Valentine
Als ich am nächsten Morgen die Augen öffne, ist die Sonne gerade aufgegangen, doch Nils ist bereits verschwunden. Umso besser; als ich ihn gestern Abend mit freiem Oberkörper gesehen habe, wurde ich beinahe schwach … Er hat seine Decken zusammengefaltet und ich kann hören, wie er am Telefon über Hubschrauber und einen Treffpunkt im Wald spricht. Die Verbindung scheint ganz schlecht, er spricht langsam und deutlich, er wiederholt alles mehrmals, bevor er schließlich sagt, er gebe ihnen die geografischen Koordinaten per SMS durch. Er hat eine schöne, angenehme, tiefe Stimme.
Gestern bin ich in einen tiefen Schlaf gesunken, sobald ich neben ihm lag, und habe wie ein Stein geschlafen. Ich richte mich auf, um mich durch die zerstörte Windschutzscheibe des Pick-ups umzusehen, und bemerke, dass Samuel und Aina noch schlafen. Ich taste meinen Hals mit den Fingerspitzen ab: Die oberflächliche Schnittwunde ist bereits verheilt. Allerdings habe ich mir das Handgelenk verstaucht, ich weiß aber weder wann noch wie das passiert ist. Gestern hat es nur leicht geschmerzt, heute tut es dagegen sehr weh. Geschwollen, heiß und etwas rot. Da ich keinen Kratzer und keine Wunde an meinem Gelenk sehen kann, gehe ich davon aus, dass ich nicht sterben werde. Es ist aber dennoch schmerzhaft.
Ein Wassertropfen, der etwa so dick wie eine Murmel ist, tropft mir auf die Nase, bald folgen noch weitere. Noch in die Decken gewickelt stehe ich rasch auf und setze mich wieder an meinen Platz im Pick-up, um eine Leinenhose anzuziehen, die mich vor Mückenstichen schützt. Nils zieht schnell wieder die Plane über die Ladefläche, ohne dass Samuel oder irgendjemand überhaupt daran denkt, ihm dabei zu helfen. Wir sind alle noch etwas benommen, schlaftrunken und haben Muskelkater, nur er nicht. Es ärgert mich schon fast, ihn so munter zu sehen, zumal wir anderen uns wie Wracks fühlen; schließlich ist es aber doch sehr anregend, ihm zuzusehen, wie er sich unter dem sintflutartigen Regen an die Arbeit macht. Okay, das zeugt zugegebenermaßen nicht von großartiger Hilfsbereitschaft … aber es ist ein wunderbarer Anblick, das kann ich euch sagen. Ich werde ihm nicht so schnell verzeihen, dass er gelauscht hat, als ich Aina persönliche Dinge anvertraut habe, und Rache ist süß, egal welche. Ja, zugegeben, es ist etwas gemein, aber ich stehe dazu.
Ich ahne schon, dass er gleich schimpft und schreit, damit wir ihm helfen, aber er lädt unsere Ausrüstung in den Wagen, ohne dass ihn der Regen dabei zu stören scheint. Dennoch fordert er Samuel auf, aus dem Wagen zu steigen und das Metallgitter zu schließen, das unsere Windschutzscheibe ersetzt, die von einer Kugel zerstört wurde. Samuel klettert über uns, um diese Aufgabe zu erledigen, und bekommt von Aina prompt eine leichte Ohrfeige, als er „versehentlich“ eine Hand auf ihre Brüste legt.
Dann setzt sich Nils ans Steuer, schüttelt sich und bespritzt uns dabei mit Regenwasser. Wir lassen es geschehen, ohne uns zu beschweren, dann zieht er sein klatschnasses T-Shirt aus (dabei kann ich wieder seine breiten Schultern mit wunderschönen Tattoos sehen), hält es aus dem Fenster, wringt es aus und wirft es Samuel zu, der ihm sogleich ein trockenes T-Shirt reicht.
