Valentine
„Tut mir leid, Prinzessin, das ist ein Notfall …“
Nils hat gerade seinen Panzer mit quietschenden Reifen direkt vor einem kleinen Haus mit weißer Fassade geparkt, bei dem die Farbe an den Fensterläden absplittert. Ich war noch nie in diesem Viertel und ich weiß nicht, was wir hier suchen. Das Einzige, was ich auf dem Weg hierher verstanden habe, ist, dass mein Leibwächter Mordgelüste hegt. Das Ziel: Samuel Torres, sein Bruder alias: „Derjenige, der bald keine Zähne mehr haben wird.“ Dieser war anscheinend beauftragt, sich um ein seltsames „Paket“ zu kümmern, aber er wollte lieber zwei Nächte woanders übernachten.
„Verdammter verantwortungsloser Kerl“, knurrt der Wikinger.
„Das hast du schon mal gesagt. Nächste Beleidigung?“, sage ich lächelnd und beobachte die leere Straße.
„Tut mir leid, dass ich dich hierhergeschleppt habe“, flüstert Nils.
Er öffnet die Tür und nimmt seinen Kram hervor (Telefon, Headset, Papier, das hier rumliegt, und ein paar andere nicht erkennbare Gegenstände). Er steckt alles in die Hosentasche, während ich ihn dabei heimlich beobachte. Seit unseres letzten „ungewollten Ausrutschers“ vor ein paar Tagen, bei dem eine gewisse Krawatte beteiligt war, hat er sein Verhalten nicht geändert. Aber ein Nils, der sich zweimal entschuldigt, ist wirklich nicht normal. Beinahe schon unheimlich. Er steigt aus dem Auto, dreht schnell eine Runde und fügt hinzu:
„Ich brauche nicht lange. Dreh das Fenster hoch und betätige die Zentralverriegelung.“
„Auf gar keinen Fall!“
Ohne ihn nach seiner Meinung zu fragen, springe ich nun auch aus dem Hummer und schlage die Tür hinter mir zu. Der Riese starrt mich an, als würde er zwei Möglichkeiten abwägen: mich schnell in das Fahrzeug zerren (mit Gewalt) oder sich ans Steuer setzen, um mich zu überfahren und mich ein für allemal loszuwerden. Anders gesagt: Er scheint recht sauer.
„Ich habe überhaupt keine Lust zu spielen, Valentine“, schimpft er. „Du solltest gar nicht hier sein. Eigentlich hätte ich dich jetzt schon nach Santa Monica fahren müssen.“
„Ich bin nicht zwölfeinhalb Jahre alt, kein Zapfenstreich, heute Abend habe ich nichts vor und ich kann keinen Scharfschützen weit und breit sehen, der mich gerade umbringen will. Ich möchte wirklich dieses ,Paketʻ entdecken.“
Daraufhin starte ich, gehe durch das kleine weiße Tor und schneide ihm dabei den Weg ab. Ich gehe Richtung Eingangstür, als er plötzlich seine große Hand um meine Taille schlingt und mich dabei zurückhält. Ich kämpfe, doch Nils drückt mich noch fester und schaut mich mit seinen grauen Augen an.
„Du bleibst jetzt bei mir“, befiehlt er mit seiner tiefen Stimme.
„Sonst was?“
„Ansonsten kann es sein, dass du gleich blutig am Boden liegst.“
„Hä?!“
„Ich habe nie gesagt, dass dieses Paket ungefährlich ist …“, schimpft er und sperrt die Tür auf.
Meine Neugierde steigt weiter (und meine Verwirrung auch), ich trete in das Haus ein und finde einen leeren großen Eingang, gefolgt von einem Wohnzimmer mit seltenen Möbeln mit komischem Geruch vor. Nils bedeutet mir, ihm auf Schritt und Tritt zu folgen, während er alle Fenster im Erdgeschoss öffnet.
„Willy!“, ruft er in Richtung des ersten Stockwerks. „Wo versteckst du dich, mein Dicker?“
„Der Wombat!“, rufe ich, als mir endlich ein Licht aufgeht. „Er ist das ‚Paket‘“?
„Du bist ja wirklich eine ganz Schlaue …“, flüstert der Riese. „Er ist sicher schon wieder in der Badewanne eingeschlafen. Ich gehe hoch, du bleibst hier.“
So wie es aussieht, wäre es sinnlos, ihn unbedingt begleiten zu wollen.
„Ah, ähm, Valentine?“, sagt er und dreht sich um.
„Ja?“
„Denk dran, was ich beim ersten Mal gesagt habe. Wenn du ihn siehst, sei nett zu ihm. Sehr nett …“
Ich weiß nicht, ob er es ernst meint, ich denke eher nicht, aber ich bin mir absolut nicht sicher. Jetzt läuft er ganz schnell die Stufen hoch.
„Soll das etwa ein Scherz sein? Nils? Nils!“
Keine Antwort.
Ich lehne mich an die Wand des Wohnzimmers und untersuche den Raum, während er sein wildes und ungezähmtes Tier holen geht. Genauso wie er. Plötzlich muss ich lachen, als ich mir vorstelle, wie Nils Eriksen einen Hamster oder einen Chihuahua in den Armen hält.
Das ist nicht das Thema, Valentine.
