Strix aluco
Eine Nachricht poppte in meinem E-Mail-Postfach auf: »Benji ist auf dem Weg zum College im Bus zusammengebrochen.«
Stell dir vor, du sitzt im Bus auf dem Weg zur Arbeit: Es ist frühmorgens, der Bus tuckert die Straße entlang, und du bemerkst einen jungen Mann, dessen Kopf zur Seite gefallen ist, sein Körper rutscht fast vom Sitz. Seine Augen sind geschlossen. Du denkst: Vielleicht ist er betrunken – wer weiß? Was machst du nun? Dann beginnt der junge Mann zu zucken und kippt langsam von seinem Sitz. Jedes Mal, wenn der Bus über eine Bodenwelle fährt oder um eine Ecke biegt, rutscht er ein Stück weiter in Richtung Boden. Wenn sie an ihrer Haltestelle angekommen sind, gehen die meisten Passagiere einfach um den jungen Mann herum und steigen aus.
Als der Bus den Betriebsbahnhof erreichte, befand sich außer Benji nur noch eine weitere Passagierin an Bord. Sie schob ihren Buggy mitsamt Kleinkind an ihm vorbei und hielt nervös inne: »Alles in Ordnung?«, fragte sie. Aber er konnte nicht antworten. Sie sah die Speichelspur an seinem Kinn, die glasigen Augen; schnell sagte sie dem Fahrer Bescheid und floh dann.
Als er aus dem Krankenhaus zurückkam, ging es Benji besser, und er war bemerkenswert positiv gestimmt.
»Der Busfahrer hat mich am Betriebsbahnhof gefunden«, erklärte er. »Er hob mich vom Boden auf und setzte mich zurück auf meinen Sitz.«
Benji ist einen Meter achtzig groß und wiegt etwa hundert Kilo. »Das ist beachtlich – er muss ziemlich stark sein!«
»Ja, das war er! Er hatte massenhaft Tattoos und war riesengroß. Als er gemerkt hat, dass ich nicht sprechen konnte, rief er einen Krankenwagen.«
»Und vorher hat dir niemand geholfen?«
»Eine Frau hat gefragt, ob es mir gut geht.«
Normalerweise blieb Benji während seiner Anfälle bei Bewusstsein und bekam alles mit, jedoch konnte er nicht sprechen oder seine Bewegungen kontrollieren.
Wir beschlossen, uns nach dem Namen des Busfahrers zu erkundigen, damit wir ihm schreiben konnten. Unsere Dankbarkeit war unermesslich. Manchmal sehen Engel aus wie ganz gewöhnliche Menschen; sie fangen uns auf, wenn wir im Fallen begriffen sind. Vielleicht trägt jeder von uns diese Fähigkeit irgendwo in sich. Wenn wir Menschen uns von unserer Empathie leiten lassen, können wir Großes bewirken. So was lässt sich nicht mit Worten ausdrücken.
Benji wurde auf Epilepsie und auch auf Narkolepsie getestet, aber immer noch fanden die Ärzte keine Ursache für seine Anfälle. Auch Medikamente konnten ihm in der Zwischenzeit nicht verschrieben werden, denn die Chance, dass es die falschen wären, war zu hoch. Wir konnten nichts tun außer warten. Gemeinsam schrieben wir einen Brief an das Busunternehmen, dann wendete ich mich wieder meinem Studium der Eulen zu.
Der Waldkauz ist eine der nachtaktivsten Eulen überhaupt. Aufgrund seiner braunen Tarnzeichnung und seines lautlosen Fluges ist es schwer, ihn in der Dunkelheit zu entdecken, und sein lauter Schrei muss unseren Vorfahren wie der Ruf der Nacht selbst vorgekommen sein. Dabei gehören seine Töne, insbesondere die der männlichen Waldkäuze, zu den »musikalischeren« Rufen im Eulenreich. Tatsächlich ist es die flötende Stimme des Waldkauzes, die wir Menschen am häufigsten in der Nacht hören. Zwischen August und Oktober, wenn die Jungtiere das Territorium ihrer Eltern verlassen, werden ihre Stimmen lauter, und dann, wenn gegen Ende des Winters die Brut beginnt, nimmt das Volumen erneut zu – der Ruf des Waldkauzes hallt nachts durch unsere Träume. Ob er in der Vergangenheit wohl mit dem Einbruch des Winters assoziiert wurde, die Siegesstimme der über den Sommer triumphierenden Dunkelheit?
Nachdem die jungen Waldkäuze von ihren Eltern aus dem Nest gescheucht worden waren und sich im Dezember ihr eigenes Revier erobert hatten, stand ich in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr, wenn das Wetter ruhig und windstill war, oft noch vor der Morgendämmerung auf, um dem so charakteristischen Ruf der Eulen zu lauschen. Ich setzte mich dann in einen Sessel vors Fenster und beobachtete durch die Scheibe, wie die zurückhaltende Wintersonne allmählich ihre Strahlen in Richtung Erde schickte. Wenn es nicht windig oder nass war (Waldkäuze gehen bei schlechtem Wetter nicht auf die Jagd, da der Regen das Pfotengetrappel ihrer Beute übertönt), erreichte normalerweise einer der vertrauten Eulenrufe meine Ohren. Waldkäuze sind reviertreu und beginnen im Januar mit der Paarung – haben sie dann noch keinen Partner, machen sie sich nachts auf die Suche, indem sie ihre gellenden Balzrufe in die Dunkelheit schicken. Im Februar haben sich die Vögel in der Regel zu Paaren zusammengetan und sich einen Nistplatz gesucht, normalerweise eine geschützte Stelle hoch oben in einem alten Baum. Manchmal lassen sie sich in einem alten Nest nieder, oder sie bauen sich selbst ein Nest in einer Baumhöhle.
Jedes Mal wenn im Winter ein Eulenschrei durch den Nebel waberte, ging ich nach draußen und lauschte der seltsam heiseren Tonlage, die so vielen Waldkäuzen zu eigen ist. Ich hatte immer die Hoffnung, dass ich eins der Tiere in der Morgendämmerung irgendwo in der Nähe auf einem blattlosen Baum sitzen sehen würde – wenn die schwache Sonne aufging, hatte man manchmal Glück und erspähte eines von ihnen, wie es mit gesträubtem Gefieder auf einem nach Süden ausgerichteten Ast saß und sich die Flügel wärmte. Die Eulen saßen dann ganz still, sie bewegten sich nicht und vertrauten darauf, dass ihre gesprenkelte Tarnung sie unsichtbar machen würde. Normalerweise hörte ich die Waldkäuze lediglich, nur selten bekam ich einen zu Gesicht. Aber an jenem klaren Morgen hatte ich Glück.
Im einen Moment schlürfte ich noch meinen Tee am Fenster, vor mir nichts als das blasse graue Licht der Winterdämmerung und der heiße Dampf aus meiner Tasse – dann plötzlich zeichnete sich ein Schatten in der Luft ab. Aus dem Nichts manifestierte er sich, so als würde das Dämmerlicht zum Leben erwachen, und hockte mit einem Mal wie ein Ausrufezeichen auf meinem Balkon: ein Waldkauz, bei mir zu Hause!
Seine weich gefiederten Füße mit den schwarzen Krallen hielten sich am Geländer fest, und wir starrten uns gegenseitig durch die Glasscheibe an. Mit seinen dunklen Augen fixierte er mich; seine braune Zeichnung hob sich gegen den dichten Nebel ab: Sein Gesichtsschleier war rostig-braun, das Federkleid mit beigen und cremefarbenen Schnörkeln verziert, die Brust blass wie Beifuß und gesprenkelt, über den Rücken zogen sich kräftige Streifen, und der Schwanz war kurz und stummelartig. Ich war wie gebannt. Das symmetrische Gesicht des Kauzes schien ein unheimliches Geheimnis in sich zu tragen, und immer wieder drehte er den Kopf und durchbohrte mich mit diesen riesigen Augen.
Vor meinem Gesicht stieg immer noch der Dampf aus der Teetasse auf, und mein Verstand verlor sich in gespensterhaften Gedanken. Vor Tausenden von Jahren hätten meine Vorfahren in dieser Begegnung ein böses Omen gesehen. Aber dieser Waldkauz war nur eine ganz normale Eule, kein Zeichen – ich hatte einfach Glück gehabt. Trotzdem …
Der Kauz neigte sein Gesicht nach unten, er hatte die Mehlwürmer entdeckt, die ich für die Stare verstreut hatte. Er sah erst mich an, blickte dann über den Rasen und betrachtete aufmerksam die dichte Hecke. Er schien es nicht eilig zu haben, wieder davonzufliegen. Während er weiter regungslos dasaß, stand ich auf, ging einen Schritt auf ihn zu und berührte die Scheibe. Konnte er mich tatsächlich sehen oder war ich für ihn nur eine bedeutungslose Form? Meine Bewegung ließ ihn aufhorchen. In einer fließenden Bewegung breitete er seine Flügel aus, stieß sich vom Balkongeländer ab und schwebte so leise davon, wie er gekommen war.
Als ich mich wieder beruhigt hatte, rannte ich nach draußen und sog gierig die kalte Luft ein. Woher war die Eule gekommen? Wohin war sie verschwunden? Die Reviere, in denen Waldkäuze jagen, sind klein, das wusste ich, aber um herauszufinden, wie klein genau, ging ich zu meinem Bücherregal und zog ein Buch heraus. Der Waldkauz ist die weitverbreitetste Eule in Großbritannien und die einzige Eulenart, die sich effizient an das Leben in urbanen Gebieten angepasst hat. Wir hatten einen Park in der Nähe, dann war da noch ein Kinderspielplatz und ein Fußballfeld – in der Stadt fand sich eine Reihe von potenziellen Lebensräumen für Waldkäuze, die alle miteinander verbunden waren. Nicht weit entfernt befand sich zudem ein Waldstück mit dichten Büschen und vielen Bäumen, darunter einige riesige, ausgewachsene Eichen – ich vermutete, dass der Waldkauz dort seinen Nistplatz hatte. Auf dem verwilderten Grund tummelten sich Wühlmäuse und andere Nagetiere, es wuchsen Brombeerbüsche und Haselnusssträucher; rund um einen kleinen Bach gab es feuchte, mit Schilf bewachsene Bereiche – ein winziger Fleck Wildnis mitten in der Stadt.
