Athene noctua

DER STEINKAUZ

Das Hochmoorland war von Augustfarben durchwebt, überall sprossen lila Heidekraut und nach Kokosnuss duftender Ginster. Die Sonne wurde von weißen Kumuluswolken reflektiert und wärmte die Rücken der am Straßenrand grasenden wilden Ponys, die uns Autofahrer ablenkten und kleine Staus verursachten. Aus Richtung Süden wehte eine leichte Brise, die durchs Gras zu flüstern schien und das Ende des Sommers ankündigte: »Es wird nicht mehr viele Tage wie diesen geben. Macht das Beste draus …« Die Hänge und schroffen Felsen leuchteten im warmen Licht des Sommers, die Luft war weich und klar. Wir standen auf der Spitze eines Hügels, weit weg von allen Menschen und Autos, und ließen uns vom Wind das Haar zerzausen, während wir die Konturen des Moores in uns aufnahmen. Inmitten des Teppichs aus Grün, Lila und Gold erspähten wir Wiesenpieper und Goldregenpfeifer, einen großen gefleckten Specht, Steinschmätzer und die dunkle, einer Armbrust ähnelnde Form eines jagenden Wanderfalken.

Ordentlich vom Wind durchgepeitscht und mit schmerzenden Füßen, machten wir uns schließlich auf den Weg nach Hause, und als wir in das Ackerland am Rande des Moores abbogen, entdeckte ich sie. Zuerst war es nur ein seltsamer Umriss, der mir vom Autofenster aus ins Auge fiel, eine Erhebung, die sich dicht an eine Trockenmauer schmiegte. Eine kleine Beule, wo eigentlich keine Beule hätte sein sollen, postiert auf einem Zaunpfosten, der dadurch etwas höher wirkte, als er eigentlich war. Der Pfosten wies oben eine Rundung auf, die sich bei näherem Hinsehen in ein geplustertes Federkleid verwandelte, aus dem uns zwei helle Augen anschauten.

Ich hielt an und spähte durchs Fenster. Jenny schnappte nach Luft.

»Mama, Mama, es ist eine Eule! Ein Steinkauz, genau da!«

Der Steinkauz musterte uns aus grimmigen zitronengelben Augen. Entzückt hielten wir den Atem an.

In ihrem Gedicht Little Owl Who Lives in the Orchard (»Der Steinkauz aus dem Obstgarten«) sagt Mary Oliver, dass der kurze Schnabel des Steinkauzes so scharf sei wie ein Flaschenöffner und dass der Vogel, so schön er auch sein mag, einen immer vernichtend anstarre. Das Exemplar vor uns unterstützte die Meinung der Dichterin; sein Blick war eine Mischung aus Empörung und Drohgeste. Verärgert zog er die Augenbrauen zusammen, sein ganzer kleiner Körper schien unter Strom zu stehen. Mit unserem Auto standen wir quasi in seinem Vorgarten. Wir waren wie gebannt.

Ich hatte gelesen, dass Steinkäuze unter so etwas wie einem »Kleine-Eulen-Komplex« leiden, weshalb sie sich regelmäßig mit größeren Tieren anlegen. Und tatsächlich, der Kauz versuchte, uns mit seinem aggressiven Blick in Grund und Boden zu starren. Da die Eulen nicht viel größer sind als Singdrosseln, können sie Menschen kaum gefährlich werden, sie nehmen es aber oft mit Vögeln auf, die größer sind als sie selbst, und werden aufgrund dieses streitlustigen Verhaltens häufig angegriffen. Das ist auch der Grund, warum sie ein »Gesicht« am Hinterkopf tragen – die Andeutung von falschen Augenmarkierungen an der Rückseite ihres Kopfes. Diese evolutionäre Anpassung imitiert ein durchdringendes Starren und gaukelt so möglichen Angreifern vor, dass sie beobachtet werden. Der Steinkauz ist vielleicht – ich sage vielleicht, weil ich mit meiner Eulenrecherche noch lange nicht am Ende bin – die Eule in Großbritannien, die am meisten Persönlichkeit hat – und das trotz ihrer winzigen Größe. Der kleine graubraun gesprenkelte Vogel ist lediglich so groß wie ein zerfranster Tennisball, verfügt aber über eine betörende birnenförmige Silhouette. Was ihm an Körpergröße fehlt, macht er durch sein wildes Auftreten mit dem grimmigen Blick und den übertrieben dicken weißen Augenbrauen wett.

Dann machte unser Herz noch mal einen Sprung. Vom Grund, aus der Richtung des Weißdorns, ertönte plötzlich ein zischendes Geräusch, etwas bewegte sich. Deshalb also war der Steinkauz so gereizt. Aus dem Gras drangen die unverwechselbaren »Ouiii-uiii«-Futterrufe, und der erwachsene Steinkauz huschte ängstlich umher. Er tat sein Bestes, um uns zu verscheuchen, aber wir blieben still sitzen. Mit dem Fernglas entdeckte ich in einer dunklen Mulde, zwischen den Wurzeln des Weißdorns verborgen, ein flaumiges Versteck: zwei, nein, drei winzige graue Eulengesichter! Ein Steinkauznest, auf dem Boden! Jenny und ich mussten beide ein freudiges Quietschen unterdrücken.

Die knorrige Rinde hatte das Nest verdeckt, aber jetzt konnten wir die drei kleinen Gesichter deutlich sehen: Die drei Vögel trugen noch ihr jugendliches Daunengefieder, es war weiß gesprenkelt und an den Rändern in einem zarten Aschgrauton gesäumt. Der erwachsene Steinkauz richtete sich empört auf seinen langen Beinen auf und schaute drohend in unsere Richtung – die Gebärde hatte etwas Charmantes an sich.

Steinkäuze sehen ein wenig aus wie kleine Kobolde, und jeder von ihnen hat ein ganz individuelles Gesichtsmuster. Die Bandbreite ihrer Gesichtsausdrücke reicht von überrascht über konzentriert bis hin zu drohend, und wie die meisten Eulen sieht der Steinkauz nie besonders erfreut aus, wenn er einem Menschen begegnet. Mein Freund Paul, der oft die Steinkäuze in seiner Gegend in Leicestershire beobachtet, behauptet, dass die Vögel aufgrund der Variationen in ihren Augenbrauenstilen die besten Eulen überhaupt seien. Es scheint keinen evolutionären Grund für diese ästhetische Vielfalt zu geben, aber sie lässt die Vögel so individuell wie Menschen erscheinen. Ich hatte vorher nie gedacht, dass ich mal eine Lieblingseule haben könnte, aber der Steinkauz war plötzlich ein starker Anwärter auf diese Position. Das Wort »niedlich« stößt mir negativ auf, aber diese Eule hatte unbestreitbar Persönlichkeit.

»Steinkäuze sind leichter zu entdecken, als du denkst«, hatte Paul mir versichert. »Man muss nur wissen, wo man suchen muss, und Geduld mitbringen. Manchmal reicht es, wenn man ein ›Tz-tz‹-Geräusch macht, als ob man eine Katze anlockt, und schon kommen sie zu dir geflogen.«

Paul ließ das sehr einfach klingen, aber man durfte nicht vergessen, dass er Stunden damit verbracht hatte, diese Vögel zu studieren. Dabei hatte er herausgefunden, dass der »Tz-tz«-Ruf ein Nagetier in Not nachahmt – ein Ruf, dem jedes Raubtier gern folgt, um zu prüfen, ob es irgendwo leichte Beute gibt. Man kann so auch Wiesel anlocken. An jenem Tag also beschloss ich, meinen ersten Steinkauz-Lockruf auszuprobieren. Die Eule, mit der wir es zu tun hatten, war allerdings nicht auf den Kopf gefallen und schaute mich nur gelangweilt an. Während wir weiter durch die Windschutzscheibe spähten, sahen wir, wie der Kauz sich aufplusterte und begann, konzentriert seine Brust zu putzen. Kurz darauf stieß er einen gellenden Ruf aus, dann noch einen weiteren, und eins nach dem anderen purzelten die drei Jungen aus ihrer Nisthöhle. Ein zweiter ausgewachsener Steinkauz flog herbei, dieser war etwas kleiner als der erste, also möglicherweise das Männchen – obwohl das schwer zu sagen ist, denn anders als bei anderen Eulenarten gibt es bei Steinkäuzen kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Steinkauz Nummer zwei präsentierte den Jungen einen Wurm, woraufhin diese plötzlich in die Höhe schossen und sich ganz lang machten, um die Beute vom Schnabel des Elterntiers zu pflücken. Eine der Eigenschaften, die Steinkäuze so betörend macht, ist, wie athletisch sie wirken, wenn sie sich auf dem Boden bewegen. Nur wenige Meter von uns entfernt tummelten sich jetzt fünf Eulen auf dem Grund. Zwei der kleinen Eulchen veranstalteten ein Tauziehen mit dem armen Wurm, der sich zwischen ihnen wie ein rosa Gummiband dehnte. Wir schauten gebannt zu, bis schließlich eins der beiden aufgab und der Gewinner das Opfer ganz verschlang.