Aber trotzdem … Ein Chihuahua, der einen kleinen schönen Mantel trägt …
Ich setze meine Beobachtung fort. Ein Sofa aus abgetragenem Leder, ein Sessel (etwas unpassend), dessen Schaum hervorquillt, ein verbeulter Metalltisch, eine alte Holzkonsole, auf der ein Flachbildfernseher steht: Das ist das Einzige, was hier im Wohnzimmer von diesem Haus zu sehen ist. Es scheint alles aus einer Scheune oder einer verlassenen Fabrik gesammelt worden zu sein. Wenigstens scheint es sauber und geordnet. Ich lasse schnell den Blick über die weißen Wände schweifen, vom schlecht lackierten Parkettboden bis zur Fenstertür, die zu einem Garten führt. Im Obergeschoss kann ich Türen hören, die auf- und zugehen, und Nils’ ungeduldige Stimme.
In diesem Augenblick begreife ich, dass ich in diesem Raum nicht alleine bin. Dass zwei hervortretende Augen mich von ihrem Versteck aus hinter dem Sofa argwöhnisch ansehen. Ich schrecke auf und versuche, einen Schrei mit den Händen zu unterdrücken. Das Beuteltier (das sicher halb so viel wiegt wie ich) kommt aus seinem Versteck hervor, fletscht die Zähne und knurrt ziemlich feindselig.
„Nils!“, rufe ich (nicht zu laut, damit das Tier nicht erschrickt). „Nils, hörst du mich? Ich glaube, ich habe ihn gefunden …“
„Fass ihn nicht an“, befiehlt der Wikinger ganz ruhig, der schon auf der Treppe ist. „Bleib mit dem Rücken an der Wand und sieh ihm nicht in die Augen.“
„Er … er bewegt sich!“, kreische ich, während sich der kleine ausgehungerte Bär mir nähert.
„Willy, mein kleiner Freund, ich bin es!“, sagt Nils. „So empfängst du mich?“
Das haarige Monster hört auf, mich wie seine Beute zu betrachten, und setzt sich mit seinem dicken Hintern mitten ins Zimmer. Ich kann endlich aufatmen, während der Wikinger ihn zu zähmen versucht. Er beugt sich vor und streichelt ihn, aber das Tier mustert ihn scheel. Anscheinend hat er es nicht sonderlich geschätzt, dass man ihn ausgesetzt hat.
„Tut mir leid, mein Dicker, aber es ist Sam, den du auffressen musst und nicht sie …“
Ein paar Streicheleinheiten später liegt das Raubtier mit allen Vieren nach oben auf dem Rücken und schnurrt, als sein Herrchen es streichelt.
„Erst wild … und dann handzahm. Das erinnert mich an jemanden“, sage ich mit einem frechen Lächeln.
Nils beißt sich in die Wange, um sich das Grinsen zu verkneifen, dann öffnet er die Tür. Das Tier rennt hinaus und draußen kann ich den zerstörten Garten sehen, die Bäume sind umgeworfen, der Rasen abgefressen und eine Holzbank hat er halb angeknabbert. Sein Herrchen öffnet einen Beutel mit Früchten, die er mitgenommen hat, und verteilt sie überall.
„Er langweilt sich hier ein bisschen …“, erklärt er.
„Wir müssen ihm eine Gefährtin suchen“, sage ich unschuldig.
„Oder auch nicht“, schimpft Nils und geht zu ihm.
Seit zehn Minuten lässt er seinen Wombat laufen, der sicher nur einen einzigen Wunsch hat: sich in die Sonne zu legen, die Früchte aufzufressen und die restlichen Grashalme abzuknabbern. Ich lache laut, während der Riese sich direkt auf den Boden legt und sein kleiner Freund heiter auf ihm herumkugelt. Willy nähert sich mir mehrmals sehr vorsichtig, bevor er wie ein Wahnsinniger wegspringt. Dann nimmt er endlich den Apfel, den ich ihm reiche, und ich muss ganz fröhlich kichern. Was mir ein neuerliches, unfreundliches Grunzen einbringt.
Ich nehme ein Foto genau in dem Moment auf, als er seine kleine Zunge über seine große Nase führt, und ich kann nicht anders und muss Aina mittels Handy zum Kreischen bringen. Ich verschicke das Foto per MMS mit folgendem Text:
[Hinweis: Ich bin das Haustier eines gewissen Neandertalers. Wer bin ich und wo komme ich her? Aus Australien, aus dem Lummerland oder vom Mars?]
Mein Handy vibriert in der gleichen Minute.
[Wer denn? Das große haarige Ding (das ich streicheln möchte!) oder dein hübscher Mann mit Tattoos?]
[Das ist nicht MEIN hübscher Mann mit Tattoos …]
[Jaja … Von wegen …]
[Du hast gewonnen. Kein Wombat mehr. (Auf dem nächsten Foto hat er dich angelächelt!)]
[Verzeihung! Das nehme ich wieder zurück! Das will ich sehen!]
Ich schicke ihr gleich das Bild des kleinen Tieres (das nicht wirklich lächelt, aber das ein Stück Apfel zwischen den Zähnen hält, was es dazu bringt, die Lefzen hochzuziehen) und sehe zu Nils, der gerade von seiner Reise im Garten zurückkommt. Er strahlt förmlich und hat leicht zerzauste Haare und scheint viel entspannter, seitdem er eine Viertelstunde mit seinem dicken pummeligen Murmeltier herumgetobt hat.
„Er hat sich richtig ausgetobt und er hat genügend gefressen, wir können gehen.“
„Werden wir ihn alleine lassen?“, frage ich besorgt.
„Sam hat geschworen, dass er morgen nach Hause kommt, um sich um ihn zu kümmern“, flüstert der Blonde. „Warum? Willst du einen neuen Mitbewohner?“
„Wenn es wirklich sein muss …“
„Willy muss nicht in einem Prinzessinnenschloss leben. Es ist ein einsames Tier, das 20 Stunden am Tag schläft. Und das hier ist sein Unterschlupf, hier ist er zu Hause. Lass uns los!“
Als wir das kleine Haus von Sycamore Avenue verlassen, ist der Wombat schon auf dem Sessel eingeschlafen, er liegt auf dem Rücken, sein dicker Bauch droht zu platzen.