Da ausgedehnte Waldflächen immer seltener werden, lassen sich immer mehr Waldkäuze in Städten nieder. Wenn es geregnet hat und die Eulen keine Mäuse fangen können, haben sie die Möglichkeit, auf unseren Rasenflächen Regenwürmer zu vertilgen und in den Teichen in unseren Vorgärten nach Fröschen und anderen Amphibien zu jagen. Als einer Freundin von mir immer wieder die Goldfische aus dem Gartenteich geklaut wurden, installierte sie eine Kamera und kam so dem Übeltäter auf die Schliche: Auf dem Video konnte man sehen, wie ein opportunistischer Waldkauz in ihrem Teich herumpaddelte und sich völlig schamlos vor der Kameralinse rekelte, während von den Fischen jede Spur fehlte. Vielleicht wäre die Eule nicht so übermütig gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass ihr nächtliches Bad später auf YouTube zu sehen sein würde. Waldkäuze müssen baden und stecken häufig hinter den mysteriösen Kriminalfällen, die sich in Gärten abspielen, so zum Beispiel hinter dem Verschwinden von Fischen, für das normalerweise Katzen verantwortlich gemacht werden. Die Menschen rechnen nicht damit, dass Eulen den Weg in ihre Gärten finden, aber tatsächlich kommt es häufiger vor, als man denkt. Da unsere Gärten in den Vorstädten oft durch Bäume und Hecken von der Straße oder anderen Häusern getrennt sind, finden Waldkäuze hier die perfekten Jagdbedingungen vor. Sie können sich einen versteckten Ort suchen und darauf warten, dass kleine Säugetiere vorbeihuschen. Im Gegensatz zur Schleiereule ortet der Waldkauz seine Beute nicht im Fliegen; er lässt sich einfach auf einem Ast nieder und wartet, bis sich etwas auf dem Grund regt. Hat er seine Beute erspäht, stürzt er sich hinab. Dabei schließt er im allerletzten Moment, wenn seine Füße bereits zum Angriff ausgestreckt sind, die Augen – einerseits weil Waldkäuze weitsichtig sind und aus nächster Nähe nur verschwommen sehen können, andererseits aber auch als Vorsichtsmaßnahme, denn der Waldkauz braucht seine Augen nicht, um seine Beute zu fixieren. Mit seinem ausgezeichneten Gehör hat er sie bereits auf den Millimeter genau geortet und holt nun blind zum perfekten Schlag aus.
Früher nahm man an, dass die riesigen tiefschwarzen Augen des Waldkauzes auf magische Art und Weise in der Dunkelheit sehen und mit dieser Fähigkeit auch in die Seele der Menschen eindringen können, aber das ist natürlich Quatsch. Die starke Sehkraft der Eule ist ein Resultat ihres hoch entwickelten Sehapparats. Wir alle wissen, dass Eulen riesengroße Augen haben. Weil sie durch ihre enorme Größe so schwer sind, haben sie sich im Laufe der Zeit zu starr im Schädel sitzenden Röhren entwickelt – im Gegensatz zu unseren kleinen, runden Augäpfeln kann die Eule ihre Augen nicht in den Höhlen bewegen. Das bedeutet auch, dass Eulen aufgrund des fehlenden Bewegungsradius ihrer Augen in ihrem Sichtfeld eingeschränkt sind. Aus genau diesem Grund ist die Eule auch in der Lage, ihren Kopf um beunruhigende 270 Grad zu drehen. Das funktioniert nur, weil zusätzliche Wirbel und Blutgefäße dafür sorgen, dass dem Vogel dabei nicht die Blutzirkulation zu seinem Kopf abgeschnitten wird.
Da die Netzhaut der Eule eine gewisse Menge an Licht benötigt, um Informationen an den Sehnerv weiterleiten zu können, verfügt sie über eine stark vergrößerte Hornhaut sowie Augenlinse, die ein Maximum an Licht aufnehmen können. Die hohe Dichte an Stäbchen in ihrer Netzhaut macht ihr Sehvermögen besonders empfindlich; bei schwachem Licht ist es etwa drei- bis viermal so stark wie das eines Menschen, womit die Eule perfekt auf die Jagd in der Dämmerung und im schattigen Licht des Waldes vorbereitet ist. Eine zusätzliche Stärke ihres Auges besteht darin, dass die Netzhaut und die Linse im Laufe der Entwicklung näher zusammengerückt sind, wodurch das Bild, das die Eule bei schlechter Beleuchtung produziert, schärfer und heller wird. In Experimenten wurde untersucht, wie viel Licht Eulen benötigen, um in dunklen Wäldern ihre Beute aufzuspüren. Dabei kam heraus, dass die nachtaktivsten Eulenarten in Europa – der Waldkauz, der Habichtskauz und die Waldohreule – ihre Beute bei schwachem Licht aus zwei Metern Entfernung sehen und direkt auf sie zufliegen können. Andere Spezies, wie zum Beispiel der Homo sapiens und Eulen, die bei Tag oder in der Dämmerung jagen, sehen bei gleichen Lichtverhältnissen überhaupt nichts. Aber selbst der Waldkauz kann in völliger Dunkelheit nichts sehen – um zu überleben, muss er sich auf eine Reihe anderer Fähigkeiten verlassen, wie beispielsweise sein Gehör und sein räumliches Gedächtnis.
In Städten, wo in der Regel reichlich künstliches Licht vorhanden ist, gehört zur Nahrungsquelle des Waldkauzes in der Regel alles, was auf dem Grund herumwuselt, von Ratten über Regenwürmer und Eidechsen bis hin zu Käfern. Im Frühjahr erbeutet er manchmal auch kleine Vogeljunge oder schwächere Spatzen. Doch obwohl der Waldkauz in nächster Nähe zu uns Menschen lebt, haben die meisten von uns noch nie einen zu Gesicht bekommen, erst recht nicht auf dem eigenen Balkon.
Strix aluco. Da hatte er gesessen, der Kauz, und mich ruhig angestarrt, durch die Scheibe direkt in meine Augen. In diesem Moment dachte ich: Diese Eule war schon oft hier, sie hat in den beleuchteten Raum geschaut und mich beobachtet, nur habe ich sie da nicht bemerkt. Ich war mir sicher, dass es sich bei dem Kauz um ein Weibchen handelte, denn in der Nacht hatte die Eule unseren Schlaf immer wieder mit ihren kreischenden »Ki-wick« unterbrochen. Der Ruf des Weibchens ist durchdringend, aber weniger kräftig und melodisch als das typische »Huh-huu« des Männchens, erklärte mir mein Buch über Waldkäuze. Das Männchen kann auch »Ki-wick« rufen, zum Beispiel wenn es auf aggressive Art Eindringlinge verwarnt, und verwirrenderweise ruft auch das Weibchen manchmal »Huh-huu«. In unserem Fall kam der »Ki-wick«-Ruf von ganz nah, während gleichzeitig der weiche Schrei der männlichen Eule aus größerer Ferne zu vernehmen war.
Ich finde es erstaunlich, dass jedes Mal wenn eine Begegnung zwischen uns Menschen und diesen beachtlichen Wesen stattfindet, das Verständnis zwischen uns vertieft wird. Wir sehen die Eule als das, was sie ist, und nicht mehr als mythische Kreatur – sie wird zu etwas Vertrautem. Sitzt eine Eule direkt vor uns, wird uns bewusst, dass sie nicht nur ein körperloser Ruf in der Nacht ist. Sie ist ein Teil unserer Welt und damit auch ein Teil von uns selbst.
***
In einem Landwirtschaftsshop beobachtete ich kürzlich, wie ein paar Kunden eifrig Zehn-Kilo-Eimer mit Rattengift in ihre Kofferräume luden. Wir Menschen trinken gern unseren Tee aus putzigen Eulentassen, aber gleichzeitig fügen viele von uns diesen Vögeln enormen Schaden zu, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es sind die Schleiereulen, die wahrscheinlich am meisten unter dem Verzehr von Rattengift leiden, weil sie so dicht mit uns zusammen in landwirtschaftlichen Gebieten leben – aber was ist mit dem Waldkauz? Ist auch er von dieser Gefahr betroffen?
Ich setzte mich mit dem Predatory Bird Monitoring Scheme (PBMS) in Kontakt, einem Projekt, das die chemische Bedrohung von Raubvögeln durch Rattengift in Großbritannien untersucht. Die Organisation hat herausgefunden, dass es nach der Aufnahme von Rodentiziden in der Regel mehrere Tage dauert, bis die Tiere an dem Gift verenden. Während dieser Zeit sind sie anfällig für Raubtiere, und da das Gift in hoher Konzentration in ihren Körpern aktiv ist, sind auch ihre Jäger seinem negativen Effekt ausgesetzt. Die Schadstoffe wandern die Nahrungskette hinauf und können später oft auch in toten Raubvögeln nachgewiesen werden, die sich von den Nagern ernähren. Der PBMS hat es sich zur Aufgabe gemacht zu untersuchen, ob und wie diese Vögel durch die Aufnahme von Rattengift in ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden und welche Maßnahmen ergriffen werden können, um sie besser zu schützen.
»Raubtiere, die sich von Nagetieren ernähren, sind sehr wahrscheinlich diesen Substanzen ausgesetzt«, antwortete mir eine Vertreterin der Organisation. Der Verein hat eindeutig festgestellt, dass die Anreicherung von Giftstoffen in Raubvögeln ein unbeabsichtigter Nebeneffekt der Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft ist und dass es infolgedessen sogar zu Todesfällen bei den Vögeln kommen kann. Der PBMS hat das Vorkommen von gerinnungshemmenden Rodentiziden in Raubvögeln wie Schleiereulen, Turmfalken, Rotmilanen sowie Waldkäuzen untersucht und für die Populationen der Schleiereulen und Turmfalken langfristige Trendanalysen vorgelegt. Bei den Schleiereulen wird die Überwachung jährlich fortgesetzt.
Seit 2006 haben differenziertere Untersuchungsverfahren, die sich der Technik der »Flüssigchromatografie mit Massenspektrometrie-Kopplung« bedienen, dazu geführt, dass geringere Konzentrationen von Giftstoffen nachgewiesen werden konnten, als dies je zuvor möglich gewesen war. Das ist auch der Grund, warum seit jenem Jahr der Anteil der Vögel, in denen gerinnungshemmende Rodentizide nachgewiesen werden konnten, im Vergleich zu den vorigen Jahren gestiegen ist. Im Jahr 2015 wurden die Giftstoffe in achtzig bis neunzig Prozent der Schleiereulen und in rund 68 Prozent der Turmfalken nachgewiesen; bei den untersuchten Rotmilanen waren es sogar 91 Prozent. Ein Viertel der untersuchten Rotmilane zeigte außerdem Anzeichen von Blutungen, die möglicherweise mit einer Vergiftung durch Rodentizide in Zusammenhang stehen.