„Danke für die Hilfe, ihr Drückeberger“, sagt er schließlich mit einem halben Lächeln. „Ich weiß nicht, was ich ohne euch tun würde.“
Wir versuchen, uns mit fadenscheinigen Ausreden in einem eher lustigen Tumult kläglich zu entschuldigen, dann fährt er los und wir setzen unsere Reise fort. Aina hat sich an Samuels Sitz gelehnt, sie unterhält sich mit ihm über den Schmuggel von Rosenholz und erklärt ihm geduldig, dass ein Vazaha kein schwedischer Zwieback ist, sondern ein fremder Weißer auf Madagassisch. Sie duzen sich mittlerweile und verstehen sich anscheinend gut. Das freut mich. Manchmal beneide ich Aina wegen ihrer Gabe, sich Freunde zu machen. Ich brauche ewig, um mich mit einem Fremden wohlzufühlen. Ich bin nicht schüchtern, ganz und gar nicht, aber es fällt mir leichter, geschäftliche Beziehungen zu knüpfen, Verträge abzuschließen und zu verhandeln, als mir Freunde zu machen.
Ich kann ihre Unterhaltung nicht ganz mitverfolgen, da ich in Gedanken versunken bin und dabei die Augen auf Nils’ Hände auf dem Steuer gerichtet habe. Große, breite, starke Hände mit wunden Fingerknöcheln aufgrund der Schlägerei. Starke Hände, mit denen er draufhauen kann … Kann er mit diesen Händen auch gut streicheln? Beschützen? Sanft und beruhigend sein? Leidenschaft wecken …?
Ich hasse solche Schlägertypen, das ist einfach so; ich habe Angst vor ihnen und Nils ist keine Ausnahme. Solche Gewaltorgien versetzen mich in Angst und Schrecken und mir wurde übel, als ich bei unserer Flucht mit ansehen musste, wie er Schädel einschlägt, Rippen und Arme bricht und was weiß ich noch alles. Auch bei Karate-Filmen wird mir unwohl, schon davon bekomme ich Albträume. Ich mag intellektuelle, raffinierte, nette Männer mit einer schlanken Figur wie Samuel. Männer, bei denen ich nicht das Gefühl habe, sie könnten mich mit einer Hand zermalmen und sich dabei mit der anderen ein Bier einschenken. Aber Aina hat dennoch recht: Nils ist schön anzusehen. Aber wirklich schön, so eine Art eisige nordische Schönheit, und es fällt mir schwer, den Blick von ihm abzuwenden …
Nach etwa einer halben Stunde, in der wir nur tuckernd vorankommen, verlassen wir endlich den Wald und gelangen auf eine Piste, eine richtige, die besser befahrbar ist als unser Rückeweg.
„Wo sind wir hier?“, frage ich plötzlich, als mir klar wird, dass ich mich schon seit gestern durch die Gegend fahren lasse, ohne irgendetwas über unsere Zielroute zu wissen.
„Es ist aber auch an der Zeit, dass du dich darüber sorgst, Prinzessin“, sagt Nils. „Wir fahren Richtung Süden, wir haben gerade die Piste erreicht, die von Mandritsara nach Moramanga führt.“
„Und wo fahren wir anschließend hin?“
„Wir fahren am Alaotra-See entlang und nach etwa siebzig Kilometer biegen wir nach Osten in den Wald ab. Wir durchqueren den Wald und schlafen dort, am anderen Rande des Waldes holt uns dann ein Hubschrauber ab.“
„Ich hoffe, ihr wisst, was ihr tut“, sagt Aina verdrossen. „Denn in dieser Gegend gibt es keine Piste nach Osten …“
„Keine Sorge“, beruhigt Samuel sie, während er sich gemütlich auf seinen Sitz legt, um ein Nickerchen abzuhalten. „Nils hat einige schlechte Angewohnheiten, aber wenn es darum geht, jemanden zu verfolgen oder abzuhängen, ist er einfach unschlagbar. Und er scheint sich mit dem Überleben in menschenfeindlicher Umgebung auszukennen. Wenn er sagt, dass es klappt, dann klappt es auch.“
Daraufhin schläft er ohne weitere Umschweife ein. Das hat er mit Nils gemeinsam, das heißt: Er kann auf Befehl unter egal welchen Umständen einschlafen.
Um zehn Uhr hat es aufgehört zu regnen und wir kommen ohne Schwierigkeiten zum Alaotra-See. Nils ist vier Stunden lang durchgefahren, bevor er den Wagen schließlich auf einem Pfad mitten in einem Schilfgebiet parkt, sich streckt und eine Ruhepause bis um zwölf ankündigt. Aina springt aus dem Pick-up und zieht mich zu sich:
„Bambuslemur, wir kommen!“, sagt sie frohen Mutes und schwingt ein iPhone, während sie in ein Sumpfgebiet zwischen dem Schilf verschwindet.