„Und dazu hat er auch noch die Schlafkrankheit!“, sage ich lachend und folge Nils bis zum Hummer.
„Pass auf, was du über ihn sagst“, betont mein Leibwächter lächelnd mit einer aufgesetzt drohenden Miene. „Wenn du dich mit Willy anlegst, dann legst du dich auch mit mir an …“
„Das ist so süß“, witzle ich. „Papa-Bär fährt die Krallen aus …“
„Steig ein, zieh deinen Gurt an und halt den Mund“, grummelt der Barbar.
„Okay, jetzt erkenne ich dich wieder“, sage ich ganz zufrieden.
Immer das letzte Wort haben, immer!
***
Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Aber ganz und gar nicht.
Es ist nicht leicht zu verstehen, was sich im Kopf von Nils Eriksen abspielt. Seit unserer letzten Begegnung in Madagaskar habe ich mindestens dreimal mit dem Wikinger geschlafen. Nur dreimal: ein sehr vernünftiger Schnitt, doch alles andere ist nicht so eindeutig. Ich habe zig Milliarden Male von ihm geträumt, von seinen heißen Küssen und an seine starken Lenden gedacht. Ich habe fast jede zweite Nacht von ihm geträumt. Seine schlechte Laune und seine Manieren wie die eines Höhlenmenschen den Rest der Zeit ertragen … Dann habe ich mich daran gewöhnt. Bis ich manche von seinen schlechten Angewohnheiten sogar charmant fand.
Vorsicht Gefahr!
Das ist unbeschreiblich. Seine Allgegenwärtigkeit (die er allerdings unauffällig gestaltet), sein ständiger Atem auf meinem Rücken oder seltener seine Hände auf meiner Haut: Ich versuche bloß, nicht daran zu denken, wohin uns das alles führt. Mit ihm gibt es keinerlei Versprechen, keine Zukunft, bloß unendlich viel Nervenkitzel, den ich nicht vergessen kann. Auch wenn Milo es versucht, lasse ich ihm manchmal noch eine Chance, doch das verlangt mir recht viel Mühe ab und er bringt es einfach nicht. Sein schönes Gesicht, seine guten Manieren und seine große Zukunft regen mich nicht mehr an. Ich kann mich nicht verstellen, ich kann einfach nicht mit ihm schlafen. Es fällt mir auch schwer, ihn zu küssen. Es gibt nur noch meinen Leibwächter, der in mir dieses Feuer entfachen kann.
Nils ist ungestüm, frei und unberechenbar. Das ist eine unserer Gemeinsamkeiten. Unsere körperlichen Berührungen sind einfach von unglaublicher Intensität. Abgesehen davon küssen wir uns nicht. Wir wohnen unter dem gleichen Dach, ohne zusammen zu sein. Wir leben zusammen, respektieren dabei die jeweilige Privatsphäre des anderen. Manchmal verrät mich schon eine Bewegung, ein Blick oder ein Wort. Mein Verlangen nach ihm und meine Neugierde machen sich wieder bemerkbar, bis ich sie zum Schweigen bringe. Bei ihm ist es nicht anders: Eine Berührung auf dem Nacken, eine Hand auf meinen Lenden, ein Lächeln ohne Hintergedanken. Kleine aufmerksame Gesten, sanfte und spontane Berührungen, die ich nicht immer zu deuten weiß.
Oder die ich nicht interpretieren möchte …
Mein Leibwächter flucht wegen des Straßenverkehrs, der zu dieser Uhrzeit herrscht, ich reiche ihm einen Apfel, damit er sich beruhigt.
„Du hältst mich wohl für einen verfluchten Wombat?“, murmelt er ablehnend.
„Nein, das war bloß, damit ich dich nicht mehr hören muss …“, flüstere ich, bevor ich in die Frucht beiße.
Er nimmt mir den Apfel aus der Hand und beißt auch hinein, sogleich ist dieser nur noch halb so groß. Ich möchte ihm am liebsten aus Rache in den Arm beißen, aber mein iPhone vibriert in der Hosentasche meiner schwarzen Jeans. Ich schnappe mir das iPhone und entdecke eine ungelesene SMS:
[Sag mir bloß nicht, dass du mich wieder vergessen hast …]
„Verdammt!“, schreie ich. „Scheiße, scheiße, scheiße!“
„Was?“, fragt Nils und bremst plötzlich.
„Milo! Ich soll mit ihm in … vier Minuten essen.“
„Sag ihm ab“, sagt Nils schulterzuckend.
Sein Blick ist starr, ruhig, auf die Straße gerichtet, aber seine Hände sind leicht auf dem Lenkrad angespannt.
„Unmöglich, ich habe ihm schon beim letzten Mal abgesagt“, erinnere ich mich. „Ich bin so ein Idiot!“
„Vielleicht ist das ein Zeichen?“, murmelt er.
„Was?“
„Nichts.“
„Gut, ich verschiebe es um 30 Minuten, aber vergiss Santa Monica! Wir gehen ins Summer nach Beverly Hills. Und jetzt gib Gas!“
***
Milo sitzt schon am Tisch, auf der blauen Sitzbank vom Privatsalon, als ich ihn mit … 49 -minütiger Verspätung erreiche. Der Dandy trägt einen Markenanzug und hat die Haare zu einem Seitenscheitel gekämmt, er scheint weder meine Unpünktlichkeit noch den Norweger, der mich begleitet, zu schätzen. Dann stellt er sich unauffällig ans andere Ende des kleinen Raums.
