, seitdem Nils mich ganz feige am Fuß dieses verdammten Towers hat sitzen lassen. Ich frage mich, wo er wohl hingegangen ist. Was ihn wohl davon abhält, bei mir zu sein. Lewis kehrt wieder zu seinem Platz zurück und Becca, die Leiterin der Vertriebsabteilung, ist jetzt an der Reihe. Sie schenkt mir ein mitwissendes Lächeln, ich gebe ihr ein Zeichen, dass sie beginnen soll. Sie beginnt mit der Präsentation, die wir gemeinsam erstellt haben. Innerhalb von etwa zwanzig Minuten stellt sie das neue Produktkonzept vor, das ich mir spontan ausgedacht habe. Dieses Konzept erhält allgemeine Zustimmung, unter anderem auch von meinem Erzeuger … der sich innerhalb von drei Minuten wieder so verachtend zeigt wie zuvor.

„Das nächste Mal hältst du deinen Vortrag selbst, Valentine. Ich weiß nicht, wieso du es zulässt, dass dir jemand deine Sternstunde stiehlt“, flüstert er arglistig, als die Mitarbeiter den Raum verlassen.

„Das war anfangs schon meine Idee, aber Becca hat alles zusammen mit mir ausgearbeitet. Sie hat schon 15 Jahre Erfahrung und ergreift jede Woche das Wort, sie ist so ziemlich die Einzige, die in der Lage ist, die Versammlung auf Trab zu halten. Und was die ,Sternstundeʻ angeht …“, füge ich mit einer ironischen Stimme hinzu, „haben wir sicher nicht die gleichen Prioritäten.“

„Spiel nicht dieses Spiel mit mir“, schimpft er leise. „Erinnere dich daran, was ich dir gesagt habe, als du hier angefangen hast: Unsere Angestellten arbeiten unauffällig, damit wir im Vordergrund stehen, wir, die Cox. Du bist meine Erbin, deine Stelle ist an meiner Seite. Ganz oben in der Pyramide.“

Ich öffne den Mund, denn ich möchte ihm am liebsten widersprechen. Er sieht mich streng an und fügt mit zusammengebissenen Zähnen hinzu:

„Die Diskussion ist beendet, Valentine.“

„Besser so. Mama wartet auf mich.“

„Wieso das? Hast du nicht noch einen Termin mit Microclear?“

„Abgesagt. Ich stehe ganz oben in der Pyramide, kannst du dich daran erinnern? Das eröffnet mir viele Freiheiten …“, sage ich und lächle frech, während ich mit großen Schritten den Raum verlasse.

Oder wie führt man sich am besten wie eine verwöhnte und zickige kleine Göre auf, nur um einen alten Idioten zu ärgern …?

Florence tritt unten am Tower vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen, als ich diesen verlasse. So schön in ihren engen Jeans und ihrer kleinen taillierten Jacke, stürzt sie sich auf mich und kreischt:

„Ich habe sie gesehen, Valentine! Und ich bin ruhig geblieben!“

„Was? Wen?“

„Lana! Sie ist beinahe weggelaufen, als sie mich erkannt hat! Diese kleine …“

„Komm!“, sage ich, bevor sie beginnt herumzuschimpfen, und nehme sie an die Hand.

„Wohin? Werden wir nicht zu Mittag essen?“

„Nein. Du musst auf andere Gedanken kommen!“

Eine Männerstimme ist plötzlich wenige Meter hinter mir zu hören.

„Wie lautet der Deal, Prinzessin?“

Ich drehe mich zu Nils um, der nicht so erfreut scheint. Aber ganz und gar nicht. Er betrachtet mich von seiner ganzen Höhe aus mit seinen vor Ärger zusammengekniffenen Augen und seinen fest auf der Brust verschränkten Armen. Ein wahres Klischee, das aber verdammt gut aussieht.

„Hör erst mal auf, mich ,Prinzessinʻ zu nennen.“

„Was hast du denn angerichtet?“, fragt mich meine Mutter.

„Überhaupt nichts.“

„Genau“, knurrt der Wikinger. „,Nichts.ʻ Kein Anruf, keine Nachricht, dass du gleich weggehst. Wo wolltest du ohne mich hin?“

„Valentine!“, sagt die Verräterin beleidigt. „Willst du dich noch einmal entführen lassen?“

„In Ordnung, steckt ihr etwa unter einer Decke?“, seufze ich, als ich sehe, dass die beiden sich anschauen, als würden sie gemeinsam etwas aushecken.

„Wir hängen sehr an dir, Süße.“

„Hmm …“, sagt mein Leibwächter. „Ich mache nur meine Arbeit.“

Ich muss mich wirklich zusammenreißen, um diese letzte Bemerkung zu ignorieren (auch das leichte Stechen in meinem Herzen), und gehe von alleine zum olivgrünen Hummer. Der unzerstörbare Panzer wirkt in der kalifornischen Landschaft etwas befremdlich.