Eine solche Vergiftung kann sogar an die folgenden Generationen weitervererbt werden. Der Anteil der Eulen, in denen Rückstände einer bestimmten Art von Rattengift – den sogenannten SGARs – nachgewiesen werden konnte, war in England doppelt so hoch wie in Schottland oder Wales. SGARs werden seit den 1970er-Jahren vermehrt eingesetzt, da Nagetiere begannen, Resistenzen gegen zuvor verwendete Stoffe wie Warfarin zu entwickeln. Es ist bekannt, dass der Bestand des Feldsperlings in Großbritannien seit den 1970er-Jahren zurückgegangen ist, aber ob diese Entwicklung sich direkt auf den Einsatz von Rodentiziden zurückführen lässt, ist nicht gesichert.
Es ist wahrscheinlich, dass gerinnungshemmende Rodentizide und anderen von Menschen ausgelegte Gifte beim Verzehr auch den Waldkauz negativ beeinflussen, aber da sein Lebensraum und seine Lebensweise sich eklatant von denen der Schleiereulen unterscheiden, entgeht der Vogel möglicherweise den schlimmsten Giftkonzentrationen. Gleichzeitig ist zu befürchten, dass die negativen Auswirkungen von Rattengift auf den Waldkauz auf weniger Interesse bei uns Menschen stoßen könnten, weil seine Art weniger bedroht ist als die der Schleiereule. Es wäre ein schwerwiegender Fehler, dieser Entwicklung nicht genug Aufmerksamkeit zu schenken – das hat uns schon mal in Schwierigkeiten gebracht, als die zunehmende Vergiftung von Raubtieren wie Fischottern und Wanderfalken von uns Menschen unbemerkt blieb, bis es fast zu spät war.
Strix aluco. Ich spreche den Namen des Vogels laut aus und lausche dem Klang der lateinischen Wörter. Strix. Aluco. Es klingt fast wie das »Ki-wick« und »Huh-huu«, das die Eulen machen.
Vor über zweihundert Jahren begann der schwedische Naturforscher Carl von Linné – oder Linnaeus, wie er in seiner latinisierten Form genannt wird – mit seinem Vorhaben, ein für alle Mal Ordnung in die Kategorisierung und Nomenklatur der Tierwelt zu bringen, indem er ein detailliertes Namensystem für alle Lebewesen entwickelte. Vögel bekamen Namen, die aus zwei lateinischen Wörtern bestanden: einem Substantiv, um die Gattung zu klassifizieren, und einem Adjektiv, um die Art zu beschreiben, die oft aus dem Aussehen, dem Ruf oder der Natur des Vogels selbst hergeleitet wurde. Bei der Namensgebung ließ Linnaeus sich von den Wortschöpfungen und linguistischen Entwicklungen der letzten Jahrtausende inspirieren. Der Begriff Strix könnte auf Aristoteles’ Beschreibung in seinem bahnbrechenden naturhistorischen Text, der Historia animalium, aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. zurückgehen. Das von dem Philosophen in seiner Naturkunde benutzte griechische Wort strizo bedeutet »kreischen« und wurde später möglicherweise von Linnaeus zu Strix latinisiert, um damit die miteinander verwandte Gruppe der Eulen zu klassifizieren, die sich durch ihren lauten, kreischenden Schrei auszeichnete.
Der Begriff der »Kreischeule« sollte hier näher erläutert werden. Bestimmte Eulenarten haben schon immer laut gekreischt, aber weder der Waldkauz noch irgendeine andere der europäischen Eulenarten sind mit den echten Kreischeulen verwandt. Bei den Kreischeulen handelt es sich um eine völlig andere Gattung, Megascops, deren 28 verschiedene Arten in Amerika beheimatet sind. Diese beeindruckenden Vögel sind alle in Heimo Mikkolas faszinierendem Handbuch Eulen der Welt abgebildet. Die West-Kreischeule zum Beispiel, Megascops kennicottii, kommt nur in Gebieten im Westen der Vereinigten Staaten, von Südalaska bis hinunter nach Texas, und außerdem in bestimmten Bereichen Mexikos vor. In Europa gibt es keine echten Kreischeulen. Diese Gattung kleiner Eulen mit Ohrbüscheln hat oft helle Augen, deren Farbe von Blassgelb bis Bernsteinfarben reicht, obwohl manche Arten, wie die Zimt-Kreischeule, Megascops petersoni, die in Peru lebt, tiefbraune Augen aufweist. Verwirrenderweise kreischen viele Kreischeulen überhaupt nicht, sondern geben Stakkato-Rufe wie »bukbukbuk« oder »bububububub« von sich; einige trillern sogar oder machen grillenähnliche Geräusche. Der Name »Kreischeule« sorgte in diesem Zusammenhang ab und an für Verwirrung, da sowohl die Schleiereule als auch die Waldohreule kreischende Rufe von sich geben und deswegen manchmal fälschlicherweise in diese Kategorie eingeordnet werden. Sie sind aber keine Kreischeulen, sondern gehören einer ganz anderen Gattung an.
Vielleicht kommt Strix also von »kreischen«, eventuell steckt aber noch mehr hinter dem Namen. Einige Hinweise deuten darauf hin, dass der Name das mystische Wesen der Eulen einfangen sollte, indem er sie mit dem Konzept der Hexe assoziierte. Selbst in meinen Büchern wird diese Interpretation nicht erwähnt, aber sie liegt nahe: Das lateinische striga bedeutet Hexe, das Äquivalent dazu im heutigen Italienisch lautet una strega. In vielen Kulturen wurde der Waldkauz nach den unheimlichen Klängen seines nächtlichen Rufes benannt, der Name trägt dabei in vielen Fällen eine weibliche Konnotation: Im Gälischen wird der Waldkauz als cailleach oidhche, bezeichnet, die »alte Frau der Nacht«; in Frankreich ist er le chat huant, die »heulende Katze«, als ob das Gestaltwandeln eine seiner Fähigkeiten wäre. Es scheint, dass der Name des Waldkauzes in vielen Kulturen untrennbar mit dem Konzept des Weiblichen und mit dem Aberglauben, dass Eulen Unheilsbringer sind, verwoben ist: die dämonische Frau der Nacht; die Kreatur, deren Wissen das unsere bei Weitem übersteigt; der furchterregende Vogel, der die Dunkelheit bewohnt. In der griechischen Mythologie wurde Hades, der Gott der Unterwelt selbst, in der Form einer Eule dargestellt. Als Hades Demeters Tochter entführt, stürzt er die Welt damit in einen grausamen kalten Winter, da Demeter, die Repräsentation der Natur, um ihr vermisstes Kind trauert. Die gefangene Tochter Persephone weiß, dass sie zu einem Leben in der Unterwelt verdammt ist, wenn sie von einer irdischen Speise kostet. Laut dem römischen Dichter Ovid verwandelt Persephone einen Obsthüter zur Strafe in eine Eule, als dieser sie dabei beobachtet, wie sie gegen die Regeln verstößt und einen Granatapfelkern verspeist.
Diese antike Erzählung ist nicht das einzige mythologische Beispiel, in dem eine Person für ein Vergehen bestraft wird, indem sie in eine Eule verwandelt wird. Im Mabinogion, einem im Mittelalter verfassten Sagenbuch, das seinen Ursprung in der mündlichen Überlieferung der walisischen Mythologie hat, ereilt das gleiche Schicksal eine ihrem Mann untreu gewordene Ehefrau. Im vierten Teil der Mabinogi-Geschichten wird dem jungen Mann Lleu (der walisischen Version von Lugh, dem keltischen Gott des Sommers) verboten, sich jemals eine menschliche Frau zu nehmen – stattdessen wird für ihn ein magisches Wesen aus den Blüten der Eiche, des Ginsters und des Mädesüß geschaffen. Sie trägt den Namen Blodeuwedd oder »Blumengesicht« und stellt die Verkörperung des Frühlings dar. In einigen Versionen der Geschichte sprießt überall da, wo sie entlanggeht, eine Spur weißer Blumen aus dem Grund. Aber Blodeuwedd hat ihren eigenen Willen und geht eine Liebesaffäre mit Lleus Rivalen Gronw ein. Gemeinsam planen sie, Lleu zu ermorden.
Um diese komplexe mythische Geschichte kurz zusammenzufassen: Der Plan der Liebenden wird vereitelt, als Lleu, von einem Speer durchbohrt, später als Adler wieder zum Leben erweckt wird und Blodeuwedd zur Strafe in eine Eule verwandelt. Er sagt ihr: »Du wirst es nicht wagen, dein Gesicht jemals wieder im Licht des Tages zu zeigen, und zwischen dir und allen anderen Vögeln wird für immer Feindschaft herrschen. Es wird in ihrer Natur liegen, dich zu verachten und dich zu schikanieren, wo immer sie dir begegnen. Niemals wirst du deinen Namen verlieren – er wird für immer Blodeuwedd lauten.« Die Geschichte erzählt uns außerdem, dass blodeuwedd im damaligen Walisisch das Wort für Eule war.
Die walisischen Geschichten aus dem Mittelalter haben viel mit den griechischen und römischen Mythen gemein. Eins ist sicher: Das unheimliche Äußere der Eule und die Tatsache, dass sie nachtaktiv ist, haben ihr in der Mythologie einen schlechten Ruf eingebracht. In den Geschichten von uns Menschen wird die Kreatur mit Misstrauen, Dunkelheit und Scham in Verbindung gebracht.
Strix aluco. Und was ist mit aluco? Das Wort klingt wie eine melancholische Begrüßung, ein Jodeln ohne Hoffnung auf Antwort, genau wie die Rufe des Waldkauzes, die ich in der morgendlichen Dämmerung gehört hatte. Ich recherchierte die Etymologie des Wortes und fand heraus, dass der Grieche Theodorus Gaza, der im Mittelalter Aristoteles’ Historia animalium ins Lateinische übertragen hatte, das griechische Wort für Eule, eleos, in Latein als aluco übersetzt hatte, abgeleitet von dem alten italienischen Wort für Waldkauz, allocco. Aristoteles hatte bei der Wahl des Wortes eleos viel Feingefühl bewiesen: Eleos war kein Gott, nicht einmal eine Nebengottheit, sondern etwas viel weniger Greifbares. Er wurde eher als Entität denn als Person gesehen, und er war scheu und verletzlich, die Verkörperung von Mitleid, Mitgefühl und Barmherzigkeit. Die Menschen hielten sich nicht gern in der Nähe von Eleos auf, aus Angst, mit Elend und Kummer infiziert zu werden. Das klingt passend. An Eleos’ Altar riefen die Betenden ihn an, indem sie ein bestimmtes Ritual vollzogen, als Teil dessen sie sich entkleideten und sich die Haare abschnitten. Jeder, der damals ein Verbündeter Athens war, sollte Eleos auf diese Weise Trankopfer darbringen. Aristoteles muss sich für diesen Namen als Bezeichnung für die Eule entschieden haben, nachdem er ihren flehenden Schrei in der Dunkelheit gehört hatte.