„Hättest du deinen Wachhund nicht draußen lassen können?“, flüstert er und küsst mich.
„Milo!“
„Wie ein jeder Wachhund habe auch ich ein sehr gutes Gehör, Herr de Clare“, sagt Nils in einem kalten Ton. „Und ich werde um keinen Millimeter weichen.“
„Soll ich ihn etwa auch noch füttern?“, antwortet der Dandy bitter.
„Nein, ich habe heute schon zehn von deiner Sorte aufgefressen“, lächelt der blonde Riese kalt.
„Und wenn wir versuchen würden, uns wie Erwachse zu verhalten?“, schlage ich lachend vor, da es mir furchtbar peinlich wird.
„Dafür müsste man einen IQ von mehr als zwölf haben …“, lacht Milo.
„Und Eier in der Hose“, widerspricht Nils.
„Um Gottes willen! Könnt ihr nicht noch zehn Minuten für den Penisvergleich abwarten, ich möchte vorher noch ein paar Tempuras bestellen …“, seufze ich und setze mich.
Eine Stunde vergeht und immer noch kein Drama (oder irgendeinen komischen Vergleich). Milo hat gebeten, dass man Jazz-Musik in unserer kleinen Ecke auflegt, damit mein Leibwächter nicht all unsere Gespräche mithört. Dieser beobachtet mich, überwacht zugleich die Tätigkeiten von SAFE und jongliert mit iPhone, Tabletts und Handys.
„Komm ein paar Tage zu mir, Valentine“, sagt Milo beharrlich. „Ich kann dich beschützen. Und dieser Kerl kann wieder dorthin verschwinden, wo er hergekommen ist … Weit weg. Sehr weit weg von hier.“
„Dieser Typ hat mir zweimal das Leben gerettet. Und Darren hat ihn eingestellt, nicht ich. Ich hatte dabei nichts mitzuentscheiden.“
„Das ist ja ganz was Neues“, spottet der Dandy.
„Verzeihung?“
„Wenn du ihn wirklich loswerden willst, dann könntest du das und das weißt du.“
„Ihn umbringen, meinst du wohl? Ich habe schon daran gedacht …“, scherze ich.
„Nein. Ihn nur entlassen, aber anscheinend kannst du ohne ihn nicht leben.“
„Was willst du damit sagen?“, frage ich ungeduldig.
„Nichts.“
Der hübsche Braunhaarige wirft mir einen Blick zu, den ich nur schwer deuten kann, dann hebt er sein Champagnerglas, damit wir anstoßen.
„Lass uns alles vergessen. Und nicht mehr über ihn reden … Reden wir über uns.“
„Uns?“
„Ich glaube immer noch daran, Valentine. Ich bin immer noch da …“
„Und ich weiß, dass es viele gibt, die dir hinterherlaufen“, sage ich lächelnd, dabei weiß ich genau, worauf er hinauswill. „Milo, ich habe dir nichts versprochen.“
„Ich weiß. Aber ich bin sehr hartnäckig. Und ganz entschlossen“, sagt er lächelnd.
Wenn ich mit seinen Gefühlen gespielt hätte, dann hätte ich mir in dem Augenblick auch Vorwürfe machen sollen. Aber das ist nicht der Fall. Ich war schon immer sehr ehrlich all meinen Exfreunden gegenüber, auch wenn ich dabei vielleicht zu ehrlich war: Ich binde mich und löse mich dann so schnell wie ich will, wann immer ich will, und ich suche weder nach der großen Liebe noch nach dem perfekten Mann. Milo hat es schon immer gewusst. Wir sind zusammen ausgegangen, wir haben miteinander geschlafen, nicht mehr und nicht weniger. Er hofft, dass es wieder geschieht und bei mir wieder funkt? Ja. Die Wahrscheinlichkeit? Sie tendiert gegen null. Vor wenigen Monaten hätte ich noch behaupten können, dass ich ihn mag und mir mit ihm eine gemeinsame Zukunft vorstellen kann. Doch das ist vorbei. Was mich nicht daran hindert zu denken, dass Milo de Clare ein guter Kerl ist.
„Für mich reicht die Zukunft nur bis morgen“, wiederhole ich liebevoll.
„Das ist ja auch schon was. Heißt das, dass du mich ins Black Gala in … 22 Stunden begleitest?“
„Das hatte ich ganz vergessen …“, sage ich ganz zerknirscht.
„Das ist ja nett.“
„Ich werde da sein! Um wie viel Uhr etwa?“
Ich beiße in ein Tempura und höre dabei abwesend den Worten des „idealen Schwiegersohns“ zu (um mit den Worten dieses lieben Darrens zu sprechen, der vielleicht noch viel größere Hoffnung in uns setzt als Milo selbst). Mein Blick schweift nach rechts ab, dort wo Nils breitbeinig mit den Ellbogen auf den Knien sitzt und die Anrufe seines Personals beantwortet. Und ich versuche, all die dummen und unsäglichen Gedanken zu vertreiben, die mir durch den Kopf gehen.
Der Wikinger … der mich mit den Augen verschlingt …
***
Mit der Einladung in der Hand fächle ich mir etwas Luft zu, in der Hoffnung, dass mein Make-up nicht zerläuft. Die Klimaanlage funktioniert in der Limousine, aber ich habe mich gerade hingesetzt und es wird einfach nicht kühler.