„Was hast du vor?“, frage ich und versuche, ihr zu folgen, ohne dabei in den Matsch zu fallen.
„Diese Lemuren kommen nur in diesem Gebiet vor, sie leben nur um diesen See herum. Sie sind vom Aussterben bedroht. Ich habe bisher noch keinen gesehen und Samuel hat mir sein iPhone ausgeliehen, damit ich sie fotografieren kann. Ist das nicht toll?“
„Außergewöhnlich“, murmle ich, wobei ich versuche, meine Schuhe aus einem Schlammloch zu befreien, das nach toten Ratten stinkt. „An manchen Tagen bereue ich diese unendlich langen Versammlungen mit den Deppen aus dem Vorstand schon fast.“
„Was meinst du?“, fragt sie flüchtig.
„Ich will damit sagen, dass es wunderbar ist und ich es kaum erwarten kann, diese tollen Viecher zu sehen.“
„Ich hoffe, wir werden so viel Glück haben; sie sind eher bei Morgen- und Abenddämmerung aktiv.“
Die Götter scheinen uns wohl tatsächlich wohlgesonnen, denn wir haben das Glück, eine Familie mit fünf Exemplaren, den Vater, die Mutter und deren Nachwuchs, zu sehen. Und ich muss wohl gestehen, dass sie mit ihren spitzen Nasen und ihren runden Ohren, ihrem ständig erstaunten Blick und ihrem wolligen Fell äußerst hübsch anzusehen sind. Aina, die ganz aufgeregt ist, fotografiert sie bei ihrem Treiben und filmt sie, wie sie von einem Schilfrohr zum anderen springen. Wir sind von diesem Anblick derart fasziniert, dass wir gar nicht merken, wie die Zeit vergeht. Um 11 :55 Uhr bringt uns eine SMS von Nils auf den Boden der Tatsachen zurück:
[Wir brechen in 5 Minuten auf. Beeilt euch!]
„Verdammt!“, flüstere ich, um die Lemuren nicht aufzuscheuchen. „Wir sollten uns beeilen, wenn wir nicht wollen, dass man uns den Hintern versohlt.“
Aber Aina scheint an ihren Notizblock gefesselt, ganz auf ihre kostbaren Bambuslemurviecher konzentriert und rührt sich nicht vom Fleck. Sie kann mich sogar davon überzeugen – ich weiß gar nicht wie – zu Nils zu gehen und mit ihm auszuhandeln, unseren Aufenthalt am See bis 14 Uhr zu verlängern. Ich mache mich auf eine Auseinandersetzung mit Machtdemonstrationen gefasst, wie mit jedem Männchen, das vor Testosteron nur so strotzt und dem man einen Strich durch die Rechnung machen möchte, doch ich habe mich geirrt. Nils antwortet bloß ganz ruhig:
„Okay, Prinzessin. Es geht ja schließlich nicht um meinen Hals. Es soll mir recht sein, solange ich euch lebendig genug zurückbringen kann, um mein Geld zu bekommen.“
„Das ist wirklich zu nett, ein wahrer Gentleman“, sage ich zähneknirschend.
„Aber ich will nicht nachts durch den Wald fahren, also brechen wir um Punkt 14 Uhr auf, ob sie da ist oder nicht. Und Sie kommen mit.“
„Jawohl, Herr Kapitän“, grummle ich, nicht sehr erfreut, Befehlen folgen zu müssen.
„Prima. Wegtreten, Soldat. Und nutzen Sie die Gelegenheit, um sich etwas frisch zu machen“, fügt er naserümpfend hinzu. „Ein Stinktier riecht noch besser als Sie …“
Ich bin für eine geistreiche Retourkutsche einfach zu verblüfft und beleidige ihn kurzerhand, während er mit einem Handtuch auf der Schulter gemächlich über einen sandigen Pfad zum See geht. Ich durchsuche die Ladefläche des Pick-ups nach Seife, denn ich stinke wirklich wie ein Bock, während ich dabei all seine Wikingervorfahren verfluche und über Schlammpfützen, Lemuren, Edelhölzer, Schmuggler, Männer und ganz besonders über diesen hier schimpfe.