Wir ließen den Steinkäuzen ihre Ruhe und düsten nach Hause, immer noch im Bann von Athene noctua, dem Raufbold mit den flaumigen Beinen und dem wütenden Blick. Ich hatte mich so in den geisterhaften Glamour der Schleiereule und die überwältigende Weichheit des Waldkauzes verliebt, dass ich niemals gedacht hätte, dass irgendetwas diese Eulen übertreffen könnte. Der Steinkauz zog mich auf eine ganz andere Art und Weise in seinen Bann. Am helllichten Tag hatte er auf uns gewartet und uns erbost angeschaut, menschenähnlich, herausfordernd.

An diesem Abend schlug ich den Steinkauz zu Hause in meinen Büchern nach. Die Eule wurde seit der Antike mit der griechischen Göttin Athene in Verbindung gebracht, sie war ihr Emblem, das es sogar auf die Münzen im alten Athen schaffte – stolz und unverwechselbar prangte der Steinkauz auf den Geldstücken. Aber was hatte der Steinkauz mit Athene zu tun? Johannes Lydos, ein Gelehrter aus dem 6. Jahrhundert, stellte die These auf, dass die Griechen im Verhalten des Steinkauzes Weisheit und Besonnenheit erkannten und ihn deshalb mit der klugen Athene assoziierten.

Die Charakterisierung der Eule durch die Griechen schien mir passend, nachdem ich sowohl einen Steinkauz in freier Wildbahn als auch ein Exemplar in Gefangenschaft beobachtet hatte. Flitwick, die freche Steinkauzdame in meiner örtlichen Eulenauffangstation, hielt sich instinktiv die meiste Zeit versteckt, obwohl sie genug Platz hatte, um herumzufliegen. Aber sie war auch keck – zum Beispiel ließ sie sich gern auf dem Zeigefinger von einem von uns Menschen nieder und forderte ein, dass man sie fütterte. Wenn man versuchte, sie mit dem Fingerrücken zu streicheln, pickte sie nach einem: Sie war kein Wesen, das liebkost werden wollte – beim Streicheln besteht die Gefahr, dass man wertvolle Öle aus dem Federkleid der Eule entfernt. Der Steinkauz möchte respektiert werden, trotz seiner kleinen Statur. Steinkäuze gelten zwar als besonnen, in freier Wildbahn lassen sie sich aber trotzdem oft auf Kämpfe mit Raubvögeln wie Bussarden und Schleiereulen ein, die im Vergleich zu ihnen Giganten sind. Insbesondere wenn es um die Verteidigung ihrer Jungen geht, kämpfen sie notfalls bis zum Tod. Leider verlieren sie dabei oft gegen körperlich überlegene Feinde.

Meine Recherche offenbarte, dass es sich bei dem Steinkauz, den ich gesehen hatte, nicht um eine einheimische Eulenart handelte. Obwohl er hier in Großbritannien das Licht der Welt erblickt hatte und der Vogel schon seit Generationen in diesen Gefilden zu Hause war, wurde er noch immer als Import betrachtet. Die in Kontinentaleuropa beheimatete Athene noctua ist die am häufigsten gesichtete Eule in vielen süd- und osteuropäischen Ländern, was vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass sie am Tag und in der Dämmerung jagt. Mittlerweile gehört sie in Europa leider zu den vom Aussterben bedrohten Arten. In Polen beispielsweise sind ihre Bestände rapide zurückgegangen, möglicherweise wegen Veränderungen in der Landwirtschaft, und als Reaktion darauf wurden im Rahmen von Artenschutzbemühungen zahlreiche Nistkästen aufgestellt. In einigen polnischen Städten führte das zum Erfolg, die Zahlen brütender Steinkäuze stiegen wieder.

Der Steinkauz fühlt sich in warmen, trockenen Ländern wie Griechenland zu Hause, und da er besonders gern von hohen Aussichtspunkten wie Dächern, Pfosten und Mauern hinunterspäht, muss der reich mit Säulen ausgestattete Parthenon – errichtet zu Ehren der Göttin Athene – mit seinen zahlreichen Vorsprüngen und Simsen und den vielen schattigen Hohlräumen auf die Eulen extrem attraktiv gewirkt haben. Ist der Steinkauz deshalb zum Symbol der Athene geworden? Der wahre Grund lässt sich heute wahrscheinlich nicht mehr nachvollziehen, er ist mit der Geschichte verloren gegangen. Einige Mythologen glauben, dass die Assoziation des Steinkauzes mit Athene ihren Ursprung noch weiter in der Vergangenheit haben könnte und eventuell auf eine minoische Palastgöttin zurückgeht, die mit Vögeln in Verbindung gebracht wurde, oder sogar auf eine alte europäische Vogel-Schlangen-Göttin.

Lange nachdem die alten Griechen von der Bildfläche verschwunden waren, tummelten sich die Steinkäuze weiterhin in den Ruinen des Parthenon, und so kam es, dass der Weg des Vogels sich mit dem einer jüngeren historischen Figur kreuzte. Im Jahr 1850 besuchte eine junge Frau den Parthenon. Ein leises Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, und als sie sich umdrehte, sah sie einen Steinkauz, der aus seinem Nest fiel und inmitten der Trümmer landete. Er war zu klein zum Fliegen und wurde sofort von einer Bande unbarmherziger Kinder angegriffen, die dem Eulenjungen zum Spaß hinterherjagten. Die junge Frau war empört und verscheuchte die Kinder. Erschöpft und unter Schock stehend, saß das zerzauste Eulchen zu ihren Füßen. Sie nahm es in ihre Hände und verstaute es sicher in ihrer Tasche. Der Steinkauz, der nichts von seinem Glück ahnte, war von Miss Florence Nightingale höchstpersönlich gerettet worden.

Florence nahm die kleine Eule mit nach Hause, pflegte sie, bis sie sich erholt hatte, und zog sie auf. Die beiden waren unzertrennlich und tauchten nirgendwo ohneeinander auf. Die kleine Steinkauzdame Athena hatte nichts gegen ihr Dasein als gefangene Eule einzuwenden, auch wenn sie jeden mit ihrem scharfen Schnabel pickte, der versuchte, sie zu streicheln. Fünf glückliche Jahre lang waren Athena und Florence als Zweiergespann unterwegs. Die Krankenschwester war überzeugt, dass Tiere den Menschen bei der Genesung helfen können, und Athena begleitete ihr Frauchen bei Hausbesuchen und brachte die Patienten mit ihren Possen dazu, ihre Schmerzen für einen Moment zu vergessen. Zu Hause hockte Athena auf dem Kaminsims zwischen Statuetten von Theseus und Merkur und bediente sich an einem Teller voller Leckereien. Einmal, als Florences Schwester den Raum betrat und eine neue Baumwollhaube trug, flog Athena auf sie zu, riss die Kopfbedeckung ab und versuchte, sie zu zerfetzen. Die unglückliche Baumwollhaube wurde nie wieder getragen. Jeder liebte die kleine Eule Athena, und sie unterhielt ihre Bewunderer, indem sie sich auf Fliegen stürzte und imaginäre Mäuse durchs Zimmer jagte. Jedoch war die Freude nicht von Dauer.

Wie es bei wilden Haustieren oft der Fall ist, nahm es mit dem kleinen Steinkauz Athena ein schlimmes Ende. Als der Krieg auf der Krim ausbrach und Florence ins Ausland bestellt wurde, musste sie sich von Athena trennen, da diese sie unmöglich in ein Kriegsgebiet begleiten konnte. Florence ließ die Eule auf ihrem Dachboden zurück und wies ihre Familie an, sie bei Besuchen zu versorgen. Den Rest der Zeit, so hoffte sie, könnte der Vogel sich von den Mäusen ernähren, die unter dem Dach des Hauses lebten. Aber Athena war zu zahm, um ihr eigenes Futter zu jagen, und die Insekten, die sie fing, konnten sie unmöglich ernähren. Sie vermisste ihre Gefährtin und war von Einsamkeit zerfressen, sodass sie schließlich verhungerte. Florence war untröstlich und beauftragte einen Tierpräparator, der Athena für die Nachwelt am Leben hielt.

Viele Jahre lang wurde der Körper der kleinen Eule in ihrer charakteristischen Pose in einer Glasvitrine im Haus der Familie aufbewahrt, bis sie schließlich vom Florence Nightingale Museum in London erworben wurde. Von ihrem Ast in der Nightingale-Sammlung aus funkeln die lebendigen Augen der kleinen Athena noch immer den neugierigen Menschen entgegen, die sie durch die Scheibe bewundern.

