EPILOG DER ENGLISCHEN ORIGINALAUSGABE

Als wir von unserer erfolglosen Suche nach der Schnee-Eule in Cornwall nach Hause zurückkehrten, wurde mir erneut klar, wie sehr ich mich mit diesen gefiederten Kreaturen verbunden fühlte. Eulen, ganz besonders die Schnee-Eule, waren scharfsichtige und widerstandsfähige Geschöpfe. Nun, da ich in meinem eigenen Leben vor einige Herausforderungen gestellt wurde, musste auch ich vorausschauend, stark und unabhängig sein, genau wie eine Eule.

In jener Nacht legte sich ein für die Jahreszeit untypischer Raureif über die Landschaft, und als Rick und ich erwachten, strahlte uns durchs Fenster ein zerbrechlicher Teppich aus Weiß unter einem kristallklaren Himmel entgegen.

Als die Sonne aufging, waren Benji und ich schon auf den Beinen. Schnee kommt dort, wo wir in Devon leben, immer seltener vor, und das Dartmoor war von einer feinen Eisdecke überzogen. Wir packten uns also warm ein, sogen die kalte Luft in unsere Lungen und erklärten den Tag offiziell zum »Schneetag«. Mit dem Auto fuhren wir hinauf in die hüglige Landschaft mit ihren beißenden Winden und dem eisblauen Himmel.

Während sich viele Tiere den Winter über zurückziehen – Mäuse, Maulwürfe und Regenwürmer zum Beispiel graben sich tief in die Erde ein –, brauchen wir Menschen mit unseren kuschlig-warmen Häusern hin und wieder den Kontakt mit der rauen, kalten Jahreszeit. Schnee erinnert uns daran, wer wir sind; er birgt eine Gefahr in sich und erzählt vom Kampf ums Überleben. Außerdem ist er ein Meister der Verwandlung, der uns immer wieder mit Staunen erfüllt. Genauso wie die Schnee-Eule wurde auch der Schnee selbst, diese flüchtige weiße Substanz, vom Klimawandel bedroht; die stetig steigenden Temperaturen raubten uns etwas Schönes und Lebenswichtiges und machten unser Leben ärmer. Plötzlich fühlte sich alles ganz klar an: Die im Schwinden begriffene Schnee-Eule stellte ein Symbol für den Klimawandel dar, sie war ein Denkmal für den verlorenen Schnee.

Benji und ich schlitterten über die eisglatten Straßen, die am Rand des Moores entlang verliefen, holperten mit dem Auto über ein Viehgitter und kamen schließlich neben ein paar Buchen zum Stehen. Hier waren wir dem Wetter schutzlos ausgeliefert: Der Wind heulte durch die kahlen Zweige, und die Stämme der Bäume waren an der Seite, die nach Norden zeigte, schaumig weiß bespritzt. Mit knirschenden Schritten gingen wir über den magischen Teppich aus Eiskristallen in Richtung des Aussichtspunkts Buckland Beacon. Diese ausladende Granitformation ist einer der vielen großen Felsen, die aus diesem Teil des Moores herausragen, und ihre horizontalen Rillen eignen sich hervorragend zum Festhalten, wenn man gern klettert. Über uns krächzten die Krähen, und das raspelnde »Krau-krau« der Raben wurde vom Wind aus der Ferne zu uns herübergetragen. Eine einsame Silbermöwe, die sich von der Südküste hierher verirrt hatte, schien im eisigen Wirrwarr der Luft zu spielen.

Benji bemerkte sie zuerst: Die Spuren waren überall – die länglichen Abdrücke von Hasen, die großen Hinterpfoten vor die Vorderpfoten gesetzt. Einige menschliche Fußabdrücke führten zu einem Kranz, der hier in der Vollmondnacht auf dem Boden abgelegt worden war (so sind die Leute in Devon), und ein schelmischer Schneekünstler hatte uns das Beste für den Schluss übrig gelassen: keinen vollständigen Schneemann, aber einen gewissen Teil von ihm, der dreist in den Himmel zeigte.

Bevor wir uns versahen, war am Nachmittag alles wieder vorbei. Aus den dichten Weißdorn- und Buchenhecken rannen die Tropfen, und auf den Straßen flossen ganze Sturzbäche in Richtung Tal. Unser Körper kribbelte noch vor Entzücken über das Schneewunder, als sich uns schon eine neue Überraschung präsentierte: Vom Abhang her purzelte ein rostrotes Fellknäuel in unsere Richtung, faltete sich auf und schoss vor uns über die Straße. Das Wort formte sich in meinem Mund, bevor ich Zeit zum Nachdenken hatte: ein Hermelin! Der lange Körper schlängelte sich durchs nasse Gras wie eine kleine Flamme mit einer glimmenden Spitze – der charakteristisch schwarz gefärbte Schwanz des Hermelins. Dieses Merkmal sowie seine Größe, die jene des Wiesels um einige Zentimeter überragte, zeichneten es deutlich als eines der gefräßigsten Raubtiere Großbritanniens aus. Die Schneidezähne dieses kompakten und muskulösen Vertreters der Marderfamilie hatten sich so entwickelt, dass sie sich perfekt um die Halswirbel eines Kaninchens legen und dessen Genick mit einem schnellen Biss brechen konnten. Und damit nicht genug: Traf das Hermelin auf einen der kleinen Nager, führte es einen Capoeira-ähnlichen Tanz auf, der so faszinierend war, dass seine ahnungslose Beute vor lauter Staunen vergaß, sich aus dem Staub zu machen.