Dann nehme ich ebenfalls den sandigen Pfad Richtung See. Ich laufe ein paar Minuten, bis ich den perfekten Badeplatz finde, ein kleines natürliches Becken mit tiefem und klarem Wasser und einer stabilen Uferböschung, durch das ein kleiner Bach fließt, der die Reisfelder mit Wasser versorgt. Ich weiß nicht, wohin Nils verschwunden ist, aber auf jeden Fall kann ich niemanden in der Nähe sehen. Prima. Ich beginne, meine Schuhe zu waschen, und trage dabei viel Seife auf, dann plansche ich eine gute halbe Stunde im frischen Wasser und genieße es, nach all den Tagen endlich ein Bad nehmen zu können. Es ist herrlich. Schöner als der modernste Whirlpool. Und es tut meinem schmerzenden Handgelenk außerordentlich gut.
Dann lege ich mich auf einen breiten, flachen Stein, der von der Sonne erwärmt ist. Erstaunt bewundere ich die Landschaft, die Reisfelder und die Schilfrohre, die sich bis unter den Horizont ziehen, die Berge in der Ferne, ihre roten und grünen Hänge … ein tolle, atemberaubende Landschaft. Madagaskar, das Traumland in all seiner Pracht. Zum ersten Mal seit Tagen fühle ich mich entspannt, obwohl die Gefahr noch nicht gebannt ist. Ich bin davon überzeugt, dass Nils, sei er auch noch so nervig, uns sicher nach Hause bringen wird. Mein Vater hätte sicher nicht den Erstbesten geschickt, er verlangt immer das Allerbeste, und Nils hat seine Zuverlässigkeit bisher eindeutig bewiesen. Er ist sowohl besonnen als auch wandlungsfähig, handelt überlegt und sehr kompetent. Und er ist sehr schön, auch wenn es für das, was man von ihm erwartet, unerheblich ist.
Ich kann es kaum erwarten, meine Mutter wiederzusehen, nach Hause zu kommen, auch wenn das gleichzeitig bedeutet, dass ich mich ständig mit Darren herumplagen muss. Wir beide haben Schwierigkeiten, miteinander auszukommen, ohne einander die Stirn zu bieten und uns miteinander zu messen. Manchmal denke ich, es rührt daher, dass wir einander zu sehr gleichen; ich verabscheue den Gedanken, ein Abbild meines Vaters zu sein, dieser starrsinnige und kalte Mann, in dessen Augen nur die Arbeit, sein Imperium, sein kostbarer Konzern zählen. Außerdem ist der Ausblick, mich wieder ins unerbittliche Geschäftsleben zu stürzen, nicht sehr begeisternd. Allerdings beherrsche ich dieses Spiel der Macht und Strategie. Sehr gut sogar. Da bin ich ganz nach meinem Vater geraten: Ich bin schließlich die Tochter von Darren Cox, ein wahrer Meister, was solche Dinge angeht. Allerdings glaube ich nicht, dass ich diese Valentine mag, diejenige, die über die Leichen ihrer Konkurrenten geht und daran auch noch Gefallen findet. Mir ist die Valentine lieber, die durch den Schlamm läuft, um mit ihrer besten Freundin lustige kleine pelzige Tiere zu beobachten. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich genau weiß, welche von beiden die wahre Valentine ist.
Ein Geräusch im Wasser zieht mich aus meinen Gedanken. Ein lautes Plätschern, bei dem ich an ein Krokodil denken muss, das sich auf seine Beute stürzt. Ich steige von meinem Felsen herab, dann ändere ich meine Meinung und klettere schnell wieder hinauf, um mich vor einem etwaigen Raubtier mit Zähnen und Klauen in Sicherheit zu bringen. Ich mag diese Viecher lieber am Spieß oder als Armbanduhr. Oder als Pumps. Aber nicht als Badebegleitung.