***

Der Steinkauz, der hierzulande zwar mittlerweile als eingebürgert, wenn auch nicht als heimisch gilt, ist mit 23 bis 25 Zentimetern Länge und einem Durchschnittsgewicht von 150 bis 170 Gramm die kleinste Eule Großbritanniens, die jedoch auf eine lange Geschichte seit ihrer Ankunft an der englischen Küste zurückblicken kann. Der Steinkauz wurde in den 1880er-Jahren von dem Vogelsammler und vierten Baron von Lilford, Thomas Powys, nach Großbritannien gebracht. Er hatte das Ziel, mit einem Vogelpaar aus Holland die britische Avifauna zu bereichern, da es in dieser Zeit in Großbritannien nur Schleiereulen, Waldkäuze sowie Wald- und Sumpfohreulen gab, nicht zu vergessen die Schnee-Eule, die sich gelegentlich in die schottischen Highlands verirrte. Anfangs wurde der Steinkauz mit offenen Armen empfangen und zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt, da er sich hauptsächlich von Maikäfern und anderem Krabbelgetier sowie kleinen Nagetieren ernährt. Das erste brütende Paar wurde 1891 in Rutland registriert, und innerhalb von fünfzig Jahren hatte sich die neue Art weit über das britische Festland ausgebreitet, obwohl sie eigentlich eher in flachen Gebieten zu Hause ist. Bis jetzt sieht es nicht so aus, als wäre die Eule bis nach Schottland vorgedrungen, vielleicht wegen des ungemütlichen, nassen Wetters dort, für das der Steinkauz nicht gerüstet ist.

Das Vorkommen einer nicht einheimischen Eulenart wurde lange Zeit als eine harmlose ästhetische »Aufwertung« der britischen Umwelt angesehen, jedoch kann eine solche »zufällige« Einführung einer fremden Art für die einheimische Tierwelt verheerende Folgen haben. Nordamerikanische Nerze haben die britische Wühlmauspopulation fast ausgerottet, der Japanische Staudenknöterich ist dabei, die heimische Ufervegetation zu überwuchern, und aus Amerika importierte Grauhörnchen haben eine Pockenart mitgebracht, die das Überleben unseres wehrlosen roten Eichhörnchens bedroht. Wie also wirkte sich das plötzliche Auftauchen des Steinkauzes auf die in Großbritannien heimischen Eulen aus?

Es stellte sich heraus, dass der Steinkauz sich gut in die britische Eulenpopulation einfügte. Weil er sich hauptsächlich von wirbellosen Tieren ernährt, von denen es hierzulande reichlich gibt, stellte er für andere Raubvögel keine Konkurrenz dar und fand seinen Platz in unserem Ökosystem ohne erkennbare Auswirkungen auf die bereits vorhandenen Arten. Gelegentlich vergriff er sich an der gleichen Beute wie Schleiereulen und Bussarde, aber die wiederum konnten den Steinkauz jagen, wenn seine Art überhandnahm. Jedoch standen viele Wildhüter, die immer ein Auge auf die wachsende Raubtierpopulation haben, dem Steinkauz lange Zeit sehr misstrauisch gegenüber, was dazu führte, dass er in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts auf vielen Landbesitzen gejagt wurde, weil man annahm, er würde eine Bedrohung für die wertvollen Fasane darstellen. In den 1930er-Jahren beauftragte der British Trust for Ornithology die Forscherin Alice Hibbert-Ware damit, eine genaue Analyse der Beutetiere des Steinkauzes vorzunehmen. Die Verfolgung der Eule ließ erst nach, als 1938 die Ergebnisse dieser Studie veröffentlicht wurden, die den Steinkauz entlasteten.

Während der Steinkauz erst relativ spät seinen Weg nach Großbritannien fand, ist er auf dem europäischen Festland schon lange heimisch. Als ich in jenem Sommer nach Frankreich in den Urlaub fuhr, wartete er dort bereits auf mich. Der Plan war, in ein Dorf in der Nähe von Paris zu fahren, um dort der standesamtlichen Trauung meiner Freundinnen Christine und Marianne beizuwohnen. Jenny freute sich riesig, war diese Zeremonie doch eine Steigerung des örtlichen Pride-Marsches, an dem wir jedes Jahr teilnahmen. Zusammen mit meiner Mutter bildeten wir ein Dreiergespann und packten unsere Taschen, wie wir es für eine queere französische Hochzeit angemessen hielten. Das Ganze war ziemlich aufregend, der einzige Wermutstropfen war, dass wir weit weg von der Wildnis sein würden. Wahrscheinlich würde ich in Frankreich überhaupt keine Eule zu Gesicht bekommen.

Es stellte sich heraus, dass meine Sorge unbegründet war. Gleich nachdem wir den Pariser Flughafen verließen und uns auf den Weg in die Stadt machten, starrte mir ein riesiges Paar Augen entgegen: Auf einem drei Meter hohen Plakat war in leuchtenden Blau- und Violetttönen das Gesicht einer Eule abgebildet, die uns grimmig anblickte. Die Leinwand bewarb das Angebot einer Versicherungsfirma und hing direkt am Eingang zur Métro.

Als wir kurze Zeit später wieder aus dem Untergrund auf- und in die Straßen der Pariser Innenstadt eintauchten, wurden wir von einer Kakofonie laut hupender Taxis, Busse und Motorräder begrüßt. Die spätsommerliche Sonne wurde von den Blättern der ordentlich gestutzten Stadtbäume reflektiert und strahlte uns in die Augen. In unsere Nasen stieg der Geruch von französischem Streetfood – Crêpes, Pommes und himmlisch duftende Waffeln –, und über der Kathedrale Notre-Dame flatterten und kreischten zahlreiche Tauben und Dohlen. Entlang der hohen Mauern, die das sorgfältig angelegte Ufer der schlammbraunen Seine abgrenzten, säumten zwischen Platanen und Schmuckverkäufern Tische mit Kunstdrucken die Bürgersteige. Meine Augen leuchteten auf, als ich das prächtige Porträt eines Waldkauzpaars aus dem 19. Jahrhundert entdeckte.

Vielleicht lag es daran, dass meine Sinne nach der langen Reise gereizt waren, oder vielleicht war ich auch einfach nur darauf getrimmt, überall nach Eulen zu suchen, aber ich begann, mich von den Kreaturen verfolgt zu fühlen. Die Eulen ließen mich einfach nicht in Ruhe. Nachdem ich das Gemälde studiert hatte, fiel mein Blick auf die Schaufensterauslage eines Buchladens drei Türen weiter: Die komplette rechte Seite des Fensters war mit einer Sammlung von Eulenbüchern für Kinder dekoriert. Ich betrat den Laden und suchte mir mit viel Sorgfalt ein in bunten Farben gestaltetes Buch aus, Le Bonheur des Chouettes (Eulenglück). Auf dem matt laminierten Cover schmiegen sich zwei rundliche Eulen aneinander. Nachdem wir in unser Hotel eingecheckt hatten, musste ich sofort mehr über das Glücksgeheimnis der französischen Eulen erfahren und verschlang das Buch innerhalb weniger Minuten. In der bezaubernden Geschichte stellen sich alle anderen Vögel dieselbe Frage: Warum versteht sich das glückliche Eulenpaar nach so vielen Jahren Ehe immer noch so gut, anstatt sich zu zanken, wie es alle anderen Tierpaare tun? Großzügig enthüllen die beiden weisen Eulen das Geheimnis ihrer Liebe: »Wir lieben es, zusammen den Wechsel der Jahreszeiten in der Natur zu beobachten: den sanften Einzug des Frühlings, den üppigen Sommer, den farbenprächtigen Herbst und den verschneiten Winter, in dem wir uns aneinanderkuscheln und gegenseitig wärmen.« Die anderen Tiere sind mit der Antwort nicht zufrieden und kehren zu ihrem Gezänk zurück.

Für den nächsten Tag, nach einem ausgedehnten Frühstück, bestehend aus frischen Croissants, hatten wir eine Sightseeingtour geplant – und auch hier ließen die Eulen mich nicht in Ruhe. Wir machten uns zu Fuß auf zum Picasso-Museum im Marais-Viertel und liefen dabei die von Bäumen gesäumte Rue Bonaparte entlang. In den Fenstern der Galerien in Richtung der École des Beaux-Arts reihte sich eine Eulenskulptur an die nächste. Jenny hielt vor einem Geschäft mit dem Namen Le Chat Huant an und fragte mich nach der Übersetzung des Begriffs – es heißt wörtlich übertragen »die heulende Katze«, was im Mittelalter ein Name für die Eule war, der sich wahrscheinlich von der Tatsache ableitete, dass Eulen ein wenig wie Katzen aussehen und klingen können. Besonders Eulen mit Federbüscheln an den Ohren können im Sitzen einen katzenähnlichen Umriss annehmen. Das ist kein Zufall: Die Eule hat diese Ohrbüschel entwickelt, damit sie einem Raubsäugetier ähnelt und so andere Räuber und Konkurrenten abschrecken kann, darunter auch andere Eulen. Der nächtliche Ruf der Eule wiederum kann eine beunruhigende Ähnlichkeit mit den Geräuschen aufweisen, die Katzen bei amourösen Begegnungen und in Revierkämpfen von sich geben. Diese Wesensverwandtschaft zwischen Eule und Katze ist vielen Völkern und Kulturen nicht entgangen: Ein gebräuchlicher Name für Eulen in Finnland lautet kissapöllö, was wörtlich übersetzt »Katzen-Eule« bedeutet. Und in Costa Rica wird die Eule auch cara del gato genannt – »Katzengesicht«.