Nun flitzte das Tier vor uns über den Asphalt. Neben der cremefarbenen Kehle und dem hellen Unterbauch meinte ich, auch ein paar weiße Sprenkel auf seinem Fell entdeckt zu haben. Vielleicht der Rest seines Winterfells? Im Norden wuchs den kleinen Mardern in der kalten Jahreszeit regelmäßig ein schneeweißes Hermelinfell, damit sie sich in der winterlichen Landschaft besser tarnen konnten. Doch die Klimaerwärmung bereitete diesen Raubtieren die gleichen Probleme wie vielen anderen Arten, die im Schnee zu Hause waren, zum Beispiel Schneehasen: Blieb die Schneedecke aus, hoben sich die weißen Nagetiere eklatant von den grün-braunen Hängen ihrer Umgebung ab, was sie besser sichtbar für ihre Feinde machte. Für die Hermeline hieß das, dass sie nicht nur von anderen Raubtieren leichter erkannt werden konnten, sondern auch von ihrer Beute. Was würde aus uns allen, Mensch und Tier, werden, wenn die Klimaerwärmung den Schnee in Zukunft komplett aus der Wintersaison eliminieren würde?

Ein neues Schneegestöber kam auf, und Benji und ich neigten unsere Köpfe nach hinten, das Gesicht gen Himmel gereckt. Wir hielten unsere Augen geschlossen, und ich öffnete meinen Mund, um die pudrigen Flocken aufzufangen, die durch die Luft schwirrten. Die Eiskristalle schmolzen auf meiner Zunge; ich konnte sie kaum spüren.

Während ich dieses Buch fertigstellte, starb Ricks Mutter Wendy nachts in ihrem Schlaf. Im ehrwürdigen Alter von neunzig Jahren hatte ihr Herz einfach aufgehört zu schlagen und ihr einen langsamen und qualvollen Tod durch den sich ausbreitenden Krebs erspart. Während die Familie den Verlust verarbeitete und sich neu orientierte, kamen einige Dinge zur Ruhe, andere wurden neu aufgewirbelt. Auf Benjis und meiner Liste standen noch drei europäische Eulen: die Schnee-Eule, die Sperbereule und der Bartkauz. All diese Tiere könnten wir in Gefangenschaft in unserem örtlichen Zoo sehen, aber für mich gehörten diese majestätischen Raubtiere in die Wildnis, und ich wusste, dass ich nicht zufrieden sein würde, bis ich sie in ihrem natürlichen Lebensraum erblickt hatte. Als ich eine E-Mail von einem Eulenexperten in Nordfinnland bekam, der mich dazu einlud, mit ihm gemeinsam den Spuren der Eulen des Nordens nachzugehen – darunter auch diejenigen, die ich bislang auf meiner Odyssee verpasst hatte –, wusste ich, dass diese Reise noch nicht ganz zu Ende war. Im nächsten Jahr würde ich Benji in die Wildnis mitnehmen, damit wir gemeinsam die Eulen sehen konnten. Sperbereulen befanden sich aufgrund der sehr kalten Bedingungen im Norden momentan auf einer rekordverdächtigen Wanderung in südlichere Gefilde, wie mir mein Kontakt verriet, und Strix nebulosa, der Bartkauz, war regelmäßig beim Jagen zu sehen. Wenn man ihren geheimen Spuren zu folgen verstand, konnte man beide Eulenarten für gewöhnlich in den tiefen Wäldern Nordfinnlands antreffen. Gelegentlich wurde sogar eine Schnee-Eule in Nordlappland gesichtet. Mit einem Mal schienen diese extrem seltenen Eulen zum Greifen nah. Es war entschieden: Benji und ich würden eine Reise nach Lappland machen; wir würden uns ein Schlafabteil in einem Zug mieten und uns von dem finnischen Eulenexperten durch die Wildnis der Taiga führen lassen. Wir würden den Bartkauz und die Sperbereule in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten, und vielleicht könnten wir auch einen Blick auf die Schnee-Eule erhaschen. Sobald es Benji besser ginge, würden wir unsere Koffer packen – diesmal würde ich nicht ohne ihn aufbrechen. Und tatsächlich schien sich in letzter Zeit etwas an seinem Zustand zu verändern. Er hatte einen neuen Spezialisten aufgesucht, und auf einmal hatten wir alle wieder mehr Vertrauen in das, was die Zukunft bringen würde. Wie Emily Dickinson so schön sagt:

»Hoffnung« ist das Ding mit Federn –

Das lässt sich in der Seele nieder –

Und wortlos singt es Melodien –

Und nie verstummt es – jemals wieder –

(Ins Deutsche übertragen von Hans-Peter Kraus)