Benji, der gerade in sein kleines Heim neben der Garage gezogen war – wo er mehr Platz und Unabhängigkeit hatte –, war in der Nacht ebenfalls Zeuge des langen Gesprächs zwischen den Waldkäuzen geworden. Aufgeregt stürmte er am Morgen durch die Vordertür herein.
»Mama! Welche Eule macht dieses Geräusch: ›Ii-iiik! Ii-iiik!‹? Hast du es auch gehört? ›Ii-iiik! Ii-iiik!‹ Die ganze Nacht lang!« Sein Gesicht leuchtete vor Freude, die nächtliche Störung durch die Eulen hatte ihm scheinbar rein gar nichts ausgemacht.
»Ja! Ich hab es auch gehört! Es war ein Waldkauz. Ich habe ihn gerade auf dem Balkon gesehen!«
»Wow.«
Wir beide waren fasziniert von den Tieren und steckten uns gegenseitig mit unserer Eulenhaftigkeit an. Als ich mich hinsetzte, um noch ein bisschen zu lesen, steckte Benji plötzlich seinen Kopf zur Tür herein und machte: »Ii-iiik! Ii-iiik!« Ich gab ihm ein lautes »Huh-huu!« zurück.
Benjis Zustand hatte sich ein wenig stabilisiert, aber dennoch war es schwer für uns als Familie, unsere Fassade der Zuversicht weiter aufrechtzuerhalten. Als Benji neun Jahre alt war, kristallisierte sich immer mehr heraus, dass einige seiner Reaktionen anders waren als die von »normalen« Kindern; vieles schien darauf hinzudeuten, dass er anders »verdrahtet« sein könnte als andere Menschen. Wir hatten den Verdacht, dass es Asperger sein könnte. Ausgeprägte Phobien, die Angst vor Familienfeiern, Panikattacken auf Partys und in anderen lauten sozialen Situationen – das alles hatte uns schon länger vermuten lassen, dass Benji sich auf dem Autismus-Spektrum befinden könnte. Einer der schlimmsten Momente war eine Disconacht in seiner Schule, bei der er nach einer ausgedehnten Suchaktion in Fötusstellung unter einem Tisch entdeckt wurde. Da er alles, was Menschen zu ihm sagten, sehr wörtlich nahm und es deshalb in der Schule oft zu Missverständnissen kam, erhielt er schließlich seine Diagnose: hochfunktionaler Autismus.
Von außen wirkte Benji wie ein völlig normaler Junge, wenn auch sehr wortgewandt und sensibel, aber in seinem Inneren sah er sich mit einer Welt konfrontiert, die ihn oft überwältigte. Sein neustes Symptom, die Anfälle, bei denen sein gesamter Körper quasi abschaltete, stellten uns vor ein weiteres Rätsel. Hatte das Ganze etwas mit seinem Asperger-Syndrom zu tun? Wir hatten ihn so sanft wie möglich durch seine Kindheit und Jugend geleitet, zum Beispiel hatten wir ihn statt auf die Regelschule auf eine kleine, familiärere Schule geschickt. Nun fragte ich mich jedoch, ob der Druck durch seine Ausbildung und die vielen Jahre, in denen er mit verwirrenden sozialen Situationen zu kämpfen hatte, etwas mit seinen neu entwickelten Anfällen zu tun haben könnten.
Wenn einer unserer Liebsten in Gefahr ist, sehnen sich viele von uns nach Hilfe und einer leitenden Hand. Neben der Arbeit der Ärzte, die zugaben, dass viele Vorgänge im menschlichen Gehirn ihnen nach wie vor ein Rätsel waren, und die Benji nur wenig zufriedenstellende Antworten bezüglich seines Zustands geben konnten, war das Zusammentreffen mit den Waldkäuzen vielleicht einer der glücklichsten Zufälle für meinen Sohn. Benji war begeistert von den Eulen, sie erweckten ihn ein Stück weit wieder zum Leben. Er nahm das Zeichen, das sie ihm in dieser Nacht geschickt hatten, dankbar an. Zusammen fragten wir uns, wie wir den Waldkauz zurück in unseren Garten locken könnten.
Dann erinnerte ich mich an meinen Freund Stephen.
»Du kannst gern mal abends vorbeikommen und dir den wilden Waldkauz anschauen, den ich trainiert habe«, hatte er mir vor einiger Zeit einmal angeboten. »Es ist ein Männchen, das sich an mich gewöhnt hat. Er kommt zu mir, wenn ich pfeife, dann gibt es was zu essen für ihn. Ich schicke dir ein paar Bilder.«
Die Fotos waren am nächsten Tag in meinem Posteingang gelandet: beeindruckende Aufnahmen eines stattlichen Greifvogels mit Augen in der Farbe von Obsidianen, einem creme- und schokoladenfarbenen Gefieder und kräftigen Krallen. Er hockte an einer Futterstelle in der Nähe von Stephens umgebauter Scheune, und mit seinen schwarzen Kieselaugen starrte er so direkt und intensiv in die Kameralinse, wie das nur eine Eule kann. Jetzt hatte ich einige brennende Fragen an Stephen. War es möglich, unseren Waldkauz zurück auf den Balkon zu locken, indem wir ihn fütterten? Am Telefon schlug Stephen mir vor, dass ich ein paar Eintagsküken in der Tierhandlung kaufen und sie zerhacken könnte, also machte ich mich auf den Weg, um dieses unappetitliche Gut abzuholen. Die junge Mitarbeiterin zeigte mir die Gefriertruhe, in der die Küken aufbewahrt wurden.
»Sie werden hauptsächlich als Schlangenfutter verwendet«, erklärte sie mir. Zögernd nahm ich fünf der Küken aus der Truhe. Ich machte mir Sorgen, wie meine Familie auf diese neue Spezialität reagieren würde. In dem Moment, als die Mitarbeiterin die Gefriertruhe schloss, plumpste ein mittelgroßes Nagetier mit einem dumpfen Knall auf den Boden.
»Oh«, sagte ich. »Ein Meerschweinchen.« Ich hatte früher Meerschweinchen als Haustiere gehabt, und für einen Augenblick zweifelte ich an meinem Vorhaben. Die Verkäuferin stopfte das unglückliche Tier zurück in den Kadaverhaufen in der Gefriertruhe und führte mich zur Kasse, damit ich meine Küken bezahlen konnte.
Das Fütterungsexperiment brachte leider kein Glück, also meldete ich mich erneut bei Stephen. Trotz des beißenden Ostwinds war er draußen und beobachtete seinen Waldkauz. Es war gerade Balzzeit, und der Vogel und seine Gefährtin sangen jede Nacht gemeinsam Liebesduette. Während der Balz, vom späten Winter bis in den Februar hinein, nähert sich das Männchen dem Weibchen an und plustert dabei sein Gefieder auf, wodurch jenes noch plumper aussieht als sonst. Manchmal schaukelt es hin und her, dann vor und zurück, hebt einmal den linken Flügel und dann den rechten. Wenn das nicht ausreicht, um das Weibchen zu überzeugen, versucht es es mit einem leisen Grunzen, legt sein Gefieder an und streckt kokett einen Fuß in Richtung des Weibchens aus. Manchmal verfolgt es seine Angebetete auch, während es kreischende und stöhnende Geräusche von sich gibt. Während all dies bei uns Menschen nicht unbedingt eine Erfolg versprechende Strategie ist, kann es bei Eulendamen durchaus funktionieren, und springt das Weibchen auf das Balzverhalten des Männchens an, signalisiert es seine Bereitschaft durch das Aufplustern und Schütteln seines Gefieders.
Als ich die Bilder betrachtete, die Stephen mir von dem Eulenpärchen geschickt hatte, konnte ich mich vor Aufregung kaum mehr halten. Gemeinsam untersuchte das Paar den Nistkasten, den mein Freund aufgehängt hatte, und im April verkündete Stephen, dass das Weibchen sich nun öfter im Inneren der Box befand als draußen. Brütete es Eier aus? Im Abstand von 48 Stunden können Waldkäuze pro Saison zwischen ein und sechs runde weiße Eier legen, die das Weibchen 28 Tage lang allein bebrütet.
Stephens Waldkauzdame ließ sich immer seltener blicken, und wenn sie einmal herauskam, dann nur sehr kurz, oder wie Stephen sagte: »Für einen Speiballen, ein großes und ein kleines Geschäft.« War sie auf einem ihrer seltenen Ausgänge, stieß das Waldkauzmännchen jedes Mal ein wunderschönes, hingebungsvolles Trillern aus, eine Art sanftes Wiegenlied, das klang, als verspreche es ihr, immer für sie da zu sein und sie mit Futter zu versorgen. Während das Weibchen sich um die Bebrütung der Eier und die Aufzucht der Küken kümmerte, war es in hohem Maße von der Versorgung durch das Männchen abhängig. Ich wollte das so gern mit eigenen Augen sehen, aber konnte nicht weg, weil ich an meinen Schreibtisch gefesselt war und die Aufsätze meiner Schüler korrigieren musste. Der Gedanke, dass das Waldkauzweibchen in dieser fordernden Zeit auf seinen Partner und seine häuslichen Instinkte angewiesen war, erinnerte mich an meinen Mann Rick, der mich in den ersten Tagen nach Benjis und Jennys Geburt mit Tee versorgt hatte, während ich die neugeborenen Babys stillte. Es war ein sehr verletzliches und irgendwo auch verzweifeltes Gefühl, und selbst der kleinste Akt der Unterstützung während dieser Zeit, das Versorgen mit Nahrung und Getränken, fühlte sich in diesen hilflosen ersten Tagen und Wochen der Mutterschaft herzerfrischend und bestärkend an. Jetzt wo ich mit dem Unterrichten meiner Schüler beschäftigt war und mich neben alldem auch noch um Benji kümmerte, hatte ich immer noch das Gefühl, dass ich diese tägliche Tasse Tee brauchte.
Ein paar Tage später verkündete Stephen, dass Küken geschlüpft waren. Er hatte die Vorgänge im Nistkasten genau beobachtet und konnte erkennen, dass die Jungtiere um Nahrung bettelten. Immer mehr E-Mail-Updates mit so verlockenden Titeln wie »Die unglaubliche Wahrheit!!!« und »Das musst du sehen!!!« trudelten täglich bei mir ein, bis ich es irgendwann nicht mehr aushielt. Als meine Arbeit endlich weniger wurde, griff ich zum Telefon und verabredete mich noch für den gleichen Abend mit Stephen. Ich wickelte mich in meinen Mantel, warf meine Gummistiefel und mein Notebook ins Auto und brach auf in die grünen Tiefen von Mid Devon. Noch auf dem Weg im Auto glätteten sich meine Sorgenfalten: Bald würde ich zwischen den Bäumen stehen und die Eulen sehen!