„Es ist sehr heiß für den ersten März, Frau Cox“, sagt Ted lächelnd und hebt seine Mütze zum Gruß. „Fast schon 30 Grad!“
Seine nassgeschwitzten Haare sind ganz auf seinen Schädel geklebt. Ich nicke lachend und atme ganz erleichtert auf, als ich spüre, wie die Klimaanlage mich abkühlt. Mein Leibwächter steigt zu mir ins Auto und Ted kann losfahren.
„Ich werde dich heute Abend eine Weile verschnaufen lassen“, sagt Nils, nachdem er dem Fahrer die Adresse genannt hat. „Es werden so viele Promis da sein, dass ein riesiger Sicherheitsdienst nötig ist.“
„Bist du etwa Wahrsager?“
„Nein. Ich erledige einfach nur meine Arbeit gut.“
„Und dazu noch bescheiden …“, sage ich lächelnd und zupfe an meinem schwarzen Kleid.
„Und ich habe bereits den Veranstalter benachrichtigt“, fügt er hinzu, als würde er meine letzte Bemerkung ignorieren.
Nils verbringt den Rest der Fahrt damit, auf seinen beiden Handys zu tippen, und als er den Kopf hebt, sieht er mich verdachtsvoll an:
„Gibt es ein Problem?“
„Nein, es gibt keines“, antworte ich lachend.
„Warum schaust du mich so an?“
„Weil du einen schwarzen Anzug trägst.“
„Das ist ja das Motto des Abends. Und weiter?“
„Also … du bist … hmm … er steht dir wirklich gut …“, sage ich und laufe dabei rot an.
„Danke“, sagt er und verkneift sich dabei ein Lächeln (erfolglos allerdings).
Ich drehe meine roten Wangen zum Fenster und beschimpfe mich innerlich: „Du bist … hmm … er steht dir wirklich gut …“?! Ich Idiot. Ich hätte auch einfach sagen können: „In vier Stunden werde ich dir eine Freude bereiten. In deinem schwarzen Anzug. Oder besser gesagt ohne.“ Dabei habe ich allerdings seinen Anzug gelobt und nicht ihn. Ich dumme Gans.
„Fällt dir keine andere Antwort ein?“, frage ich plötzlich und kreuze dabei meine nackten Beine.
„Dein Kleid ist zu kurz“, sagt er, ohne dabei seine Augen vom Handy zu lösen.
„Entschuldigung?!“
„Dein – Kleid – ist – zu – kurz“, wiederholt er mit Grabesstimme.
„Das kann dir ja wohl egal sein, oder?“
„Deine Sicherheit ist meine Priorität. Es wäre mir lieber, du würdest heute Abend nicht alle Blicke auf dich ziehen. In diesem Kleid ist das nicht der Fall.“
„Ich werde mich damit abfinden und mir einfach einreden, dass darin ein verstecktes Kompliment lag …“, sage ich schmollend.
Betretenes Schweigen. Die Limousine fährt über einen Buckel. Nils richtet wieder seine Krawatte.
„Es gibt keine schöneren Frauen als dich, Valentine“, flüstert er plötzlich und starrt vor sich hin, als wolle er meinem Blick ausweichen.
Aber sein kleines verschmitztes Lächeln ist mir nicht entgangen.
Okay … atmen … tief durchatmen, haben wir gesagt!!
Ich brauche einen Feuerlöscher!
***
Milo steht schon in den Startlöchern, er läuft auf dem roten Teppich auf und ab, um mich zu empfangen, sobald ich aus der Limousine steige … Genauso wie Aina, die nicht weit von dort von einem Fuß auf den anderen tritt. Als ich die Geheimniskrämerin sehe, die sich mit ihrem Abendkleid förmlich auf mich stürzt, wende ich mich zu Nils und sehe, dass etwas nicht stimmt:
„Toller Informant!“, flüstere ich dem hübschen Wikinger zu, bevor ich meine beste Freundin umarme.
Diese umarmt mich so fest, dass mir unter den Blitzlichtern der Fotografen die Luft wegbleibt.
„Ich wollte dich überraschen!“, gluckst Aina. „Danke, du Sexy-Leibwächter!“
„Ich habe einen Vornamen“, seufzt der Riese und flieht vor dem red carpet.
„Und ich habe einen Termin mit der hübschesten Frau des Abends“, sagt Milo, der mich hartnäckig und sehr besitzergreifend umschlingt.
Aina hat die Nachricht begriffen und geht ein paar Schritte zurück. Milo schenkt ihr sein schönstes Lächeln und den Fotografen sein gekonntestes Wimpernzucken. Er hindert mich beinahe am Atmen, so wie er mich an sich drückt. Ich versuche, es ihm diskret zu verstehen zu geben, doch er ignoriert mich.
„Langsam, De Clare!“, schimpft Nils, der fünf Meter weiter steht.
„Hält dieser Kampfhund jetzt bald die Klappe?“, grummelt mein Begleiter und drückt mich noch fester.
„Lass mich los, Milo, du tust mir weh.“
„Warte, noch ein paar Fotos!“
„Lass mich los, wenn du nicht willst, dass jemand dich zeugungsunfähig macht!“, widerspreche ich ganz leise und befreie mich aus seinen Armen.
Ich greife schnell nach Ainas Hand und gebe Nils ein Zeichen, dass es für mich an der Zeit ist, in den großen Raum mit schwarzer Tapete zu gehen. Dieser hat keinerlei Einwände, anscheinend passt ihm diese Programmänderung. Er stimmt zu, läuft einige Meter vor mir her und kann gar nicht anders, als jeden zu beobachten, dem ich begegne. Allerdings fehlt es hier nicht an Leibwächtern. Milo fängt mich im Flur ein und versucht, sich zu entschuldigen, doch ich jage ihn zum Teufel und sage ihm, dass er den Rest des Abends ohne mich verbringen soll.