„Hier entlang!“, sage ich meiner Mutter. „Du kannst von deinem kleinen Cabrio Abschied nehmen …“

„Ach ja?“, sagt sie und nähert sich dem Monster. „Das ist … wirklich beeindruckend als Fahrzeug.“

„Es sieht bloß von außen so aus“, sagt Nils und öffnet ihr die Tür. „Es ist sehr gemütlich. Und eignet sich hervorragend, um in der Stadt herumzufahren.“

„Man darf sich nicht auf das Äußere verlassen …“, sagt meine Mutter lächelnd, die anscheinend unter seinem Charme steht.

Ihre plötzliche Vertrautheit ist etwas irritierend, so sehr es mich auch freut. Meine Mutter scheint immer fröhlicher, seitdem mein ruppiger Leibwächter in der Nähe ist. Wahrscheinlich, weil sie sich dabei auch etwas ruhiger fühlt.

Als Nils eine Viertelstunde später begreift, dass wir in ein riesiges Einkaufszentrum gehen, verschwindet sein verschmitztes Lächeln. Und meines wird immer größer.

„Shoppen …“, murmelt er und parkt ein. „Verdammt. Ich habe nicht dafür unterschrieben.“

„Verstößt es gegen die Sicherheitsregeln?“, frage ich.

„Nicht, wenn ich euch ständig begleite“, seufzt der Riese.

„Also, lasst uns los!“

Ich kündige meiner Mutter an, dass sie während der zwei nächsten Stunden alles tun kann, was sie möchte, dabei auch alles anprobieren kann und dass die Rechnung auf Darren geht. Und dass es für einen gewissen Nils Eriksen eine Freude sei, ein jedes Kleidungsstück zu kommentieren und zu bewundern. Sie bricht vor dem gleichgültigen Riesen in Lachen aus, der sich durch die Haare streift, da ihm nichts Besseres einfällt. Und der mich auch mit finsteren Blicken straft.

Wenn die Prinzessin dem Wikinger eins auswischt …

Im ersten Luxusgeschäft ist Florence ganz in ihrem Element, ich muss lachen, als ich sie so sehe, wie sie völlig in Ekstase gerät und sich laufend bei den Verkäuferinnen entschuldigt, weil sie ihretwegen hin- und herlaufen müssen. Ich schaue auf die Kleiderständer, ohne mich wirklich dafür zu interessieren, als ich Nils’ Anwesenheit hinter mir spüre. Diese Anwesenheit, die mir jetzt ganz vertraut ist und mich immer weniger stört. Meine Mutter hat schon den achten Fund gemacht, als ich meine erste Anprobe mache: Eine kamelfarbene Lederjacke mit äußerst gutem Schnitt.

„Valentine, probier dieses Kleid an!“, sagt die Massen-Shopperin vor dem Spiegel.

Sie zwingt mich, die Jacke auszuziehen, während ich mir den Stück Stoff, den sie als „Kleid“ bezeichnet, ansehe. Ich ziehe eine Grimasse. Zu kurz, zu eng, zu weit ausgeschnitten, daher: „Nichts für mich.“

„Mama, jetzt aber!“

„Es würde dir nicht schaden, dich manchmal etwas aufreizender zu kleiden“, flüstert sie.

Im Spiegel kann ich sehen, wie Nils die Augen wenige Meter hinter mir zusammenkneift und sich so ein Lächeln verkneift. Unsere Blicke kreuzen einander sogleich und es geschieht etwas – ein unmerkliches Aufschrecken, ein Kurzschluss, ein kleiner unerwarteter Zusammenstoß. Die Leidenschaft, die darin liegt, ist verwirrend. Mein Herz schlägt schneller, eine angenehme Wärme schleicht durch meinen Rücken. Meine dümmsten Zellen kollidieren. Und die Zeit vergeht, ohne dass mein Leibwächter das unsichtbare Band bricht, das uns miteinander verbindet.

„Schau!“, ruft meine Mutter (die mich erschreckt) und mir ein neues Kleid auf einem Kleiderbügel reicht. Dunkelblau, kurz, aber nicht zu sehr ausgeschnitten. Schick und ausgefallen: „Das ist das Richtige!“

Verwirrt, gehe ich mit großen Schritten wie ein Roboter in die Ankleidekabine. Nils überholt mich und gibt mir zu verstehen, dass ich hinter ihm bleiben soll. Er prüft die Kabine, bevor er mich hineinlässt, und schließt die Tür. Bei dem Gedanken, dass er sich gerade auf der anderen Seite der dünnen Wand befindet, während ich mich ausziehe … Und schon kommen die anderen zurück.

Unverschämtheit! Verschwindet!

„Willst du die Nacht hier verbringen?“, meckert der Wikinger schließlich.