Aus dem Schaufenster von Le Chat Huant leuchteten uns aufwendig bemalte, fingernagelgroße Eulenfiguren aus Keramik entgegen. Wir widerstanden der Shoppingversuchung, überquerten den Fluss (wieder vorbei am Steinkauz-Porträt) und steuerten das Marais-Viertel an. In der Rue des Archives wurde meine Aufmerksamkeit vom Musée de la Chasse et de la Nature gefesselt. Ich trennte mich von Jenny und meiner Mutter Shirley, die beide ein zweites Frühstück brauchten und es sich in einem kleinen Café gemütlich machten, und bezahlte die acht Euro Eintrittsgeld, die mir Zugang zu einem der seltsamsten Interieurs verschafften, die ich je gesehen hatte. Mehrere holzgetäfelte Räume beherbergten eine Unmenge an tierischen Exponaten – von mit Tieren bedruckten Tapeten über ausgestopfte Wölfe und Wildschweine bis hin zu Bronzegeweihen, die von der Decke hingen. Und: Es gab auch einen Eulensaal! Der Raum wurde vom imposanten Gesicht einer gelbäugigen Schnee-Eule bewacht, oder besser: mehreren Gesichtern. Die dunkle, mit tiefgrünen Seidenbahnen ausgekleidete Installation war eine Hommage an die Göttin Diana, die Beschützerin der Nacht und der Jagd. Sie erstreckte sich über die gesamte Decke des Raumes und war von sechs gespenstischen, in Federn eingebetteten Eulenköpfen durchsetzt. Das Ganze hatte den Effekt, dass das Kunstwerk den Betrachter quasi von oben erdrückte – ein riesiger gefiederter Eulenkörper mit mehreren Gesichtern, die auf einen hinabstarrten, in den menschlich wirkenden Porzellanaugen ein verstörender Glanz.

Wie ich erfuhr, waren kürzlich auf mysteriöse Art und Weise Federn aus der Ausstellung verschwunden. Der flämische Künstler Jan Fabre musste zurückgeholt werden, um die nackten Stellen auszubessern. Es war unmöglich, dass ein Mensch sich an den Federn bedient hatte, denn das Kunstwerk war viel zu weit vom Boden entfernt, erklärte mir der Kurator. Am Ende stellte sich heraus, dass es sich um acariens des plumes handelte: Federmilben! Das Rätsel war gelöst. Die Installation musste von ihrem Erschaffer sorgfältig repariert werden, wobei er chemisch vorbehandelte Federn verwendete, die weniger anfällig für die Angriffe der Milben waren.

Später, im ersten Raum des Picasso-Museums in der Rue de Thorigny, wurde mir klar, dass Pablo Picasso neben seiner Faszination für Frauen, Ziegen und Stiere auch eine intensive Beziehung zu Eulen hatte. Sie waren überall in seinen Kunstwerken zu finden. 1947 hatte Michel Sima ein beeindruckendes Schwarz-Weiß-Foto von Picasso geschossen, auf dem er einen kleinen Kauz in seiner Hand hält. Ich hatte früher einmal in Frankreich gelebt und war regelmäßig in diesen Museen gewesen; wie hatte ich dieses Detail vergessen können? Die Eule, die Picasso auf dem Bild liebevoll in seiner Hand hält, heißt Ubu, und es war sein Haustier. Stolz streckt er den kleinen Kauz in die Kamera, in seinen braunen Augen liegt ein zärtlicher Blick, der ihn selbst beinahe eulenähnlich wirken lässt.

Es heißt, dass Picasso Ubu fand, nachdem dieser sich im Museum Grimaldi ein Bein gebrochen hatte. Glücklicherweise wusste der praktisch veranlagte Picasso genau, wie er das Vogelbein zu schienen hatte, und nachdem sich die Eule erholt hatte, hielt der Künstler sie in einem Käfig in seiner Küche. Sie ernährte sich von Hausmäusen und wurde zu einer Art Muse für Picasso, dem der Kauz als Vorlage für allerlei Eulenkeramik, Töpferkrüge, Teller und Vasen, Fotografien und Gemälde diente. Ein Steinkauzpaar starrte mir von einer Messingvase entgegen, und auch sonst lugten aus jeder Ecke der Galerie Eulengesichter hervor – sie bewachten Türen, thronten über Torbögen und verströmten mit ihrer alles anderen als niedlichen, sondern eher bedrohlichen Ausstrahlung eine düstere Atmosphäre, so als würden sie die Stimmung des Künstlers einfangen. Gleichzeitig fing Picasso das Wesen der Eulen ein: Er porträtierte ihren Mythos, ihre Unnahbarkeit, ihre Gleichgültigkeit gegenüber fast allem außer einer Sache: dem Jagen und Erlegen von Beute.

Ich ging zurück und studierte das Foto von Ubu genauer. Das Bild wurde von drei monochromen Formen bestimmt, die umgedrehten Tränen glichen: Die zentrale Figur, die kleine Eule Ubu, war dicht an Picassos Gesicht auf der rechten Seite gepresst und lenkte die Aufmerksamkeit auf die frappierende Ähnlichkeit der Augen zwischen den beiden. Dann war da noch ein dritter Umriss: Ein Stück weiter links war im Hintergrund der unscharfe Schatten eines Selbstporträts des Künstlers zu sehen, in dem er sich als Eule mit stechendem Blick dargestellt hatte. Es wirkte fast so, als könnte man in Picassos Geist vordringen; die symbolische Eule drückte eine innere und eine äußere Weisheit aus, ihr scharfäugiger, aber dennoch vertrauter Blick lugte unter dunklen Brauen. In einem anderen Gemälde, Le Hibou de la Mort aus dem Jahr 1952, hat Picasso sogar seinen Namen in das Bild integriert, indem er das verschnörkelte »P« im Flügel einer Eule versteckte.

Am Tag vor der Hochzeit besuchten wir Christine und Marianne in ihrem Haus in einem Dorf außerhalb von Paris. Direkt im Eingangsbereich hatte jemand auf der Anrichte die Schwungfeder einer Eule liegen lassen. Sie fiel mir sofort ins Auge, als ich hereinkam, und ich nahm sie aufgeregt in die Hand, um sie zu begutachten.

»Une chevêche«, sagte Christine zu mir. Ein Steinkauz.

Ich konnte meinen Blick nicht von der Feder lösen – mittlerweile verblüffte mich gar nichts mehr. Christine erzählte mir, dass sie das Eulenpaar oft nachts auf dem Dach gegenüber auf der anderen Seite der Straße hocken sah. In jener Nacht in unserem Hotel tief auf dem französischen Land träumte ich lebhaft davon, mich allein in einem Haus mit einem zahmen Steinkauz aufzuhalten. Der Vogel hockte in der Küche, badete in einer Schale mit Wasser und rief hungrig nach Futter.

Am nächsten Tag war die Hochzeit. Christine und Marianne standen nebeneinander und sahen einfach umwerfend aus. An ihren dunkelbraunen Locken konnte ich sehen, dass Christine zitterte. Ich leistete meine Unterschrift als Trauzeugin, und wir alle sahen zu, wie unsere alten Freundinnen schüchtern ihre Liebe bekundeten. Nach all den Jahren endlich Zeugen dieser Verbindung zu werden und sie öffentlich zu feiern, rührte uns zutiefst. Wir applaudierten, während im Hintergrund die Beatles ihr All You Need Is Love schmetterten. Ich wollte, dass der Moment niemals zu Ende ging. In mir war alles ganz warm, und plötzlich war ich mir bewusst, dass wir mit Christine und Marianne eine neue Familie dazugewonnen hatten. Im gleichen Moment bückte ich mich und hob eine weitere dunkel gefärbte Schwungfeder vom Boden auf. Ich steckte sie in die Karte, mit der ich zur Hochzeit eingeladen worden war, und verstaute sie in meiner Tasche. Sie würde mit mir nach England zurückkehren und mich für immer an diesen Moment erinnern.

»Können wir eine Eule haben?«, fragte mich Benji erneut, als wir wieder zu Hause waren und ich ihm meine Bilder von Ubu, Picassos Eule, zeigte.

»Ich glaube wirklich nicht, dass Eulen sich als Haustiere eignen«, gab ich zurück.

Gemeinsam besuchten wir Flitwick, die gerettete Steinkauzdame, die in der Tierauffangstation nicht weit von uns lebte. Pete, der in der Rettungsstation arbeitete, präsentierte uns Lady Jane Grey, seinen Bartkauz. Der Größenunterschied zwischen den beiden Arten war riesig. Der Bartkauz war siebzig Zentimeter groß, der Steinkauz etwa zwanzig Zentimeter. Lady Jane blinzelte, während sie irgendwo tief in ihrem Muskelmagen Knochen und Schädel zermahlte. Sie hätte Flitwick wie eine reife Brombeere zerquetschen können. Eulen sind eben nicht besonders ladylike. Flitwick sah uns gleichgültig an. Sie schien keine Ahnung davon zu haben, wie winzig sie mit ihrer Singvogelgröße war.