Den Rücken zu einer Eiche gedreht, die Augen geschlossen, atmete ich die feuchte Luft des Waldes ein und ließ die raue, kühle Präsenz der Erde in mich hineinsickern. Der abendliche Duft von Mulch und Moos erfüllte meine Sinne. Während wilder Bärlauch um meine Knöchel streifte und sein scharfer Geruch mir in die Nase stieg, löste sich der Knoten in meinem Magen, und der Stress der letzten Wochen fiel von mir ab.
»Er wird gleich auftauchen, auf jeden Fall vor neun«, versprach Stephen. Wir standen mitten in einem kleinen Mischwaldgebiet, das die steilen Hänge des ländlichen Devon bedeckte. Dumnonii, so nannten die einmarschierenden Römer die Stämme Devons: die Bewohner der tiefen Täler. Der Name trifft es ziemlich gut. Die Menschen hier sind zu Recht stolz auf ihre tiefen und verborgenen Täler. Und dieses Stück Land im Besonderen übte eine spezielle Anziehungskraft auf mich aus.
»Pfeif einfach weiter«, sagte Stephen zuversichtlich. »Er wird gleich da sein. Ich koche in der Zwischenzeit das Abendessen.« Er verschwand im Haus und ließ mich allein mit den Bäumen und dem Echo der Vögel zurück: Drosseln, Amseln und das durchdringende Krächzen von Krähen und Dohlen. Ich schaute nach oben, wenn auch nur für eine Sekunde. Ich wusste, er würde bald lautlos heranfliegen, und wenn ich auch nur einen Moment unaufmerksam war oder blinzelte, könnte ich ihn im schwindenden Licht verpassen.
Durch die frischen Blätter der Baumkronen zu meiner Rechten schimmerte schon der Mond, der im immer tiefer werdenden Blau der heranrückenden Nacht bereits aufgegangen war. Zu meiner Linken, über dem grasbewachsenen Hügel, hatte eine Fledermaus flitzend mit ihrer abendlichen Jagd begonnen. Ich pfiff erneut und versuchte, wie Stephen zu klingen, aber ich wusste, dass dieser Versuch für das erfahrene Ohr des Kauzes enttäuschend unzureichend klingen musste. Normalerweise kann man eine wilde Eule nicht einfach durch ein Pfeifen herbeirufen, aber irgendwie hatte Stephen es geschafft, diesen Waldkauz durch die Belohnung mit toten Küken und mit einer Menge Geduld zu trainieren.
Dann plötzlich, tief über das Blattwerk der Bäume hinwegfliegend, tauchte er auf. Ein herabschießender Schatten zwischen zahlreichen anderen Schatten. Er flog so niedrig, dass es unheimlich aussah, als schwebe er auf einem Luftkissen über dem Boden. Seine Flügel waren weit ausgestreckt, die Fluggeräusche durch die samtenen Fransen seiner Schwungfedern erstickt. Die lautlose Ankunft der Tiere muss auf unsere Vorfahren extrem verstörend gewirkt haben. Die Flügel aller anderen Vögel machen beim Fliegen Geräusche – warum nicht bei diesem? Und während der Waldkauz also geräuschlos durch die Wälder fliegt, schlagen alle anderen Vögel lauthals Alarm, wenn sie ihn erblicken. Was könnte unheimlicher sein?
Mit einem leisen Kratzen seiner Krallen landete der Kauz an der Futterstelle. Zumindest glaubte ich, dieses Geräusch zu vernehmen, als er sich auf der Sitzstange niederließ und seine Flügel anlegte, aber ich war mir nicht sicher. Er saß einfach nur so da und starrte mich an. Dieser durchdringende Blick. Ich war wie hypnotisiert: Weil ich viel kleiner als Stephen war und meine Silhouette sich von seinen großen, drahtigen Konturen unterschied, drückte ich mich gegen den Baum hinter mir, versuchte, mit seiner Rinde zu verschmelzen. Der Waldkauz hockte neben dem Köder an der Futterstelle, aber er nahm ihn noch nicht in seinen Schnabel. Mit gespitzten Ohren drehte er seinen Kopf in die eine und dann in die andere Richtung, bevor er sich wieder mir zuwandte. Er starrte mich misstrauisch an, und ich war mir nun absolut sicher, dass er erkannt hatte, dass ich nicht die übliche Gestalt war, die ihm allabendlich sein Futter brachte.
Der Vogel war aufmerksam, dabei aber doch ganz weit weg, sein Gesicht zuckte stetig, mal in diese und mal in jene Richtung, sodass er auch ja jedes Geräusch einfing, das der Wald ihm zuflüsterte. Seine Augen blitzten auf und verschwanden wieder, während sein Kopf sich um 270 Grad drehte. Ich hatte Zeit, die individuelle Zeichnung des Waldkauzes zu betrachten: die sanft gesprenkelte Brust und den dunklen Latz aus rostrotem Gefieder direkt unter seinem Gesichtsschleier. Mit einem Mal schnappte der Kauz sich einen Happen des in Würfel geschnittenen Köders, hob den Kopf, schloss die Augen und schluckte ihn in einem Stück herunter. Dann kam der nächste Brocken, schlucken, und weiter. Zwischen jedem Bissen schaute der Waldkauz zu mir herüber und fixierte mich. Ein weiterer flüchtiger Blick, und er war verschwunden, so still, wie er gekommen war. Ein paar Sekunden lang verharrte ich regungslos, in meinen Gliedern pulsierte das Adrenalin.
Als ich durch die zunehmende Dämmerung mit fröhlich quietschenden Gummistiefeln über den Hügel zurückstampfte und durch das Tor zu Stephens Haus zurück in die menschliche Welt trat, erhaschte ich einen Blick aus der Perspektive einer Eule. Unentdeckt von meinem Freund, beobachtete ich Stephen dabei, wie er dem Abendessen den letzten Schliff gab: Es roch verlockend gut, der Abend zwischen den Bäumen hatte mich hungrig gemacht. Es verging eine lange Zeit, bevor ich wieder in die Nacht hinausglitt, um die einstündige Heimfahrt anzutreten. Als wir auf die Terrasse traten, war der Himmel über uns voll von Sternen. »Hier …« Stephen drückte mir eine Kassette in die Hand. »Hör dir das auf der Fahrt an.« Ich schwebte durch das nächtliche Devon, aus dem Lautsprecher tönte eine alte BBC-Aufnahme von 1984, Das Jahr der Eule, erzählt von Andrew Sachs. Die Eulen durchdrangen die Dunkelheit im Inneren des Autos, sie bewachten mich auf meinem Weg nach Hause.
Zu Hause angekommen, schlüpfte ich ins Schlafzimmer. Der Radiowecker zeigte halb zwei an. Im Dunkeln tastete ich mich ins Bett und kroch unter die Bettdecke. Wie sollte ich das, was ich heute Nacht erlebt hatte, in Worte fassen? Wie konnte ich auch nur ein kleines Stück der Weisheit teilen, die mir diese faszinierenden Tiere immer wieder eröffneten? Ich konnte nur hoffen, dass ich wenigstens einen kleinen Teil dessen, was da draußen in der Dunkelheit wartete, hinüber ins Licht des Tages bringen und mit den Menschen in meinem Leben teilen konnte.
Von Stephen wurde ich regelmäßig mit Neuigkeiten versorgt. Der Nachwuchs der Waldkäuze war immer noch zu hören. Bald würde er sich auch zeigen. Stephen erzählte mir, er würde das Nest meiden, sobald es so weit sei: Waldkäuze haben einen extrem stark ausgeprägten Beschützerinstinkt und zögern nicht zuzuschlagen, wenn jemand ihre Jungen bedroht. Der Wildtierfotograf Eric Hosking beispielsweise erzählt in seinem Buch An Eye for a Bird davon, wie er bei dem Versuch, ein gutes Foto von einer brütenden Eule zu schießen, ein Auge verloren hat, weil er zu nah an den Vogel herankam.
Wann würden die jungen Eulen flügge werden? Nachts, wenn Stephen seinen Waldkauz füttern ging, brachte dieser einen Teil des Köders in den Nistkasten. Ich hätte zu gern gewusst, was in der dunklen Privatsphäre des Nestes vor sich ging. Zu meiner Freude machte mir Stephen bald darauf ein großzügiges Angebot: Er schlug vor, dass ich auf sein Haus aufpassen könnte, während er einen Ausflug nach Northumberland machte, um dort Seevögel zu beobachten. Die Tage, bis es so weit war, verbrachte ich voll Ungeduld damit, mir Szenarien auszumalen, in denen eins der Eulenkinder aus dem Nest fiel und ich es retten musste. Ich beschloss, dass ich so viel Zeit wie möglich im Wald verbringen würde, nur für den Fall, dass ein verloren gegangenes Eulenbaby wieder ins Nest gesetzt werden musste. Wenn bei jungen Waldkäuzen der Entdeckerinstinkt einsetzt, fallen sie häufig aus dem Nest, allerdings sind sie auch so gute Kletterer, dass sie sich in vielen Fällen selbst retten können. Findet man ein Waldkauzjunges am Boden, ist es in der Regel am besten, es dort zu lassen, zumal die Eltern meist nicht weit entfernt sind und durch die ständige Kommunikation mit ihren Jungen genau wissen, wo diese sich befinden. Selbst wenn man einfach nur versucht, das kleine Eulchen auf einem Ast in Sicherheit zu bringen, besteht die Chance, dass man von einer wütenden Elterneule verprügelt wird. Und wenn man nicht gerade einen Motorradhelm zum Schutz vor deren Krallen trägt, kann man in diesem Fall sicher mit einem enormen Blutverlust rechnen.
Junge Waldkäuze werden normalerweise 28 bis 37 Tage nach dem Schlüpfen flügge. Eine neue E-Mail von Stephen mit dem Titel »Das wirst du nicht glauben« mit insgesamt acht Ausrufezeichen am Ende ließ meine Eulenrettungsträume zerplatzen. Mit schwitzenden Händen öffnete ich die Mail, und auf meinem Bildschirm erschien ein Bild einer fliegenden kleinen Eule. Ich hatte es verpasst! Ein kurzer Film zeigte die drei Eulenjungen dabei, wie sie aus dem Nistkasten hüpften und anmutig davonflogen. Meine Illusion war zerstört. Die Eulenkinder hatten das Nest verlassen. Ich würde keine Eulenmutti sein, nicht mal für einen kurzen Augenblick.