„Du bist meine Begleiterin!“, protestiert er.
„Was willst du überhaupt, sie hat etwas Besseres gefunden!“, lächelt Aina, als spräche sie von sich aus. „Jemanden, der ihr nicht die Rippen bricht!“
„Ich muss dir etwas sagen! Das ist wichtig“, sagt er beharrlich und ignoriert dabei meine Freundin.
„Milo, du musst damit aufhören, so besitzergreifend zu sein“, sage ich ganz ruhig. „Da muss ich vor dir fliehen …“
Enttäuscht verschwindet der schöne Braunhaarige. Nils entfernt sich auch, damit ich etwas mehr Freiheit habe. Mit einem letzten Blick versichert er sich, ob ich auch alles im Griff habe. Ich nehme ein Glas Champagner an. Aina beginnt den Abend mit Wodka und wir machen uns daran, all diese wichtigen, schönen Leute zu entdecken, die sich schwarz gekleidet haben, um den Armen zu helfen. Ich lege einen dicken Scheck im Namen des Cox-Konzerns in die Spalte des Safes. Dann fange ich an, mit Milo und Darren ein Versteckspiel zu spielen, und unterhalte mich mit einem gewissen Tim (TV-Moderator eines aufstrebenden Fernsehsenders), dann mit einer gewissen Heather (die ich schon bei einer älteren Fernsehserie gesehen habe). Aina allerdings spricht über Umweltschutz wie eine Weltmeisterin (vor allem mit denjenigen, die sich genauso wenig darum scheren wie um ihren ersten Ferrari) und sie macht dem muskulösen Kellner schöne Augen.
Die Atmosphäre im großen Raum mit riesigen Kronleuchtern ist ganz locker. Sanfte Musik umhüllt hunderte von Stimmen, die sich vermischen, und Gläser mit Auslese-Champagner werden von den Gästen geleert. Ich bin von der Pracht dieser Wohltätigkeitsgala noch immer ganz erstaunt, die eher dazu gedacht ist, Gelder zu sammeln als welche auszugeben.
Ich suche oft Nils mit den Augen und kann ihn jedes Mal sehen, wie er sich mit erstaunlichen Menschen unterhält. Prominente Gäste, die ihn anscheinend kennen und schätzen. Personen aus der High Society. Politiker und Milliardäre. Charles d’Orléans alias Charlie, zum Beispiel, ein Diplomat von königlichem Blut mit einer engelsgleichen Schönheit, den ich in Begleitung meines Vaters gesehen habe. Die beiden Männer scheinen sich sehr nahe zu stehen, wenn ich die Umarmungen der beiden richtig deute.
Sie dürfen raten, welcher dieser beiden den Körperkontakt scheut …
Obwohl … es kommt drauf an mit wem …
„Komm, lass uns nach deinem Kerl suchen!“, sagt Aina, nachdem sie der sehr beschäftigte Kellner abgehängt hat.
„Ich habe keine Lust, mit Milo zu reden“, sage ich und leere mein Glas.
„Ich spreche von Nils, du Dummerchen!“
„Auch nicht“, sage ich lachend und spüre, wie der Alkohol mir ganz leicht die Sinne benebelt.
In diesem Augenblick unterbricht uns der Wikinger, während er mich dabei streng ansieht.
„Du müsstest vielleicht etwas zu dir nehmen, Valentine …“
„Das habe ich schon getan!“, sage ich lächelnd und hebe mein leeres Glas.
„Etwas Essbares“, flüstert er und gibt dem Kellner ein Zeichen.
Ein Plateau mit belegten Brötchen landet zuerst in den Händen meines Leibwächters, dann in meinen Händen und ich habe gar keine andere Wahl, als mich mit Kaviar belegten Blinis zu ernähren. Nils sieht mir lächelnd beim Kauen zu.
„Du hast bei De Clare gut reagiert …“, flüstert er mir zu. „Auch wenn ich ihn höchstpersönlich eines Tages zeugungsunfähig gemacht hätte.“
„Kaviar!“
Ich springe auf und erkenne den berühmten Charlie, der wenige Meter von uns entfernt steht. Er bewegt sich auf uns zu und schielt auf meine Blinis.
„Legen Sie los“, sage ich lächelnd und reiche ihm die Platte. „Ich heiße …“
„Valentine Cox! Ich kenne ihren Vater.“
„Valentine Laine-Cox“, füge ich lächelnd hinzu, als er mir die Hand küsst.
„Ich wusste nicht, dass Nils so … vorzügliche Bekanntschaft hat“, fügt der Aristokrat mit einem sehr ansteckenden Lächeln hinzu und wirft einen Blick auf mich und auf Aina.
„Ganz unsererseits“, sagt meine beste Freundin lachend und verbeugt sich leicht, sodass man fast glauben könnte, sie würde stolpern.
„Wolltest du eigentlich nicht deinen Thron zurückerobern, Charlie?“, murmelt Nils und verdreht die Augen.
„Eriksen!“, sagt eine andere Männerstimme. „Was tust du denn hier?“
Ich drehe mich erneut um und entdecke Roman Parker, dessen Ruf ich vom Hörensagen kenne. Wenn ich mich recht erinnere, dann klang das so: „Junger, geheimnisvoller Milliardär, der so schön ist, dass einem gerade der Atem stocken könnte und dessen Vergangenheit voller Schattenseiten ist.“ Andere Bezeichnung: „Fleischgewordene Vollkommenheit.“ Es sind die Artikel in der Presse, die das behaupten, und nicht ich.