„Ich kann meinen Reißverschluss nicht schließen …“

„Wo ist deine Mutter hin?“, höre ich ihn seufzen.

„Das ist nicht nötig. Komm!“

Die Tür öffnet sich schließlich und ich stehe vor Nils. Vor seiner großen Gestalt. Vor diesem intensiven und harten Blick. Vor seinem Lächeln, das sich immer mehr abzeichnet, ohne dass er es bemerkt hätte. Ich drehe mich um und zeige ihm den Rücken. Seine Hände wirken besonders zart, als er sie auf mich legt, um das Kleid zu schließen.

„Magst du es?“, frage ich ganz lässig, während wir beide mein Spiegelbild betrachten.

„Man wird mich für mein Gutachten doppelt bezahlen müssen …“

„Ja oder nein, Eriksen.“

Meine Stimme sollte trocken klingen, aber sie klingt etwas höher. Er sieht mich mit seinen stahlgrauen Augen an. Er schaut mir ins Gesicht, auf meinen Mund und dann auf meinen Hals, meine Brüste, meine Taille, meine nackten Beine. Ich schlucke schwer, während er mir mit einer heiseren Stimme zuflüstert:

„Nicht schlecht.“

Eine ohrenbetäubende Stille erfüllt die Kabine. Ich starre ihn im Spiegel an: Er ist zum Sterben schön. Unsere Nähe steigt mir fast zu Kopf. Meine Haut wacht langsam auf. Bis vertraute Stimmen sich nähern. Die meiner Mutter und die …

Oh. Ver. Flucht. Nicht er.

„Nils! Meine Mutter! Schnell!“

Sein Gesichtsausdruck ändert sich, als er mich ansieht. Der Leibwächter sieht sicher die Angst in meinen Augen und verschwindet sogleich. Ich kann endlich durchatmen und mich wieder fassen, aber als ich aus der Umkleidekabine komme, kann ich hinter dem Kleiderständer ganz genau den Dreckskerl erkennen, der mit meiner Mutter spricht.

Kräftig. Er sieht wie ein Biker aus. Zusammengebundene Haare. Hinterhältiges Lächeln. Pascal.

Mein Herz rast, aber nicht aus den gleichen Gründen wie vor Kurzem.

„Wer ist dieser Kerl?“, fragt Nils, als ich ihn zur Seite führe, ohne Pascal dabei aus den Augen zu lassen.

„Ein Schatten aus der Vergangenheit.“

„Ich brauche wohl etwas mehr Informationen als sonst“, schimpft er.

„Der Ex meiner Mutter. Vor acht Jahren hat er sie krankenhausreif geschlagen.“

„Und du? Hat er …?“

„Nein“, flüstere ich. „Das heißt, nicht wirklich. Ein einziges Mal. Nicht so schlimm.“

„Okay. Das reicht mir schon …“, zischt der Riese und öffnet seine verschränkten Arme.

Nils, dessen Muskeln alle angespannt sind, gibt vor, eingreifen zu wollen, aber ich halte ihn an der Jacke zurück.

„Warte mal. Noch nicht. Sie ist vielleicht stark genug, um ihm die Stirn zu bieten … Sie hat es auch ganz bestimmt nötig.“

„Ich mag seine Art nicht. Er ist nicht bloß wegen eines Höflichkeitsbesuches da.“

„Ich weiß“, sage ich mit einem Kloß im Hals.

Plötzlich kreuze ich den Blick meiner Mutter und ich kann in ihren Augen eine große Entschlossenheit sehen. Florence möchte ihre Rechnung begleichen. Der Stolz, den ich für sie in diesem Augenblick empfinde, rührt mich zu Tränen. Und das Gefühl der Panik, das in mir wächst.

„Ich werde nicht zulassen, dass man ihr irgendetwas antut, Valentine“, flüstert der Wikinger, mit den Augen auf dem Mann gerichtet, der uns gequält hat.

Pascal hat noch nie etwas zur Hälfte mit meiner Mutter getan. Er hat sie genauso geliebt, wie er sie auch geschlagen hat. Seltsam für einen Kerl, der so gut wie überall auf der Welt bei Rockkonzerten Security-Arbeit leistet. Ich war 13 Jahre alt, als alles begonnen hat, 16 Jahre, als ich die Bullen angerufen habe, weil das Blut meiner Mutter bis auf die Wände gespritzt ist. Pascal hat mich terrorisiert, aber der tiefe Hass, den ich ihm gegenüber hegte, erlaubte es mir, ihm standzuhalten. Ich habe einiges einstecken müssen, aber nichts im Vergleich zu meiner Mutter, deren Narben noch zu sehen sind. Körperlich und seelisch.