Ich habe mich hinter dem Schilf versteckt und atme erleichtert auf, als mir klar wird, dass es nur ein badender Mann ist. Aufgrund der sehr auffälligen Statur und den tollen Tribal-Tattoos, die seine Schultern schmücken, erkenne ich Nils wieder. Er taucht, schwimmt, dreht sich und schüttelt sich mit einer unverhohlenen Freude, die mich zum Schmunzeln bringt. Er gleicht einem kleinen Bengel. Hmmm … Einem kleinen Bengel mit einem atemberaubenden Körper, stelle ich fest, als er splitternackt aus dem Wasser steigt. Ich kauere mich auf meinem Felsen zusammen, denn ich habe nicht wirklich Lust, dass er mich überrascht und ich als Voyeurin dastehe. Es sieht mir auch gar nicht ähnlich, einen Kerl zu beobachten, der mich derart nervt. Wenn er jetzt auch noch denkt, dass ich Gefallen an ihm finde, dann wäre das die Krönung.
Ich lege mich schließlich auf den Rücken, um den Himmel, die Wolken, die Vögel und all diese Dinge zu betrachten … und massiere dabei mein schmerzendes Handgelenk. Drei Minuten später steht Nils, der sich inzwischen leider wieder angezogen hat, in seinem T-Shirt und seinen Safarihosen vor mir. Ganz, ganz nah vor mir …
„Alles in Ordnung, Prinzessin?“
„Prima. Ich habe es sogar geschafft, meinen Stinktiergeruch loszuwerden.“
„Zum Glück, sonst hätte ich Sie hinter dem Auto herlaufen lassen“, antwortet er spöttisch.
„Das wundert mich nicht.“
„Sind Sie verletzt?“
Ich bin von seiner Nähe etwas verunsichert und brauche eine Weile, bis ich verstehe, dass er mein Handgelenk meint, das ich ständig krampfhaft massiere.
„Nichts Schlimmes. Eine Verstauchung oder was weiß ich.“
„Darf ich es mir mal ansehen?“, sagt er und reicht mir die Hand.
Ich zögere, ganz überrascht von dieser Fürsorglichkeit und etwas beunruhigt von seiner Anwesenheit, die zu ungestüm, zu intensiv ist. Dann berührt er mich mit den Fingerspitzen leicht und führt seine Finger zu meinem Handgelenk herab. Wenn er darauf bestanden, meine Hand genommen oder mir in die Augen gesehen hätte, wie es Männer tun, die einen verführen oder fangen wollen, wäre ich zurückgewichen. Vielleicht hätte ich auch geschrien. Aber er scheint nichts von mir zu fordern, hat sich nur leicht zu mir gebeugt und folgt seinen Fingern mit den Augen. Er berührt mich leicht, und ich vertraue ihm mein Handgelenk an, während mein Herz wild schlägt, als würde es sich dabei um meinen ersten Flirt handeln. Und das, obwohl er mich auf diese Weise anscheinend eher beruhigen als verführen möchte. Er flirtet nicht mit mir, aber er scheint mich zähmen zu wollen … und ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
„Nicht so schlimm“, antwortet er schließlich und lässt mein Handgelenk nach einigen vorsichtigen Bewegungen und einer leichten Massage, die all meine Sinne in Wallung versetzt, wieder los. „Ein bisschen Salbe, und in ein paar Tagen werden Sie nichts mehr spüren. Wir haben alles, was Sie dafür brauchen, im Pick-up.“
„Okay“, sage ich, nicht sicher, was ich gerade fühle: Erleichterung, Enttäuschung, Frust?