Ich muss wirklich damit aufhören, beim Zahnarzt die Klatschpresse zu lesen …
Während Aina und Charlie auf der Suche nach einem weiteren Champagnerglas sind, schubst Roman liebevoll den Wikinger an und die beiden Männer schütteln sich kräftig die Hände.
„Valentine, darf ich dir Roman Parker vorstellen, der auch als Veranstalter für den Abend zuständig ist. Roman, die Prinzessin, auf die ich aufpassen muss …“
„Valentine Laine-Cox“, sage ich und reiche dem Milliardär die Hand zum Gruß. „Tut mir leid wegen meines Leibwächters, er ist Gesellschaft nicht gewohnt. Es fehlen ihm noch ein paar Stunden in Sachen zwischenmenschlicher Beziehungen …“
„Ein paar Stunden? Sie sind sehr großzügig!“, sagt Parker lachend.
„Ich werde mir etwas zu trinken holen“, grummelt Nils und verschwindet.
Ich folge seiner Gestalt mit den Augen und stoße auf Aina, immer noch in Begleitung von Charlie d’Orléans, der genügend Kaviar gegessen hat und nun in meine beste Freundin verliebt scheint. Trotz meiner ständigen Neugier fällt mein Blick wieder auf Nils. Wen sonst …?
„Er ist nicht gerade einfach, aber er ist einfach der treueste Mensch, den ich kenne“, gesteht Roman und folgt ebenso dem Riesen mit den Augen.
„Er hat viele Freunde, die anscheinend sehr an ihm hängen. Das ist ein gutes Zeichen“, sage ich und beobachte ihn. „Und ich lerne ihn nach und nach besser kennen …“
Wir betrachten uns einen Moment lang, dieser Milliardär und ich, und lächeln uns an.
„Ich bin ganz überrascht, dass er noch Zeit hat, über Sie zu wachen“, fügt er hinzu.
„Mit SAFE hat er viel zu tun, aber ich glaube, dass er es schafft.“
„Ja, er ist ein Arbeitstier. Er arbeitet auch nachts für unser Geschäftsprojekt für Notverbände. Aber das Geschäft läuft gut … Die Nachfrage nimmt immer mehr zu!“
„Nils Eriksen, ein Geschäftsmann?“, flüstere ich, um mich davon zu überzeugen.
„Unser Freund steckt voller Überraschungen, Fräulein Cox. Und meiner Meinung nach sind Sie mit Ihrer Bewunderung noch nicht am Ende …“
Eine Milliarde Fragen brennen mir auf den Lippen, aber eine sehr hübsche rothaarige Frau spricht uns an und küsst plötzlich Parker.
„Amy, meine wunderschöne Frau, die ihr Revier markiert“, sagt Roman lachend und stellt sie mir vor (während er ihr dabei die Hände auf den Po legt).
„Freut mich sehr“, sage ich und reiche ihr die Hand. „Ich bin …“
„Mein kleiner Schützling“, sagt Nils ganz ironisch, bevor er Amy auf die Wange küsst.
„Aaah … die Berühmt-berüchtigte“, sagt die Rothaarige lächelnd.
„Eine Berühmte-berüchtigte was …?“
„Das reimt sich auf ‚-igte‘“, sagt der Wikinger lächelnd (den ich am liebsten Ohrfeigen möchte).
Die drei Freunde unterhalten sich ein paar Minuten lang, ohne dass mir dabei gewisse Gedanken aus dem Sinn gehen. Wenn Nils einen sehr guten Lebensunterhalt verdient, wieso fühlt er sich gezwungen, für mich den Leibwächter zu spielen? Warum setzt er seine anderen Tätigkeiten aufs Spiel, die sehr viel mehr einbringen (und wohl auch interessanter sind)? Warum bürdet er sich das auf, mit mir unter einem gemeinsamen Dach zu leben und sich dabei von seinem Bekanntenkreis abzuwenden?
Ich versuche, mein Gehirn auszuschalten; unmöglich. Es grübelt, es raucht und es denkt nach. Zwei Minuten später bin ich schon fast davon überzeugt, dass Nils in mich verliebt ist, aber dass eine lebensbedrohliche Krankheit ihn daran hindert, es mir zu gestehen. Ein Unding. Wirklich. „Das passiert nur in Filmen.“ Dieser Irrsinn dauert nur 30 Sekunden.
Ich betrachte ihn in seinem schwarzen Anzug mit einem unwiderstehlichen Lächeln auf den Lippen.
Wenn ich so weitermache, werde ich mich noch in Flammen auflösen …
Das Geheimnis Namens Nils muss noch etwas warten, im Augenblick muss ich bloß Aina wiederfinden und ein großes Glas Wasser trinken!
Ich reiße mich aus meiner Betrachtung heraus und verlasse die Gruppe, entschuldige mich höflich und gehe auf die Suche nach Aina. In der Nähe des Orchesters finde ich Charlie.
„Haben Sie vielleicht meine Freundin gesehen? Wissen Sie …“
„Sie ist mir leider entkommen“, flüstert der junge Mann. „Sie hat ein paar Schweizer Geschäftsmänner getroffen, glaube ich. Sie waren daran interessiert, eine nachhaltige Nutzung von Rosenholz zu betreiben oder etwas in der Art. Ich habe gehört, wie sie über Fahndung nach Schmugglern sprachen …“
„Ich verstehe, danke. Geschäfte mit Rosenholz sind ziemlich gewinnbringend!“, sage ich lächelnd und suche sie immer noch mit dem Blick.
Nach gut fünf Minuten finde ich sie endlich wieder, mitten in einem Kreis von zehn Frauen und Männern, die an ihren Lippen hängen. Ich denke, sie erzählt von unserer Entführung und geht dabei auf sehr pikante Details ein … Das ist typisch Aina: Man mag sie oder man hasst sie einfach.