Benji verbrachte die meiste Zeit damit, Flitwick mit der Rückseite seines Zeigefingers zu streicheln. Die Eule ließ ihn großzügig gewähren und schloss ihre Augen. Ob sie die Berührung genoss? Die zusammengedrückten Augen könnten ein Instinkt sein, die Eule könnte Angst haben oder auf Nahrung hoffen. Ihre geschlossenen Augenlider waren weich und gefiedert.

»Du solltest dem Eulenklub beitreten«, sagte Pete zu Benji. »Vielleicht hast du irgendwann deine eigene Eule.«

Benjis Augen leuchteten auf.

»Eulen sind wilde Tiere«, ermahnte ich ihn noch mal, als wir auf dem Heimweg waren. »Wir können keine haben.«

Dennoch hatte unser Besuch bei Flitwick Benji in seinen Bann gezogen, so als hätte er eine Verbindung zwischen sich und diesem fremden, unnahbaren Tier gefühlt. Und selbst wenn die Eule einfach nur resigniert hatte – für Benji fühlte es sich wie ein Privileg an, dass eine Kreatur, die so perfekt und so gut entwickelt war, ihm erlaubt hatte, sie zu streicheln. Vielleicht ist das der Effekt, den nur wilde Tiere auf uns haben können. Diese Wesen brauchen uns nicht, sie wollen uns nicht; wenn sie uns also bewusst oder unbewusst in ihre Nähe lassen, fühlt sich das für uns bedeutsam und aufregend an. Es bringt uns in die Gegenwart, präsentiert uns einen perfekten Moment, der außerhalb der Zeit zu liegen scheint und in dem wir gemeinsam mit diesen wilden Tieren einfach sein können. Eulen können das am besten. Man muss sich nur mal anschauen, wie die Gesichter der Menschen aufleuchten, wenn sie sich einer Eule nähern, ob in Gefangenschaft oder draußen in der Wildnis. Der Effekt ist bezaubernd.

In der alten Apfelplantage in der Nähe unseres Hauses hatte ich den Ruf eines Steinkauzes vernommen. Zumindest vermutete ich, dass es ein Steinkauz war. Eines Abends blieben wir auf unserem Spaziergang stehen, um dem dunklen Schrei zu lauschen. Unser Hund schaute neugierig zu uns auf. Ein unheimlicher, abgehackter Ruf, tiefer als der eines Waldkauzweibchens, schallte durch die Apfelbäume und endete mit einer fragenden, melancholischen Note. Die Rufe von Waldkäuzen sind mit ihrem typischen »Ki-wick« und »Huh-huu« unverwechselbar, dies hier war also eindeutig eine andere Eule. »Kiii-auh«, sagte sie. »Kiii-auh.« Ich spitzte meine Ohren und lauschte dem anklagenden Ruf. Er schwebte in der Luft und wiederholte sich wie eine Frage, die in die Dämmerung geschleudert wurde.

Als ich online nach einer Steinkauzexpertin suchte, wurde ich sofort fündig: Dr. Emily Joáchim hatte gerade ihre Doktorarbeit über Steinkäuze abgeschlossen und auf Twitter unter @UKLittleOwls das UK Little Owl Project ins Leben gerufen. In den letzten 25 Jahren ist die Steinkauzpopulation in Großbritannien um 65 Prozent zurückgegangen, und es gibt noch so viel, was wir über diese aussterbende Art nicht wissen. Um die Eulen zu erforschen und ihre Art zu erhalten, lädt Emily die britische Bevölkerung dazu ein, ihre Sichtungen der Vögel als Teil ihres Projekts aufzuzeichnen. Das UK Little Owl Project ist ein inspirierendes Beispiel, das die breite Öffentlichkeit und die akademische Forschung mit dem gemeinsamen Ziel, eine Art zu erhalten, zusammenbringt. Ohne die landesweite Sammlung an Informationen, die Emily generieren konnte, würden wir dem Aussterben dieser wunderbaren Eule vielleicht nie auf den Grund gehen können.

»Die Eulen verschwinden, und wir wissen nicht, warum«, erzählte die Forscherin mir. »Es könnte am Klimawandel liegen oder an etwas anderem – wir wissen es noch nicht –, aber wahrscheinlich ist es ein Zusammenspiel verschiedener Gründe, wie zum Beispiel Veränderungen des Lebensraums, der vermehrte Einsatz von Insektiziden und mehr Konkurrenz um Nistplätze und Nahrung.«

Seit 2008 hat Emily die Brutbiologie von Steinkäuzen erforscht (ich hatte herausgefunden, dass die Vögel die Angewohnheit hatten, an ungewöhnlichen Orten zu nisten: Kaninchenhöhlen, Schutthaufen, Steinmauern, verlassene Gebäude). Die Eulenexpertin hat das Ausbreitungsverhalten sowie die Ernährungs- und Jagdgewohnheiten der Vögel studiert und zahlreiche Nistkastenkameras aufgestellt. Jahr für Jahr arbeitet sie mit wechselnden Experten zusammen, um mehr über das Verhalten des Steinkauzes zu erfahren. Indem sie umfangreiche Datensätze studiert und einzelne Eulenpaare über Jahre hinweg beobachtet, weiß sie vielleicht bald mehr über dieses kleine Raubtier als jeder andere hierzulande.

Steinkäuze, so scheint es, werden oft von Reiterhöfen und Pferdeställen angezogen. Das gemischte Weideland, alte Bäume, viele Hecken und der Pferdemist bieten den Vögeln einen guten Lebensraum mit reichlich Nahrung. Emilys Studie über Steinkäuze hat sich bislang auf den Süden von Wiltshire konzentriert, zum Beispiel hat sie in Tytherington, südlich der Salisbury-Ebene, einige Paare beim Nisten beobachtet. Man geht davon aus, dass das Verschwinden von gemischtem Ackerland mit Hecken und verschiedenen Gräsern sowie der starke Rückgang der Insektenpopulationen durch den Einsatz von Pestiziden das Verschwinden des Steinkauzes beschleunigt haben. Aber hier in Wiltshire, wo es eine ausgewogene Mischung aus Weideflächen, Hecken und alten Bäumen gibt sowie lange Zäune mit vielen Pfosten und jede Menge Stallmist, bin ich mir sicher, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit einem Steinkauz begegnen werde.

»2017 hatten wir nur noch zehn Brutpaare in unseren Kästen, im Jahr 2000 waren es noch 23«, informierte mich Emily mit einiger Sorge. »Wir arbeiten mit vielen Experten und Nistkastenprojekten in anderen Grafschaften zusammen, um den Steinkauz zu erhalten. Und auch viele der örtlichen Bauern haben sich unserem Vorhaben angeschlossen und Hunderte von Nistkästen auf ihrem Land angebracht. Man kann diese Kästen nicht einfach irgendwo aufstellen«, erklärte sie. »Genauso wie Schleiereulen sind Steinkäuze Gewohnheitstiere und extrem standorttreu. Man muss den Nistkasten dort anbringen, wo man bereits von der Existenz eines Steinkauzes weiß, ansonsten ist es für alle Beteiligten Zeitverschwendung.«

Zu wissen, wo sich die Steinkäuze aufhalten, ist allerdings gar nicht so einfach. Da sie hauptsächlich nachtaktiv sind, bleiben sie oft im Verborgenen. Laut Emily zählt aber auch schon das Vernehmen eines Steinkauzrufs als Sichtung, und so konnte ich meine Begegnung mit dem rufenden Kauz, den ich gehört hatte, in die Datenbank auf ihrer Website eintragen. Im Westen Englands werden immer weniger Steinkäuze gesichtet, mein Beitrag war also wichtig, um diese zurückgehenden Zahlen weiter zu untersuchen. Mir wurde klar, dass es genauso wichtig ist, eine Eule zu hören, wie sie zu sehen, denn immerhin verlassen sich auch die Eulen bei ihren nächtlichen Streifzügen auf ihr Gehör, um ihre Beute zu finden.

Ich konnte nicht glauben, dass diese kleine Eule vom Verschwinden bedroht war, wo Menschen wie Emily sich doch unermüdlich für ihre Rettung einsetzten. »Jede Begegnung mit ihnen ist aufregend«, schwärmte sie mir vor. »Ihr wundervoller Gesichtsausdruck mit der gerunzelten Stirn und ihr schrulliges Verhalten – vor allem die Art, wie sie herumlaufen und zu Fuß jagen wie kleiner Menschen – machen es zu einer absoluten Freude, sie zu beobachten, egal ob beim Sonnenbaden an einem warmen Sommernachmittag oder bei der lautlosen Jagd in der Abenddämmerung.«

Im Interesse des Naturschutzes hatte Emily den gesamten Brutzyklus dieser Eule beobachtet und die intimsten Szenen mithilfe von Nestkameras aufgezeichnet. Von der Paarung über das Legen der Eier und das Schlüpfen bis hin zum Ausfliegen der Jungen – Emily wusste über jeden Schritt Bescheid.