Es macht mich krank, ihn ihr gegenüber hier so stehen zu sehen. Ich möchte ihr am liebsten zu Hilfe eilen, aber es ist mir bewusst, dass sie ihm ganz alleine die Stirn bieten muss. Dass sie wieder die Macht an sich reißen muss. Lauter als er sprechen muss. Ihm „nein“ sagen muss für all die Male, bei denen sie es sich nicht traute.

„Sie sieht im Gegensatz zu ihm so zerbrechlich aus …“, sage ich, als ich sie beobachte.

„Ich kann es jetzt besser verstehen.“

„Was kannst du besser verstehen?“

„Wieso du dich so vor mir fürchtest …“

„Ich habe keine Angst vor dir, Nils.“

Ich lüge nicht. Ich begreife in diesem Augenblick, dass seine Anwesenheit mich zu vielen Dingen veranlassen könnte, er mir aber keine Angst macht. Trotz seiner riesigen Statur vertraue ich Nils Eriksen.

Etwas weiter weg beginnt meine Mutter, sich vor dem Motorradfahrer hektisch zu bewegen, der die Hand auf ihre Taille gelegt hat. Die Grenze ist überschritten und ich ahne schon, dass das Schlimmste noch bevorsteht. Ich beiße die Zähne zusammen und nähere mich langsam, genauso wie der Mann mit grauen Augen, der sich in meinem Schatten bewegt.

„Rühr mich nicht an“, warnt ihn meine Mutter und geht rückwärts.

„Florence, ich habe all diese Kilometer nur für dich zurückgelegt …“, sagt Pascal ganz beharrlich.

„Die Iron Rocks spielen in Los Angeles die ganze Woche. Du bist nicht bloß meinetwegen hier. Außerdem bist du mir bis hierher gefolgt … Wie zuvor.“

„Du warst schon immer zu schlau für meinen Geschmack“, sagt der Dreckskerl.

„Du hast mich jetzt gesehen, du hast mich gehört, du kannst jetzt wieder verschwinden“, zischt sie wütend. „Und nie zurückkehren.“

„Komm mit mir nach Frankreich zurück.“

„Ich bin verheiratet!“

„Es sei dir verziehen …“

„Pascal, du musst eine Therapie machen!“, schreit meine Mutter ganz ungeduldig. „Du bist krank, wenn du denkst, dass ich mit dir sonst wohin gehe! Du hast mich beinahe umgebracht!“

Die Nasenflügel dieses Mannes beben. Sein Gesicht wechselt die Farbe und ich kann mich wieder erinnern. So war es früher auch, bevor er sie schlug.

„Du hattest mich an diesem Tag fast an den Rand getrieben“, sagt er mit einer erschreckenden Stimme. „Und du fängst schon wieder damit an …“

Er lässt seine große Hand, die so unberechenbar wie seine Faust ist, schwingen und diese ist schon im Begriff, auf das verängstigte Gesicht meiner Mutter zu prallen, als der Wikinger den Schlag blockt. Die Ohrfeige muss äußerst heftig gewesen sein, da es nur so knallt. Und sie sollte die Person treffen, die ich am meisten auf der Welt mag.

Ich will mich gerade vorwärtsstürzen, aber meine Mutter hindert mich daran, damit Nils sich um den Abschaum kümmern kann. In wenigen Sekunden wird Pascal mit einer blutigen Nase heftig gegen die Wand geknallt, während der Barbar ihm das Gesicht zerquetscht. Mein Leibwächter bezwingt ihn mit einer unglaublichen Leichtigkeit, bevor er dem Manager der Boutique sagt, er solle die Sicherheitskräfte rufen. Meine Mutter zittert in meinen Armen am ganzen Leib. Und ich bemerke, dass ich bitterlich weine.

„Er wird dir nie wieder etwas tun, Mama …“, stöhne ich an ihrem Hals.

„Er wird uns nie wieder etwas zuleide tun, meine Süße.“

Vier Polizisten sind innerhalb weniger Minuten vor Ort und befragen uns sowie ein paar andere Zeugen. Nils benimmt sich so rührend gegenüber meiner Mutter, und flüstert ihr zu, dass sie ihre Ängste überwunden und dabei großen Mut gezeigt habe. Pascal wird in Handschellen nach draußen abgeführt. Als er an seiner Ex vorbeiläuft, gibt ihm diese eine schallende Ohrfeige und sagt:

„Nie wieder!“

Das ist das erste Mal, dass ich sehen konnte, wie meine Mutter gewalttätig wird. Ich weiß, dass es bestimmt das letzte Mal war. Dieser Schlag war vielmehr eine klare Aussage als ein Racheakt. Klar und deutlich. Mein Herz schwillt an vor Stolz. Ich verlasse das Geschäft mit diesem Kleid, ohne dass mich jemand aufgefordert hätte, es zu bezahlen, und dabei bin ich so nah bei Nils, dass unsere Haut sich fast berührt.