»Sie sind nicht weit weggeflogen«, versicherte mir Stephen. »Du siehst sie hier bestimmt in den Bäumen herumfliegen. Sie haben sich vielleicht ein Stück weit vom Nest entfernt, aber man kann sie immer noch hören.« Junge Waldkäuze bleiben mehrere Wochen lang in der Nähe des Nistgebiets und wagen sich nur langsam weiter weg, während sie ihre Flugkünste trainieren.
Jenny und ich packten unsere Wildcampingausrüstung ins Auto. Wir würden nicht nur auf Stephens Haus aufpassen, sondern auch draußen unter den Bäumen schlafen und dem Kreischen der Eulen lauschen. Stephen versicherte uns, dass wir sie bestimmt auch zu Gesicht bekommen würden. Ihr Revier im Wald sei klein, und ihm zufolge waren sie laut genug, um sie ohne große Schwierigkeiten ausfindig zu machen. Jenny würde für ihr Examen lernen, während ich arbeitete, und zwischendurch würden wir die Tierwelt beobachten, jede Nacht den Waldkauz füttern und die Nächte in der Wildnis genießen.
Am Tag nach unserer Ankunft machte Stephen sich in aller Frühe auf zu seiner Vogelbeobachtungstour. Sein scheuer Collie Badger, auf den wir ebenfalls aufpassten, lag in einer Ecke im Wohnzimmer und beäugte uns misstrauisch. »Er ist nur sozial unbeholfen, Mama«, sagte Jenny, während ich versuchte, mir die Freundschaft des Hundes mit einem Würstchen zu erkaufen. »Gib ihm einfach Zeit.« Später, als ich auf dem Sofa ein Buch las, eine Hand vom Polster hängend, spürte ich, wie eine Schnauze meinen Arm knapp unterhalb des Ellbogens anstupste. Badger saß neben mir, ein schüchternes Grinsen auf dem Gesicht, als wären wir die besten Freunde und er hätte nur so getan, als ob er mich nicht leiden könnte. Er erlaubte mir sogar, eine Zecke zu entfernen, die ich beim Streicheln hinter seinem Ohr entdeckte. Pflichtbewusst legte ich sie in Stephens Zeckenbehälter auf der Küchenkommode.
Stephen, dessen eigentlicher Beruf Tierarzt ist, hatte mir erzählt, dass er den größten Geldbetrag, den er jemals für eine seiner Fotoaufnahmen bekommen hatte, der Makro-Nahaufnahme einer Zecke zu verdanken habe. Das Bild war von einer pharmazeutischen Firma gekauft worden. Jetzt stellte er für dasselbe Unternehmen ein kleines Experiment an, bei dem er einige Zecken ausbrütete und versuchte, ein Bild davon zu ergattern, wie die Jungen aus den Eiern schlüpften. In einem alten Eisbecher mit etwas Gras wuselten sechs oder acht von ihnen herum, die sich alle an unterschiedlichen Punkten in ihrem Lebenszyklus befanden. Ich hatte mich inzwischen an den Zeckenbecher gewöhnt, aber als Rick zu Besuch kam, war er mehr als skeptisch. »Das macht mich ganz verrückt«, sagte er beim Abendessen, während er nicht aufhören konnte, darüber nachzudenken, was da wohl im Gras lauerte. Ich stellte den Becher und seinen experimentellen Inhalt an einen unauffälligeren Ort, wobei ich darauf achtete, regelmäßig das Gras zu wässern und sicherzustellen, dass keine der Zecken entkommen konnte.
Flügge gewordene Waldkäuze in den Bäumen zu entdecken, kann eine Herausforderung sein. Oft sitzen sie hoch oben in den Ästen, versteckt vom frischen Frühlingslaub, und sehen uns, lange bevor wir sie erspähen können. Abends sind sie deutlich auffälliger, weil sie da nach Nahrung rufen. Es gibt nur einen Weg, die Vögel garantiert zu Gesicht zu bekommen – und zwar indem wir uns nicht bewegen, genau hinhören und genauso unsichtbar werden wie die Eulen selbst. Man muss still stehen und warten, leise wie Efeu, und in die Nacht hineinlauschen. Das kann ein langer Prozess sein, aber nur so kommen wir der Natur näher.
Die Ausbreitung der jungen Waldkäuze, nachdem sie das Nest verlassen haben, verläuft in mehreren Phasen. Zuerst finden sie einen Platz in der Nähe, an dem sie sich festkrallen, einfach um ihre Bewegungen zu üben und ihre Fähigkeiten im Balancieren und Sitzen zu trainieren. Zu diesem Zeitpunkt wagen sie sich noch nicht weit vom Brutplatz weg, da sie in puncto Nahrungsaufnahme immer noch komplett abhängig von ihren Eltern sind. Im Wald nahe Stephens Haus, inmitten der zahlreichen Laute anderer Vögel und des Raschelns und Rauschens von Wind und Regen, hatten die Waldkauzeltern ihre frisch flügge gewordenen Kinder zu einem geeigneten Sitzplatz in der Nähe des Nestes geleitet. Von dort aus brachen die noch mit Flaum bedeckten Jungvögel, schlaksig, grau und unsicher, wie sie waren, zu ihren Erkundungstouren auf, die sie nie weit weg führten, und abends und nachts riefen sie dann in die Dunkelheit hinein, um die Eltern (und uns) an ihren Standort zu erinnern. Wenn sie zu Boden purzelten, konnten sie sich leicht auf einen sicheren Ast retten, indem sie sich mit ihren nadelscharfen Krallen an Efeu, Ästen und der Rinde von Bäumen emporhangelten.
Die Rufe der Jungtiere sind ihr Schlüssel zum Überleben. Sie sind spitz wie die Laute einer aufgeregten Amsel, ein hohes, lang gezogenes Piepen, und wenn man genau hinhört, hat man sie bald verinnerlicht und kann ihren Klang erkennen. Bis zum Frühherbst bleiben die jungen Waldkäuze in der Nähe ihres Nestes und ihrer Eltern, erst dann sind ihre Flugfähigkeiten gut genug ausgeprägt, und sie nähern sich dem Erwachsenenalter. Wenn sie unabhängig genug sind, helfen ihnen ihre Eltern oft beim Verlassen des Reviers, indem sie den im Umzug begriffenen Nachwuchs mit viel Gejohle und Gekreische ankündigen. Zu dieser Zeit des Jahres kann man nachts im Wald ein lautstarkes Krächzkonzert vernehmen – erwachsene Waldkäuze verteidigen ihr Revier gegen ankommende Jungtiere, die wiederum versuchen, ein neues Jagdgebiet für sich selbst zu etablieren. Je nach Lebensraum und dem Vorkommen von Beutetieren kann das Territorium eines Waldkauzes recht begrenzt sein. Die Untersuchung von beringten Eulen hat gezeigt, dass die durchschnittliche Entfernung, die zwischen dem neuen Revier eines erwachsenen Waldkauzes und seinem Brutplatz besteht, nur zwischen einem und vier Kilometern beträgt. Hier im Süden, wo wir leben, sind es im Schnitt sogar nur ein bis zwei Kilometer, während es im Norden vier oder fünf Kilometer sein können. Diese Unterschiede lassen sich auf das Klima, den Lebensraum und/oder die Dichte der Beutetiere zurückführen, mit Sicherheit aber können wir sagen, dass Waldkäuze Territorialvögel sind. Auch Stephens Waldkauz wagte sich nie weiter als zwei oder drei Kilometer von seinem Zuhause weg. Das mag der Grund sein, warum der Vogel jedes Mal Stephens Pfiff hörte und angeflogen kam, sobald an der Futterstation etwas zu essen für ihn wartete.
Auch im Juni und Juli beobachtete Jenny mit mir die Eulen. Ihr Examen war vorbei, und sie war nicht mehr gestresst; nach dem Sommer wartete die neue Welt der Oberstufe auf sie. Wenn sie nicht gerade an wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen mit ihren Freundinnen Erin, Hazel und Kit teilnahm, leistete sie mir in Stephens Haus Gesellschaft.
»Warum bringst du deine Freundinnen nicht mal her?«, fragte ich naiv.
»Mama«, kam die genervte Antwort, »meine Freundinnen haben keinen Bock auf Eulen!«
Ein großer Teil der Mutterschaft besteht darin – so erkannte ich langsam –, dass man als Mutter lernt, still zu sein. Jenny legte in dieser Zeit großen Wert auf ihre Privatsphäre und umarmte mich nur noch manchmal, wenn wir gemeinsam im Wald unterwegs waren. Zwischen all den Bäumen, im flackernden grünen Licht und mit der Aussicht auf ein baldiges Zusammentreffen mit den Eulen verschwand die Spannung zwischen uns. Manchmal wenn der Weg breit genug war, ertappte ich meine heranwachsende Tochter dabei, wie sie meine Hand hielt, während wir tiefer in den Wald hineingingen. In diesen kostbaren Momenten bekam ich einen Eindruck davon, wie sich unsere Beziehung in den kommenden Jahren entwickeln könnte, wenn die Fallstricke und Tücken, die das Teenageralter unausweichlich mit sich bringt, überstanden wären.
»Hör mal!«, sagten wir beide gleichzeitig. »Ein junger Waldkauz!«
Der hohe Ruf klang kratzig, so als würde man ein Messer an einem Schleifstein schärfen. »Ki-wipp, ki-wipp«, wiederholte der Kauz. Wir schauten hinauf in die Äste und lauschten dem heiseren Ruf des Jungvogels, der auf die Rückkehr seiner Eltern wartete. Junge Waldkäuze sind für menschliche Augen vom Boden aus fast unmöglich zu entdecken. Ihr noch flaumiges Tarngefieder schützt sie vor neugierigen Blicken, doch ihre lauten, beharrlichen Schreie verraten sie. Obwohl ihre Rufe so durchdringend sind, ist es für uns Menschen dennoch nicht einfach, sie zu orten, weil unser Hörapparat nicht so gut ausgeprägt ist wie der der Euleneltern. Andere Greifvögel wie zum Beispiel Bussarde, Habichte, Sperber oder andere Eulen können den Rufen jedoch leicht folgen und sich an den jungen Eulen vergreifen.
Zu unseren Füßen, im Gestrüpp aus Glockenblumen und Bärlauch, entdeckte ich die zerfressenen Überreste eines zerstückelten Spechtes, der nur noch an einem Fuß, dem ausgeprägten scharfen Schnabel und dem skalpierten Schädel zu erkennen war. An seiner Stirn klebte noch ein kleiner Rest des scharlachroten Gefieders, es sah aus, als hätte der tote Vogel eine blutrote Augenbraue. Ich hob den Schädel auf und wickelte ihn in ein Taschentuch, um ihn mit nach Hause zu nehmen, wo ich ihn meiner wachsenden Knochen- und Kadaversammlung hinzufügen würde.