»Mitte bis Ende April beginnen die Eulen zu brüten«, erzählte sie mir. »Ich bin immer wieder erstaunt, wie fleißig die Eltern sind und wie viel Mut sie beweisen, während sie ihre Jungen aufziehen. Die Mutter bebrütet die Schlüpflinge in den ersten fünf Tagen fast ununterbrochen. Zu diesem Zeitpunkt sind sie mit weißen Daunen bedeckt und ihre Augen sind geschlossen. Sie können ihre eigene Körpertemperatur nicht regulieren und sind darauf angewiesen, dass ihre Mutter sie warmhält. Muss sie doch mal das Nest verlassen, kuscheln die Jungen sich zusammen, bis sie wieder da ist. In diesem Stadium übernimmt der Eulenvater den größten Teil der Jagd. Er jagt hauptsächlich während der Dämmerung und in der Nacht, morgens kommt er dann langsam zum Ende. Steinkäuze kümmern sich rührend um ihren Nachwuchs: Das Männchen bringt die Beutestücke zum Brutkasten und fliegt dann wieder los, die Mutter übernimmt die Fütterung der Kleinen.«

Als ich Emily zum ersten Mal traf, hielt sie gerade einen Vortrag vor einer Gruppe von Eulenenthusiasten und zeigte ihnen Bilder und Videomaterial von den Nistkästen. Steinkäuze nisten gern in diesen speziell hierfür entworfenen Kästen, diese müssen jedoch hoch genug angebracht werden und die Nestöffnung muss klein genug sein, damit keine Raubtiere eindringen können. Das Weibchen legt die fast kugelförmigen weißen Eier an aufeinanderfolgenden Tagen; es können pro Brutsaison bis zu sechs oder sieben Stück sein, der Durchschnitt liegt allerdings bei drei oder vier Eiern. Schon wenige Tage nach dem Schlüpfen kann man beobachten, wie die Eulenjungen versuchen, auf ihren Füßen zu stehen, aber in diesem Alter sind sie noch sehr wacklig auf den Beinen und können nur ein paar Schritte gehen. Wenn die Jungvögel sieben Tage alt sind, färbt sich ihr Flaum von weiß zu blassgrau und sie beginnen, wie richtige Eulen auszusehen. Ihre Zehen und Tarsen (Knöchel) entwickeln sich stetig weiter, und sie stehen jetzt etwas sicherer auf ihren Beinen. Die Mutter muss mehr jagen, um mit dem steigenden Nahrungsbedarf ihrer Jungen Schritt halten zu können; zu ihren Beutetieren gehören Motten, Amphibien, Würmer, kleine Säugetiere und kleine Vögel wie Spatzen und andere Finken. Einige glauben, dass Steinkäuze sich auch von Aas ernähren, obwohl das eher selten beobachtet werden kann. Was sie dafür häufig vertilgen, sind Laufkäfer – als ich während meiner Arbeit mit The Barn Owl Trust den Nistkasten eines Steinkauzpärchens inspizierte, fand ich auf dessen Boden Hunderte von Käferhüllen.

Um zu verdeutlichen, wie gefährlich das Leben der Steinkäuze ist, spielte Emily der Gruppe ein dramatisches Video vor. Eine Nestkamera zeigte ein Weibchen in ihrem Nest mit vier weißen Eiern. Plötzlich quetschte sich durch den schmalen, tunnelförmigen Eingang zu dem Kasten eine Schleiereule bis in sein Inneres vor. Die in die Enge getriebene Steinkauzmutter erhob sich und kämpfte aufs Schärfste, um ihre Eier zu verteidigen, bis sich die größere Eule (die mindestens dreimal so groß aussah wie der brütende Kauz) schließlich zurückzog. Emilys Publikum schauderte vor Erleichterung. Aber das war noch nicht das Ende: Eine Woche später, als die Jungen gerade geschlüpft waren, kehrte die Schleiereule zurück. Wieder verteidigte das Steinkauzweibchen seine Jungen tapfer gegen den Angriff des viel größeren Raubvogels, aber leider schnappte sich die angreifende Eule diesmal ein Küken und verletzte außerdem ein weiteres. Emily erzählte dem verblüfften Publikum, dass wie durch ein Wunder zwei Küken überlebt hatten und schließlich flügge wurden – ein Beweis für die Tapferkeit und den robusten Erziehungsstil dieser winzigen Eule.

Mark Avery, Schriftsteller, Umweltschützer und ehemaliger Naturschutzdirektor bei der Royal Society for the Protection of Birds (RSPB), hat darauf hingewiesen, dass Steinkäuze, weil sie keine heimische Art sind, bei NGOs nicht unbedingt beliebt sind und auch nicht auf den grünen, gelben oder roten Listen der International Union for the Conservation of Nature (IUCN) stehen, die den Erhaltungsstatus von Arten kategorisieren. Wären sie es, so erklärt Avery in einem Blogpost, würden sie auf der gelben Liste (rückläufig) stehen und möglicherweise stark auf die Rote Liste (bedroht) zusteuern. Als Reaktion auf den Blogeintrag merkten einige Eulenliebhaber an, dass der Steinkauz an Orten wie South Leicestershire und in den Niedermooren von Huntingdonshire häufiger vorkomme als angenommen. »Es mag zwar Hotspots geben, aber wir brauchen mehr Informationen«, sagte Emily dazu. Sie wies mich darauf hin, dass die Steinkauzpopulation in Großbritannien vom British Trust for Ornithology (BTO) offiziell als »rapide abnehmend« eingestuft worden war.

Als Ackervögel sind Steinkäuze genauso anfällig für die Veränderungen in der landwirtschaftlichen Praxis und den Einsatz von Pestiziden sowie Rodentiziden wie jeder andere Vogel auch. Ein ernstes Problem könnte außerdem der Verlust von Nistplätzen sein, zum Beispiel wenn alte Bäume absterben und dafür keine neuen gepflanzt werden. Ebenso gehen viele Nistplätze in alten Farmgebäuden verloren und werden nicht durch neue Brutplätze ersetzt. Um in diesem Bereich Abhilfe zu schaffen, haben The Barn Owl Trust und Nicholas Watts von der Vine House Farm in South Lincolnshire Pionierarbeit beim Bau von »Vogelhäusern« geleistet. Bei diesen Behausungen handelt es sich um hohe Türme, die für Feldsperlinge, Fledermäuse und andere Wildtiere geeignet sind, aber auch ausreichend große Nisthöhlen für Schleiereulen, Steinkäuze, Hohltauben und Turmfalken bieten. Man kann nur hoffen, dass sich diese wildtierfreundlichen Behausungen in der Zukunft durchsetzen werden – so hätten einige der bedrohten Vogelarten und anderen Wildtiere, die auf unserem Ackerland ums Überleben kämpfen, vielleicht eine größere Chance und würden sich eventuell wieder vermehren.

***

Ich erzähle Benji, dass wir bald Besuch von jemand Besonderem bekommen würden.

»Ist es eine Eule? Es ist eine Eule, oder?!«, rief er aufgeregt.

Ich hatte seine volle Aufmerksamkeit. Es war tatsächlich eine Eule, die bald bei uns einziehen würde. Bis jetzt hatte ich mich kritisch gezeigt, wenn es um die Pflege von Vögeln in Gefangenschaft ging. Für mich war die Eule der Inbegriff von Wildheit. Was blieb von ihr übrig, wenn man sie domestizierte? Zahm – oder eben so zahm, wie Eulen werden können –, darauf trainiert, zum Vergnügen von uns Menschen aufzutreten, ihre Knöchel von Fesseln umschlossen, ihre Muskulatur geschwächt, kamen mir die stolzen Vögel so traurig vor wie in Gefangenschaft gehaltene Delfine, die in kleine Becken gepfercht und zur Unterhaltung eingesetzt wurden. Benji kannte meine Meinung dazu, und wir hatten oft darüber gesprochen. Wie konnte ein zahmer Vogel auch nur annähernd einem wilden Exemplar gleichkommen, und was könnte ich durch das Studium einer in Gefangenschaft lebenden Eule überhaupt über diese geheimnisvolle Tierart lernen?

Vielleicht ging es ja gerade darum, diese Frage zu beantworten. Selbst wenn ich dabei nur in meiner Meinung bestätigt wurde. Ich sah Benjis Aufregung als ein Indiz dafür, dass ich meinen Geist nicht verschließen sollte; seine kindliche Begeisterung lehrte mich, trotz meiner Bedenken neugierig zu sein. Und um Neugierde ging es ja schließlich bei dieser ganzen Sache.

All diese Gedanken schwirrten mir noch im Kopf herum, als wir den nächsten Vormittag mit Putzen und Aufräumen verbrachten. Nicht dass ein blitzblank geputztes Haus der Eule wichtig gewesen wäre – das Innere einer menschlichen Behausung ergab für sie wahrscheinlich eh keinen Sinn –, aber wir konnten einfach beide nicht still sitzen.