„Los, kommen Sie, es wird spät, wir müssen uns wieder auf den Weg machen.“
Als wir auf dem Rückweg Seite an Seite laufen, frage ich ihn:
„Wie haben Sie es eigentlich geschafft, uns zu finden?“
„Ihr Vater hat uns eine ziemlich ausführliche Akte über Sie mit Fotos gegeben. Es war nicht sehr schwer, ihre Spur von dem Dorf aus, wo der Junge Ihre Entführung beobachtet hat, zurückzuverfolgen.“
„Eine Akte?“, frage ich erstaunt und mit dem unangenehmen Gefühl im Bauch, das seine Antwort mir nicht gefallen wird. „Mein Vater hat eine Akte über mich erstellt? Mit welchen Informationen?“
„Ganz alltägliche Dinge“, antwortet Nils achselzuckend. „Fotos, Maße, medizinische Unterlagen, Bekanntenkreis … Das war alles gar nicht nötig, aber zumindest hat man mir nicht wie üblich einen veralteten Bibliotheksausweis und ein zehn Jahre altes Passfoto gegeben.“
„Okay“, sage ich und versuche, ruhig zu bleiben – allerdings ohne Erfolg. „Und nachdem wir gezwungenermaßen gemeinsam in dieser Hütte hausen mussten, wissen Sie nun auch alles über meine Enttäuschungen im Bett, kennen mein Gewicht, meine Körbchengröße, meine Blutgruppe, den Namen meiner Freunde, die Marke meiner Pille … Und was sonst noch so alles?“
„Na ja … Ihr Problem mit der Seekrankheit, die Farbe Ihrer Unterhose, Ihre Lieblingsspeise und Ihr Kontoguthaben“, antwortet er trocken. „Unter anderem.“
Am liebsten würde ich ihn sofort erwürgen, aber angesichts unserer unterschiedlichen Statur fluche ich einfach nur lautstark und verfluche Darren mit seiner zwanghaften Angewohnheit, alles beherrschen, betiteln, steuern, besitzen zu müssen. Dieser Kontrollfreak führt eine Akte über seine eigene Tochter!
„Keine Sorge“, sagt Nils spöttisch, „ich werde Ihre kleinen Geheimnisse für mich behalten …“
Ich fluche und schimpfe immer weiter, ganz empört über diesen Einbruch in meine Privatsphäre und unsäglich verbittert. Das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
„Das ist doch nicht so schlimm“, sagt Nils. „Das sind nur sachliche Daten. Das sagt ja nichts Großartiges über Ihre wahre Persönlichkeit aus.“
„Es ist aber peinlich, selbst wenn es nicht so dramatisch ist. Sie würden es sicher nicht ganz so lustig finden, wenn es sich dabei um Ihr Leben handeln würde, das man vor Fremden bloßstellt.“
„Ich kann Ihnen einen Haufen persönliche und peinliche Details über mich erzählen, wenn es Sie beruhigt und damit Sie endlich aufhören zu schimpfen.“
„Ach ja?“, sage ich neugierig. „Ich bin ganz Ohr!“
„Okay …“, antwortet er, denkt nach und beginnt mit seiner Aufzählung: „Meine Blutgruppe ist AB+. Mit 8 Jahren dachte ich, ‚Hunting High and Low‘ von a-ha wäre das schönste Liebeslied der Welt, und wenn Sie diese streng geheime, absolut peinliche Information nicht binnen 30 Sekunden vergessen, sehe ich mich gezwungen, Sie abzuknallen. Ich war ein frustrierter Linkshänder und bin nun beidhändig. Ich habe meine Jungfräulichkeit mit 14 Jahren zufällig verloren. Mein letzter HIV-Test war genauso negativ wie Ihrer. Und ich besitze einen temperamentvollen Wombat, der all meine Freundinnen verscheucht.“
„Einen Wombat?“, frage ich ganz erstaunt von all diesen unerwarteten und verrückten Geständnissen. „Sie meinen wohl diese pelzigen australischen Tiere, die so aussehen wie eine komische Kreuzung aus Koalabär und Biber?“
„Genau. Er heißt Willy und ist schnell eingeschnappt, also sollten Sie auf Ihre Worte achten, wenn Sie ihn eines Tages sehen sollten.“
„Okay, okay, versprochen, ich werde sehr taktvoll an die Sache herangehen“, sage ich, ganz belustigt und erstaunt, dass es ihm so leicht gelungen ist, meine schlechte Laune zu vertreiben.
„Übrigens: Was die Farbe Ihrer Unterhose angeht, habe ich gelogen“, fügt er hinzu, bevor wir Sam und Aina erreichen, die neben dem Pick-up auf uns warten. „Das stand nicht in der Akte. Ich habe Ihnen heute Morgen bloß auf den Hintern geschaut, als Sie mit den Decken um Ihren Hals schnell von der Ladefläche gesprungen sind.“
„Was?!“, sage ich überrascht, ungläubig und … verwirrt.
„Hey, das ist nichts Persönliches“, sagt er schulterzuckend und mit einer vermeintlich reuevollen Miene. „Das ist nur ein atavistischer Reflex eines gesunden Männchens.“
„Aber …! Aber …! Aber, Sie Rüpel!“, sage ich lachend.