»Mama, schau mal!«
Jenny zeigte auf einen Umriss, der sich durch das Blattwerk der Bäume bewegte: Der junge Waldkauz hatte zum Flug angehoben und sauste tief über unsere Köpfe hinweg. Wir konnten ihn nur erkennen, weil er sich bewegte. Gebannt beobachteten wir, wie er sich in einem neuen Baum niederließ, wo wir seine Gestalt schon bald nicht mehr ausmachen konnten. Erst als wir uns von ihm entfernten, drehte er sein Gesicht wie ein Radar in unsere Richtung, so als könne er seinen Blick nicht von uns losreißen.
Zurück zu Hause beobachtete Rick mich dabei, wie ich mich bückte und vorsichtig einen kleinen, gefiederten Kadaver vom Boden aufhob. Ich hatte meinen Mann dazu überredet, mich auf meinem Lieblingsspaziergang in den Wald zu begleiten, und nun musste er Zeuge davon werden, wie ich einen neuen Fund für meine Sammlung machte.
»Bitte. Nicht noch einen«, stöhnte er.
Unser Herbstspaziergang am Rande des Moores hatte für ihn eine grausige Wendung genommen – für mich war es ein Glückstreffer. Der Waldkauz lag bewegungslos unter einem Weißdornstrauch neben einer kleinen Methodistenkapelle. Er musste in der Nacht wohl einfach tot umgefallen und von seinem Ast heruntergepurzelt sein. Der Leichnam mit den vertrauten rotbraunen Federn war wunderschön und unversehrt.
»Müssen wir ihn mitnehmen?«
Ich untersuchte die Flügel, die rostbraun gestreiften Schwungfedern mit ihren feinen Samtfransen und der Innenfahne, die weicher war als Distelwolle. Ich musste diese tote Eule haben, zu Forschungszwecken. Fasziniert betrachtete ich die extrem weichen, kammartigen Ränder der Federn. Diese »Fransen« sind es, die den Flug der Eule so lautlos machen, indem sie die beim Fliegen unter den Flügeln entstehenden Luftwirbel auflösen und so das Rauschen vermeiden, das die meisten Vögel beim Schlagen ihrer Flügel erzeugen. Durch die geriffelten, kammartigen Ränder ihrer Federn erzeugt die Eule stattdessen »Mikroturbulenzen« in der Luft, und diese dämpfen ihr Fluggeräusch enorm.
Nachdem ich sie auf Maden und Blut untersucht hatte, legte ich die frisch verstorbene Eule auf der Hundedecke auf dem Rücksitz unseres Autos ab. In meinen Büchern hatte ich gelesen, dass es zwei Arten von Waldkäuzen gibt, die jeweils durch unterschiedliche »Farbphasen« gehen. Die Waldkäuze im Norden Großbritanniens weisen statt einer warmen Rotbraunfärbung oft einen gräulichen Farbton auf: Das ist die graue »Phase«. Diese Bezeichnung ist etwas verwirrend, weil sie es so klingen lässt, als würde die Eule in verschiedenen Phasen ihre Farbe ändern, was Quatsch ist. Obwohl das Gefieder eines Waldkauzes variieren kann, ändert eine einzelne Eule nie ihre Farbe. Da Großbritannien vor etwa achttausend Jahren vom Rest der europäischen Landmasse abgetrennt wurde, ist es möglich, dass sich durch die geografische Isolation zwei verschiedene Arten von Waldkäuzen entwickelt haben: Strix aluco aluco und Strix aluco sylvatica. Während die erste Art weiter nördlich in Großbritannien zu finden ist, gehören die im Süden beheimateten rotbraun gefärbten Waldkäuze wahrscheinlich eher zu letzterer Unterart. Ganz sicher ist das allerdings nicht, denn die Eulenforschung hat hier noch einiges an Arbeit zu leisten.
»Was wirst du diesmal damit machen?«, fragte Rick.
Zurück zu Hause steckte ich den Waldkauz in meine »Leichenhalle« in der Tiefkühltruhe. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir mir bereits einen eigenen Gefrierschrank gekauft, in dem ich meine Funde aufbewahren konnte. Momentan befanden sich darin:
•Ein toter Zilpzalp (Kollision mit einem Fenster)
•Eine tote Schleiereule (neben einer Nistbox gefunden)
•Eine junge Ratte (in einem Stück von einer Katze angeschleppt)
•Eine Feldmaus (überfahren)
•Eine Spitzmaus (wieder die Katze)
•Sechs Eintagsküken (in der Zoohandlung als Futter für die Waldkäuze gekauft)
•Ein Specht (Teile, halb gefressen im Wald gefunden)
Unsere Freundin Hannah hatte schließlich die zündende Idee, was ich mit meiner wachsenden Kadaversammlung anstellen könnte. Eines Tages stürmte sie mit einer stattlichen Kiste voll mit Sezierbesteck, verschiedenen Pulvern und seltsamen, mit Chemikalien gefüllten Töpfen durch die Tür, im Schlepptau ihre Freundin aus Queensland in Australien, Ali Douglas. Ali ist die leitende Präparatorin in der Taxidermie-Werkstatt des Naturkundemuseums in Queensland, und sie schien nichts gegen Hannahs Vorschlag zu haben, einen Abend ihres Urlaubs damit zu verbringen, das zu tun, was sie normalerweise in ihrem Job tat, zum Beispiel eine tote Eule zu häuten. Im Gegenteil: Sie freute sich riesig über den Vorschlag!
Aus der Ecke des Raumes leuchteten die Lichter unseres Weihnachtsbaums. An seiner Spitze prangte statt eines Engels eine Eule. »Lass uns loslegen. Dann können wir später Gin trinken«, schlug Ali herzlich vor. »Hast du Tonic Water?« Wir saßen um meinen Esstisch herum. Hannah wollte die Kunst der Taxidermie erlernen, und da sie wusste, dass ich einige tote Tiere zu Hause hatte, hatte sie darum gebeten, eine meiner Eulen häuten zu dürfen. Ich wollte die Eule später noch in ein Labor schicken, um sie auf Toxine untersuchen zu lassen, aber Ali versicherte mir, dass sie die Haut im Labor nicht brauchten, also sagte ich zu.
Ich hatte die Eule aufgetaut und meine Kamera positioniert, um unser abendliches Vorhaben zu filmen. Warum, fragte ich mich, wollte jemand ein totes Lebewesen, dessen Licht erloschen war, wieder zum Leben erwecken, wenn auch nur scheinbar? Es kam mir plötzlich wie eine starke Metapher vor, dass wir in der heutigen Zeit, in der so viele Arten aussterben, dass wir das Phänomen als »das sechste Massensterben« bezeichnen, einen so großen Aufwand betrieben, um ein einziges Exemplar einer Gattung »wiederzubeleben«. Lag es daran, dass wir ohne diese wilden Wesen nicht ganz wir selbst sein konnten und dass wir, um sie zu verstehen, ihrer Vergänglichkeit ins Auge sehen mussten?
Die Kamera nahm den Vogel auf, wie er friedlich und unversehrt auf dem Tisch lag, dann plötzlich bewegte sich Rick mit hoher Geschwindigkeit durchs Bild und murmelte etwas davon, dass er von einem toten Vogel und drei Frauen überwältigt werde, die eine ganze Sammlung von scharfen Messern dabeihätten.
»Ich bin normalerweise nicht zimperlich, aber das …«, sagte er und machte die Tür hinter sich zu.
Ali bekommt oft Anfragen, ob sie das Sezieren von Tieren anderen Menschen beibringen oder bei Präparationsarbeiten aushelfen kann. »Und immer kommen sie von Frauen. Wir haben im Museum Dutzende Freiwillige, und fast alle davon sind junge Frauen.«
»Wie kommt das?« Dieses Ungleichgewicht der Geschlechter wirkte sehr bizarr auf mich.
»Ich weiß nicht. Es scheint, als ob Frauen von toten Dingen angezogen würden.«
Müssen wir als Frauen erst etwas über den Tod lernen, bevor wir Leben in die Welt bringen können? Oder vielleicht haben wir auch einfach nur weniger Angst zuzugeben, dass wir neugierig sind.
Hannah stellte sicher, dass alles, was wir für das Häuten der Eule brauchten, aus der Schachtel auf den Tisch wanderte. Konzentriert breitete sie ihre Skalpelle aus, dann kamen weitere Werkzeuge hinzu: Pinzetten zum Entfernen von Fleisch, Zangen und Scheren, Drahtschneider und feine Metallschaufeln, die speziell für das Entfernen des Gehirns aus Vogelschädeln gedacht waren. Sie hatte auch einige Bohraufsätze dabei, die für die Arbeit an größeren Knochen und zum Befestigen von präparierten Objekten an Holzvorrichtungen gedacht waren.
Wie war Ali zur Taxidermie gekommen, fragte ich mich. Sie erzählte mir, dass es vielleicht etwas mit ihrer Erziehung zu tun habe – ihr Vater war ein begeisterter Naturforscher, und als Kind hatte sie ihm ab und zu dabei zugesehen, wie er Taxidermie als Hobby betrieb. Später dann hatte sie angefangen, sich mehr und mehr für die Arbeit im Museum ihrer Stadt zu interessieren, und begann, als Freiwillige dort zu arbeiten. Bereits als Kind hatte sie eine Faszination für Tiere entwickelt, als Erwachsene wurde diese Leidenschaft dann durch die Anfertigung von Requisiten und Puppen fürs Theater neu entfacht. Besonders bei der Arbeit mit Puppen merkte sie, dass die skelettartigen Strukturen, die unter dem Pappmaschee steckten, es ihr angetan hatten. Auch hier war es die Wiedererweckung lebloser Kreaturen, das Mitgefühl für ein totes Lebewesen und die Faszination für sein Innenleben, die Ali begeisterten. Vor allem aber ging es ihr bei der Präparation von toten Tieren um die Kontaktaufnahme, um die Arbeit im Naturschutz und die Bildung von Außenstehenden: »Ich möchte den Menschen etwas über die Tiere beibringen. Das ist die einzige Möglichkeit für viele von uns, nahe an diese Kreaturen heranzukommen und sie richtig zu betrachten.«
Ist das der Grund, warum wir Menschen so auf das Zerlegen und Konservieren von Tieren fixiert sind? Weil wir uns wünschen, ganz nah dran zu sein? In früheren Zeiten war das Hauptziel der Taxidermie tatsächlich die Konservierung, der Erhalt der Tiere selbst. Die Häute von unbekannten Tierarten, die nie in natura gesichtet worden waren, wurden von Reisenden aus weiter Ferne mitgebracht und über unförmige Drahtgestelle gespannt. Ungenaue, seltsam anmutende Arbeiten wurden bald zu einer Art wissenschaftlicher Kunst, bei der es um mehr ging als nur um taxis (das griechische Wort für Anordnung) und derma (die Haut). Während die Menschen immer bessere Möglichkeiten fanden, die Häute toter Tiere zu konservieren, verfeinerten mit der steigenden Nachfrage nach Gerbleder im 19. Jahrhundert auch die Präparatoren ihr Handwerk. Gleichzeitig wuchs bei den Menschen das Interesse an den komischen fremden Kreaturen, die von Entdeckern wie Kapitän James Cook von ihren Reisen mitgebracht wurden. Cook hatte bereits im Jahr 1771 eine Känguruhaut aus Australien nach London verschifft, und als Kapitän John Hunter 1798 das Fell und die Skizze eines Schnabeltiers nach Europa schickte, hielt man es für einen Schwindel. Um sich ein Urteil zu bilden, wollten die Menschen sehen, wie diese Kreaturen im echten Leben aussahen.