Unser Besucher hieß Murray und war ein in Gefangenschaft gehaltener Kaninchenkauz. Das mag eher nach einem schlechten Scherz als nach einer echten Eulenart klingen, aber tatsächlich handelt es sich bei Athene cunicularia um eine in Amerika beheimatete Art, die unserem europäischen Steinkauz sehr ähnlich ist. Mein Freund Mike Toms, Eulenexperte beim British Trust for Ornithology, half mir dabei zu verstehen, wie die Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Arten zustande gekommen ist. Geduldig erklärte er mir, dass nach neueren taxonomischen Untersuchungen der Steinkauz und der Kaninchenkauz, obwohl sie an entgegengesetzten Ufern des Atlantiks zu Hause sind, mittlerweile derselben Gattung zugerechnet werden – und zwar weil sie beide einen (relativ) jungen gemeinsamen Vorfahren haben. Je nachdem, auf welche Quelle man sich beruft, geht die Wissenschaft heute von vier bis sieben Arten in dieser Gattung aus, eventuell sind es sogar noch mehr. Ihre Ähnlichkeit beruht also darauf, dass sie eng miteinander verwandt sind, und ist nicht durch eine konvergente Evolution (bei der zwei nicht miteinander verwandte Arten am Ende ähnlich aussehen, weil sie durch den gleichen evolutionären Druck geformt wurden, nur an unterschiedlichen Orten) zu erklären. Irgendwann vor langer Zeit trennte die Kontinentaldrift die Spezies und brachte schließlich mehrere verschiedene Athene hervor. Wann genau dies geschehen ist, liegt in den Tiefen der Vergangenheit verborgen – wir Menschen wissen nur, dass die Kontinentaltrennung irgendwann vor zweihundert bis hundert Millionen Jahren stattfand.

Ich befragte meine fotografische Bibel, das Handbuch Eulen der Welt von Heimo Mikkola. Obwohl die Taxonomie der Eulen noch nicht abgeschlossen ist und immer noch neue Arten identifiziert werden (der Mongolische Steinkauz und der Graubauchkauz wurden erst 1988 entdeckt), schien es, als ob in dem Buch alle Athene, die uns so weit bekannt sind, abgebildet waren. Seite um Seite prangten sie auf dem Papier und starrten mir böse entgegen: der Kaninchenkauz, Athene cunicularia, aus Amerika; Athene noctua, der Steinkauz aus Eurasien (»Möglicherweise gibt es über zehn Unterarten allein innerhalb der Gattung Athene noctua!«, hatte Emily mir aufgeregt erzählt); der wunderschöne Lilith-Kauz, Athene lilith, dessen Verbreitungsgebiet von der Südtürkei über Zypern und Israel bis zur Sinaihalbinsel und zur Arabischen Halbinsel reicht; der Äthiopien-Kauz, Athene spilogastra, der nur an der Westküste des Roten Meeres vom Ostsudan bis nach Nordsomalia vorkommt; der Graubauchkauz, Athene poikilis, der bisher nur in der westlichen Provinz Sichuan in China gesichtet wurde; der Mongolische Steinkauz, Athene plumipes, beheimatet im russischen Altai, in der Mongolei sowie in Teilen Chinas; und zuletzt Athene brama, der Brahma-Kauz oder auch die »gefleckte Eule«, die in Indien und Südostasien vorkommt und deren erdbrauner Scheitel mit so vielen weißen Sprenkeln übersät ist, dass es so aussieht, als trüge sie ein mit winzigen Sternen besetztes, glitzerndes Toupet. In seinem Buch betont Mikkola, dass es von einigen dieser Arten mehrere Unterarten gibt und dass die gesamte Gruppe der Athene noch weiterer taxonomischer Untersuchungen bedarf. Also: Falls jemand ein spannendes Thema für seine Doktorarbeit oder seine Postdoc-Forschung mit Reisemöglichkeiten in der ganzen Welt sucht, nichts wie ran! Wie jedes Mal, wenn ich dieses wunderbare Buch aufschlage, war ich auch dieses Mal versucht, mich selbst diesem Projekt zu widmen, aber wahrscheinlich war irgendwo schon jemand damit beschäftigt, während ich das hier schrieb.

Das Verbreitungsgebiet des Kaninchenkauzes erstreckt sich vom Süden bis zum Norden des gesamten amerikanischen Kontinents, wobei die Eule vor allem in Wüsten und Savannen, in Kiefernbüschen der Pampa und im Flachland zu finden ist, von der Tierra del Fuego und dem äußersten Süden Argentiniens bis hin zu einigen Gebieten im Westen der USA. Es gibt sogar eine isolierte Population in Florida. In Europa oder irgendwo anders außerhalb Amerikas kommt die Eule nicht vor, zumindest nicht in freier Wildbahn. In unseren Gefilden gibt es nur den Steinkauz, und die beiden entfernten Verwandten trennt ein riesiger Streifen Atlantik.

Ohne sich all dessen bewusst zu sein, wurde Murray, der Kaninchenkauz, in einem speziellen Eulenzuchtzentrum in Cheshire von zwei in Gefangenschaft lebenden Elterntieren großgezogen. Wie die taxonomische Bezeichnung schon andeutet, ist Athene cunicularia die Eulenart, die sich am häufigsten auf dem Grund aufhält. Genau wie der Steinkauz läuft auch der Kaninchenkauz seiner Beute oft zu Fuß auf seinen athletischen Beinchen hinterher. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Arten. Der Kaninchenkauz baut sein Nest nicht wie der Steinkauz auf dem Boden zwischen Wurzeln oder Baumstümpfen; er nistet unter der Erde. Cunicularia leitet sich vom lateinischen cunicularius ab, was so viel wie »Bergmann« oder »Minenarbeiter« bedeutet. Dieser clevere Kauz kann ganz allein Höhlen graben, aus Bequemlichkeit okkupiert er aber normalerweise leere Kammern in bereits bestehenden Höhlen, die von Säugetieren wie Präriehunden oder Kaninchen angelegt wurden.

In den USA hat sich der Kaninchenkauz angesichts der immer weiter in sein Territorium vordringenden Menschenpopulation für den pragmatischen Weg entschieden und sich einem urbaneren Lebensstil angepasst: Er lebt auf Golfplätzen, Friedhöfen, Flughäfen, Weide- und Agrarflächen und nistet in städtischen Parks, in den Einfahrten von Menschen und sogar in deren Garagen. Er ist anpassungs- und widerstandsfähig, hält auf Erdhügeln Ausschau und ähnelt dem europäischen Steinkauz fast bis ins letzte Detail, nur sieht er etwas aufgeweckter und langgestreckter aus. Im Normalfall ist er 19 bis 25 Zentimeter groß, hat eine Flügelspannweite von fünfzig bis sechzig Zentimetern und wiegt etwa 140 Gramm (wobei die Weibchen deutlich schwerer sein können als die Männchen, manchmal bis zu 250 Gramm). Seine Verhaltensweisen sind fast deckungsgleich mit denen des Steinkauzes.

Ein Blick auf die Eigenschaften des Kaninchenkauzes zeigt, warum er von Taxonomen in dieselbe Gruppe wie Athene noctua kategorisiert wurde. Dennoch gibt es einige subtile Unterschiede zwischen den zwei Arten. Der Kaninchenkauz hat etwas längere, schlaksigere Beine, die außerdem spärlicher befiedert sind. Seine aufrechte Haltung hat sich vielleicht entwickelt, damit er besser Ausschau nach verstohlenen Bedrohungen auf dem Grund halten konnte, wie zum Beispiel der Eier und Küken verspeisenden Klapperschlange. Auf sandigen Untergründen erinnert der kleine Kauz an ein aufmerksam um sich blickendes Erdmännchen. Seine Augen leuchten jedoch so zitronengelb wie die unseres heimischen Steinkauzes, und sie schauen unter genauso dicken, ernsthaft gerunzelten weißen Brauen hervor, die sich zweifellos entwickelt haben, um wilde Raubtiere abzuschrecken.

Murrays helle Augen waren gerade wahrscheinlich geschlossen; er befand sich in diesem Moment in seiner abgedunkelten Reisebox an Bord des Virgin-Zuges, der uns entgegen in Richtung Süden raste. Für Murray war nur das Beste gut genug: Um die anderen Passagiere so wenig wie möglich zu stören und auch um dem Schock durch eventuelle laute Geräusche zu entgehen, reiste er immer erster Klasse.

Am Telefon fragte ich seine Pflegerin Anita Morris, ob Hühnerauflauf zum Abendessen in Ordnung sei.

»Das klingt super, wir essen beide Huhn«, antwortete sie.

Ich versuchte, mich mental vorzubereiten. Würde Murray frei herumfliegen, während wir aßen? Vielleicht würde er auf der Rückenlehne eines Stuhles mit uns zusammen am Tisch sitzen. Benji fand vor lauter Aufregung keine Worte.