„Valentine?“
Ich kann eine vertraute Hand auf meiner Schulter spüren, ich schrecke auf: Milo steht vor mir, ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen.
„Wir werden ein anderes Mal darüber sprechen, Milo.“
„Es ist nicht das, was du denkst“, sagt er beharrlich und stellt sein leeres Glas auf eine Platte, die vorbeigereicht wird. „Noch einen On the rocks!“
„Milo …“
„Hör zu! Ich habe einen Privatdetektiven angestellt …“
„Einen Privatdetektiven? Was denn noch alles? Willst du damit etwa sagen, dass du eine Überwachungskamera bei mir versteckt hast? Du fängst an, mir Angst zu machen …“
„Das war nicht deinetwegen, sondern wegen Nilsen!“
„Eriksen“, seufze ich. „Und Weiter?“
„Du musst ihn loswerden, Valentine. Jetzt sofort … Das wollte ich dir vorher mitteilen! Dieser Kerl ist gefährlich.“
Der Dandy löst seine dünne schwarze Krawatte und sieht mich lächelnd an. Er scheint etwas mitgenommen und sehr stolz auf sich selbst. Vielleicht etwas zu sehr.
„Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit, Milo …“
„Ich habe dir gesagt, dass ich dich beschützen werde.“
„Was hast du herausgefunden?!“
„Er mag anscheinend reiche Frauen, dein Gorilla. Du bist nicht die Erste, der er schöne Augen macht …“
Ich balle die Fäuste zusammen. Hat Nils mich etwa die ganze Zeit ausgenutzt?!
„Bist du dir dessen sicher?“
„Mein Privatdetektiv ist ein Profi, Valentine. Wenn ich jetzt mit dir darüber rede, dann nur weil er Beweise hat.“
Ich möchte am liebsten gleich losweinen. Ich hätte wissen müssen, dass er nicht der Richtige für mich ist: gefährliche Rettungsaktionen, meine Mutter, die ihn anhimmelt, der Fausthieb in Pascals Gesicht … Wie hatte ich auch nur eine Sekunde daran denken können, dass ein Mann wie er so selbstlos sein kann?
„Bloß, dass es letztes Mal schlecht endete“, fügt Milo hinzu. „Sehr schlecht sogar.“
„Und wieso?“, frage ich zitternd.
Der Kellner kommt zu uns und reicht Milo ein Glas. Ein Schaudern läuft durch meinen Körper, ich starre meinen Gesprächspartner an, während er seine Lippen in die gelbe Flüssigkeit taucht. Mein Kopf ist ganz leer. Das Stimmengewirr verschwindet und die Menge löst sich auf.
„Ein Problem?“
Ich zittere, als ich die raue Stimme des Wikingers höre, und sogleich spüre ich die Wärme seiner Hand auf meinem Nacken.
„Verschwinde, du Geisteskranker!“, widerspricht der Dandy und stellt sich zwischen uns, um mich zu beschützen.
Absolut nicht eingeschüchtert lacht Nils höhnisch, als er sieht, wie Milo sich brüstet.
„De Clare, hör auf zu trinken, und geh nach Hause.“
„Sie hat es verdient, die Wahrheit zu erfahren!“
„Welche Wahrheit denn?“, frage ich schließlich ganz fieberhaft.
Roman Parker kommt nun auch zu uns, der wohl durch unser Geschrei aufmerksam geworden ist.
„Reiche Erbinnen, das ist wirklich dein Ding, Eriksen, oder?“
„Du weißt nicht, wovon du sprichst …“, knurrt Nils ganz bedrohlich. „Geh und spiel mit deinen schönen Autos.“
Seine Worte klingen scharf wie ein Messer. Ich habe ihn schon wütend gesehen, aber noch nie so sehr. Ich beobachte sein Gesicht, seinen Blick, seine Körpersprache und etwas stört mich dabei. Meine Augen fallen auf Roman Parker und ich spüre sogleich, dass er sich unwohl fühlt.
„Seltsam, dass die Letzte gestorben ist …“, wiederholt mein Ex. „Ermordet. Eine seltsame Geldsache, oder?“
„Was?“, frage ich zitternd.
Ich atme ein und aus. Und versuche, nicht in Panik zu geraten. Milo ist jemand Ehrliches, er hat mich bisher noch nie belogen, aber … Nils, ein Mörder?
„Was ist mit dieser Frau geschehen?“, frage ich meinen Leibwächter zitternd.
„Das Haus ist abgebrannt“, antwortet Nils, ohne mit den Augen zu zucken.
„Und?“, frage ich beharrlich.
„Und den Rest der Geschichte brauchst du nicht zu kennen …“, sagt er ganz kalt.
Der Wikinger wirft einen letzten Blick auf Milo, dann beschließt er, es sei an der Zeit zu verschwinden. In Begleitung von Roman dreht er sich um und geht Richtung Ausgang.
„Valentine, mach deine Augen auf, verdammt! Er versucht es noch nicht einmal abzustreiten! Du hast diesem Kerl die Tür geöffnet, du hast ihm dein ganzes Leben anvertraut, ohne irgendetwas über ihn zu wissen!“
Meine Augen folgen Nils, als dieser sich entfernt. Gleichermaßen intensiv wie charismatisch. Der Mann, dem ich mein ganzes Vertrauen geschenkt habe. Jetzt gerade weiß ich gar nichts mehr. Ich habe keinerlei Gewissheit mehr.
Fortsetzung folgt!
Verpassen Sie nicht den nächsten Band!