Nach einem Taxidermie-Wettbewerb im Jahr 1880 in Amerika, bei dem die vorgestellten Exemplare danach beurteilt wurden, ob es sich um naturgetreue und realistische Nachbildungen handelte, wurde das Aussehen der Artefakte langsam weniger merkwürdig. Wissenschaftliche Genauigkeit stand nun im Fokus: Charles Darwin beispielsweise hätte nicht auf der HMS Beagle mitreisen und seine vielen Proben sammeln dürfen, wäre er nicht ein geübter Naturforscher gewesen. Die Naturkundemuseen von Paris und London zogen immer mehr Interesse der breiten Öffentlichkeit auf sich – zur Weltausstellung im Jahr 1851 fanden sich Taxidermisten aus aller Welt ein, um ihre nun populäre Form der kunstvollen Naturgeschichte zu präsentieren.
Ein Jahrhundert später erlebte die Taxidermie ein Revival; seit dem späten 20. Jahrhundert ist sie wieder in Mode, und nur in wenigen Städten findet sich kein Tierpräparator. Stellen wir Menschen uns auf ein Podest, indem wir der Vorstellung anhängen, dass nur wir allein das Leben nach dem Tod wiederherstellen können? Wir arrangieren die präparierten Tiere als Stillleben, machen sie zu ästhetischen Nahaufnahmen von lebensechten Kreaturen in vermeintlich charismatischen Posen. Doch die durchdringenden toten Augen eines ausgestopften Tieres funkeln vor Ironie. Das Tier sieht nicht glamourös, sondern eher beschämt aus. Mit unserem menschlichen Blick halten wir es in einer Art abstruser Unterwelt gefangen.
Ali hielt das Skalpell wie einen Federkiel, so als ob wir uns getroffen hätten, um uns in Kalligrafie zu üben. Die Eule sah aus, als befände sie sich im Tiefschlaf, die Augen fest geschlossen, die fest zusammengepressten Lider diagonal zu ihrem langen Schnabel ausgerichtet. Der Gesichtsschleier war in einer Art erstarrtem Zucken zusammengeknautscht, was ihm eine perfekt symmetrische Herzform verlieh. Es wirkte, als runzle die Eule die Stirn, als würde sie ihr zartes Gesicht beschützen wollen, indem sie die Brauen abwehrend zwischen die Augen zog. Selbst im Tod sah sie irgendwie schwermütig aus.
Die Intimität dessen, was Ali tat, überraschte mich: Einen Punkt zwischen den dichten Brustfedern zu finden, an dem wir anfangen konnten, erforderte enormes Fingerspitzengefühl von ihr. Nachdem sie das Gefieder geteilt hatte, nahm sie das Skalpell und strich mit der Spitze der Klinge über die freigelegte Haut, um mit einem leisen Kratzen die Brust des Vogels zu öffnen. Es war kein Blut zu sehen, nur dunkle Muskelmasse. Geübt ertastete Ali das Brustbein unter der dünnen Haut der Eule, ein Prozess, der mich schmerzlich daran erinnerte, wie ich bei unseren brütenden Hühnern schon oft den warmen Brutfleck an der Brust ertasten konnte, wenn ich sie vom Boden aufhob.
Taxidermie, erklärte Ali, bedeute, tote Dinge lebendig aussehen zu lassen. Manchmal tragen die Artefakte in Museen ein Etikett, das in der Seele wehtut: »Das letzte bekannte Exemplar von …« Die Einsamkeit der Kreatur wird beim Betrachten spürbar. Mir kommt es dann oft so vor, als könnte ich nicht nur die Einsamkeit des Tieres fühlen, sondern auch unsere eigene.
Ali machte den Schnitt, und das Brustbein wurde sichtbar. Es verursachte ein kaum wahrnehmbares Geräusch, so als würde man durch Seidenpapier schneiden. Hannah nahm mit den Fingerspitzen eine feine Prise eines weißen Pulvers namens Borax auf, das sie in kleinen Sprenkeln auf die Haut der Eule streute, um so die dünne Fettschicht darunter auszutrocknen. Da die Vögel es sich nicht leisten können, fett zu sein, war die buttergelbe Schicht hauchdünn. Selbst dieser bescheidene Anteil an Körperfett zeigte allerdings, dass die Eule gut genährt war; sie war zumindest nicht verhungert, wie es viele unerfahrene Eulen in ihrem ersten Jahr tun, bevor sie ihre Jagdfähigkeiten perfektioniert haben.
Die Schenkelknochen der Eule mussten gebrochen werden, sodass sie leichter aus der Haut gleiten konnten – je mehr Ali die Eule zerstückelte und sie quasi von innen nach außen kehrte, desto unwohler fühlte ich mich.
»Man zieht die Haut ab wie einen Handschuh«, erklärte Ali. »Der Körper kommt in einem Stück heraus, mehr oder weniger.«
Wir vermieden es, die Eingeweide aufzuschneiden, denn dies war keine Autopsie, sondern eine Häutung. Indem wir die Brust und den Bauch unversehrt ließen, sah das, was wir am Ende übrig hatten, ein wenig so aus wie ein kleiner Hühnerkadaver, die Farbe ein tiefes Blutrot, so wie man ihn auch in einer Metzgerei sehen könnte. Als Nächstes mussten wir den Vogel kopfüber aufhängen, damit wir ihm die Haut vom Schwanz über die Brust »ausziehen« konnten. Das kleine Eulengesicht zerknautschte durch den Druck noch mehr, als wir die Haut wie einen eng anliegenden Pullover vom Körper schälten – der Ausdruck »hauteng« würde sich für mich nach diesem Tag nie mehr so anfühlen wie zuvor.
Stück für Stück streifte Ali mithilfe des Skalpells die Haut ab. Mittlerweile lag die Brust frei, fleischig und muskulös, perfekt ausgestattet für den Flug. Die Farbe brannte sich in meine Netzhaut ein – roh, lila-rot, satt wie Kernholz. Die gesamte Länge des Halses schälte sich aus der Haut heraus, eine Aneinanderreihung ineinandergeflochtener Knorpel, die man der Eule zu Lebzeiten nicht ansah – im Sitzen sieht es so aus, als hätte sie überhaupt keinen Hals, aber spickt man unters Federkleid, erkennt man, dass der Hals sich in einer geschwungenen S-Form vom Körper zum Schädel windet.
Die Haut über den Schädel zu ziehen und vom Körper zu entfernen, war eine Herausforderung, aber wir schafften es. Andächtig sahen wir auf den gehäuteten Schädel herab; ich studierte seine Form ganz genau. Eulen verdanken einen Großteil ihrer Popularität ihren flachen, menschenähnlichen Gesichtern, aber ohne den gefiederten Gesichtsschleier zeigte sich ein ganz anderes Bild. Die Augen waren leicht auseinandergerichtet, um ein möglichst weites Sichtfeld zu erzeugen – die Überlappung der beiden Sehbereiche ist bei Eulen so gering, dass sie ihren Kopf schütteln müssen, um das Höchstmaß aus ihrem binokularen Sehvermögen herauszuholen. Der Schnabel der Eule ist viel länger, als man auf den ersten Blick annimmt, denn normalerweise ist er ins Gefieder des Gesichtsschleiers eingebettet. Jetzt aber konnte ich sehen, dass der lange Schnabel sich weit öffnen ließ – das machte es leicht, eine rundliche Wühlmaus in einem Happs zu verschlingen und problemlos einen Speiballen auszuspucken.
Und: Eulen haben riesige Augenhöhlen! Sie haben die Form von langen Röhren, knorpelig und unbeweglich; die sogenannten Skleralringe sind dazu da, die riesigen Augen im Kopf des Vogels zu halten und zu verhindern, dass sie sich im Schädel bewegen. Ich konnte nun mit eigenen Augen erkennen, warum Eulen ihre Augäpfel nicht bewegen konnten und warum sie einen so langen und elastischen Hals benötigten. Im Vergleich zu uns Menschen hat die Eule einige zusätzliche Halswirbel – wir haben sieben Stück in unserem Hals, die Eule hat 14 –, außerdem hat man vor Kurzem herausgefunden, dass innerhalb der einzelnen Wirbel mehr Platz besteht als bei uns Menschen, um einen ungehinderten Blutfluss zu garantieren. Das erklärt, warum die Eule ihr Gesicht fast einmal ganz herumdrehen kann, ohne dabei eine tödliche Embolie zu erleiden.
Den Eulenkörper in meinen Händen haltend, fragte ich mich erneut, was uns an der Taxidermie faszinierte. War es die Begeisterung für die Wissenschaft, ein Fetisch oder vielleicht einfach der Wunsch, uns einem Tier auf intime Art und Weise zu nähern, seine Geschichte zu erzählen und dadurch eine neue Seite von uns selbst zu entdecken? An diesem Abend erkundeten wir die Geografie der Eule, wie Entdecker einen unbekannten Kontinent erschließen. Jedoch drängte sich mir immer wieder die Manie des Menschen, Trophäen zu sammeln, ins Bewusstsein. Der Gedanke, dass wir ausgestopfte Tiere allein zu unserer Unterhaltung in künstlichen Theaterszenen arrangierten, während so viele Arten vom Aussterben bedroht oder bereits von dieser Erde verschwunden waren, hatte einen unangenehmen Beigeschmack. Wir verwalten, konstruieren und vermitteln unsere Erfahrung der wilden Natur, aber werden wir ihr dadurch überhaupt gerecht? Die ausgestopften Exemplare sind für die Zukunft bewahrt, wir haben sie für die Wissenschaft festgehalten, aber unsere Neugier und unser Wissensdurst sind noch lange nicht gestillt. Wir wollen immer mehr. Aber was genau? Homo sapiens, der weise Mensch. Manchmal frage ich mich, wie weise wir wirklich sind. Viel zu oft sind die leblosen Artefakte, die wir in unseren Händen halten, das Einzige, was uns bleibt.