Im Inneren seiner Kiste lagen neben Murray einige Stücke eines Eintagskükens, nur für den Fall, dass er hungrig aufwachen sollte. Die Reisebox war extra für ihn angefertigt worden, denn Murray war eine Arbeitseule und als solche viel unterwegs. Genauer gesagt war der Kaninchenkauz eine Therapie-Eule. Er und Anita arbeiteten als Zweiergespann und sensibilisierten gemeinsam die Bevölkerung für das Schicksal der Eulen, außerdem statteten sie kranken Menschen Hausbesuche ab und klärten die Jugend rund ums Thema Eule auf. Heute kam der Kaninchenkauz den ganzen Weg von Widnes in Cheshire bis zu uns nach Hause, begleitet von Anita. Ich fühlte mich geehrt, und sowohl Benji als auch ich liefen zapplig hin und her, so als ob wir eine Berühmtheit oder einen Filmstar erwarteten.

Allerdings ist Murray eine Berühmtheit. Er hat seinen eigenen Handle auf Twitter und veröffentlicht regelmäßig Tweets als Murray the Owl. Darüber hinaus wurde über ihn ein Kinderbuch mit dem Titel The Smallest Owl geschrieben. Anita hatte mir ein Exemplar davon zugeschickt. Ohne zu viel verraten zu wollen, geht es in dem Buch darum, wie man sich als sehr kleine Person in einer Welt voller großer, lauter, kluger und kompetenter Menschen manchmal fühlen kann. In der Geschichte spielt Murray sich selbst (die Fotos sind herrlich!) und geht der Frage nach, welchen Nutzen eine kleine Eule wie er seinen großen, starken Mitmenschen bringen kann. Dieses Gefühl kennen wir wahrscheinlich alle.

»Das Buch soll Kindern dabei helfen, ihr Selbstwertgefühl zu stärken«, erklärte mir Murrays Pflegerin Anita. Indem sie sich mit dem kleinen Murray und seinen Selbstzweifeln identifizieren, werden junge Menschen dazu ermutigt, sich ihrer eigenen Talente und Fähigkeiten bewusst zu werden und Selbstvertrauen aufzubauen, egal wie klein sie sich auch fühlen mögen. Es geht um Mitgefühl – mit anderen und sich selbst. Es ist die Art von emotionaler Intelligenz, die wir in der heutigen Zeit so dringend brauchen. Als ich das Buch Jenny vorlas, merkte ich, wie sich ihre Augen vor stummer Anerkennung weiteten. Ich glaube, das Buch wird ein richtiger Hit werden. Es erinnert uns an unsere Menschlichkeit. Nicht nur Kinder sollten es lesen, sondern auch Erwachsene.

Anita ist Psychologin und Direktorin von Hack Back CIC, einem innovativen sozialen Unternehmen, das sich die Förderung der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens von Menschen aus unterschiedlichen Altersgruppen und mit verschiedenen Hintergründen zum Ziel gemacht hat – und zwar mit der Hilfe von Greifvögeln! Nach ihrer Ausbildung zur Psychologin und jahrelanger Forschung zum Thema emotionale Intelligenz in der Unternehmensführung machte Anita sich als Life-Coach selbstständig, allerdings als Life-Coach der etwas anderen Art. Sie und Murray arbeiten in Schulen, Pflegeheimen, Hospizen und psychiatrischen Einrichtungen. Sie leisten nicht nur psychologische Unterstützung, sondern sind auch als Botschafter unterwegs, die mit ihrer Pionierarbeit das Bewusstsein für die Vorteile der Kombination von klassischen Therapien und dem Einsatz von Greifvögeln schärfen. Dieser Bereich der Psychologie ist neu: Steinadler können in Führungs- und Managementtrainings eingesetzt werden, die Falknerei kann autistischen Jugendlichen dabei helfen, aus sich herauszukommen, und Anita setzt Eulen ein, um die emotionale Intelligenz von Menschen zu trainieren. Die eigene Angst dem Tier gegenüber zu überwinden, sein Vertrauen zu gewinnen und es in seinem tierischen Anderssein zu respektieren, sind alles Dinge, die das Wohlbefinden, die Kreativität, die Fähigkeit zur Empathie und das Glück von uns Menschen fördern können.

Im Moment hatten Anita und ich folgenden Plan: Gemeinsam mit Murray würden wir einige Zeit in Plymouth verbringen und dort zusammen mit Eloise Malone, der Kreativdirektorin des sozialen Unternehmens Effervescent, und einer Gruppe von Kindern an einem kreativen Projekt arbeiten. Der Schauplatz hierfür würde die Radiant Gallery sein, ein künstlerischer Ort, der Ausstellungen mit Kindern organisiert. Ich war ganz gespannt darauf, Anita und Murray bei ihrer Arbeit mit den Kindern zu beobachten. Ich fragte mich, wie die Kinder auf den kleinen Kauz reagieren würden: ob sie etwas aus der Zeit mit ihm lernen könnten, ob sie von dem Zusammentreffen profitieren könnten und was das Ergebnis davon sein würde.

Bevor wir mit unserer Arbeit beginnen konnten, mussten Benji und ich jedoch erst mal Anitas und Murrays Schlafzimmer für ihre Ankunft vorbereiten und vor allem dafür sorgen, dass unsere räuberische Katze Malinki in der Küche eingesperrt wurde.

Nicht viel später saßen wir alle gemeinsam um unseren Esstisch herum, der Hühnerauflauf war fast verspeist, die Weinflasche vor uns so gut wie leer. Murray hockte auf der Lehne eines Stuhles, als die Tür zur Küche plötzlich laut knarrte und Malinki in den Raum spaziert kam, der Schwanz erhoben, der Blick unschuldig. Murray, der nicht größer als eine Teetasse war, blies sich in Sekundenschnelle zu einem gefiederten Luftballon auf, der wütend schnatterte und der Katze böse Blicke zuwarf. Malinki erstarrte vor lauter Überraschung, und ich nutzte die Chance, um sie aufzuheben und schnell in die Küche zurückzubringen. Nach dem Essen unterhielten wir uns lange, und Benji zog sich einen Handschuh über und hielt den kleinen Murray fest. Während Anita und ich unser Gespräch fortführten, sah ich aus dem Augenwinkel, wie Benji sein Gesicht ganz nah an das der Eule legte. Er kratzte den Vogel ganz sanft an seinem Schnabel, und Murray neigte seinen Kopf zur Seite und schloss die Augen.

»Wow, ich hatte keine Ahnung, dass er das mag«, sagte Anita. Sie sah gerührt und begeistert zugleich aus.

Es war nicht das erste Mal, dass ich feststellte, dass Benji ein Händchen für Tiere hatte. Wenn ein Frosch gerettet, eine Spinne vertrieben, ein verirrtes Huhn von einem hohen Ast in den Hühnerstall zurückgebracht oder ein nervöses Pferd beruhigt werden musste, war Benji meist derjenige, der sich der Aufgabe annahm.

Und tatsächlich: Benji und Murray entwickelten schnell ein enges Verhältnis zueinander, und das, obwohl der Naturforscher Tony Angell in seinem Buch The House of Owls über sein Leben mit verschiedenen Eulen behauptete, dass es sich beim Kaninchenkauz um die Eulenart handle, die am wenigsten für das Zusammenleben mit dem Menschen geeignet sei. Einmal wurde ein Exemplar gerettet und zu ihm gebracht, und er beschrieb den Kauz als einen »verrückten Gnom«, der sich trotz regelmäßiger Fütterung und Pflege nie an ihn gewöhnte. Der Kaninchenkauz, schlussfolgerte er, sei an das raue Wüstenleben gewöhnt und daran, sich sein Territorium mit Klapperschlangen, Dachsen und Kojoten zu teilen; ein Mensch war in diesem Lebensraum keine gern gesehene Kreatur. Als der gerettete Kaninchenkauz einmal davonlief und sich in einer dunklen Ecke hinter dem Bücherregal versteckte, machte Angell den Fehler und streckte seinen Arm in den dunklen Hohlraum aus – nur um dort dem überzeugend echten Imitat einer Klapperschlange zu begegnen. Die Eule produzierte ein zischendes Geräusch, das so naturgetreu klang, dass der Naturforscher instinktiv seinen Arm wieder herauszog und Angst hatte, es noch einmal zu versuchen.

In der Radiant Gallery, umringt von einem Kreis neugieriger Kinder, holte Anita Murray aus seiner Box. Ein kollektives Raunen ertönte. Die Freude und das Erstaunen waren groß, als der kleine Kauz erschien und langsam seinen Kopf drehte, um jeden Einzelnen von uns genau zu begutachten.

Draußen, in der gewöhnlichen Welt, rumpelten Busse und Taxis vorbei, Fußgänger schlurften die Straße entlang, aber hier drinnen war alles voller Magie. Eben noch hatte da eine schwarze Box mit geheimnisvollen Luftlöchern gestanden, die undurchdringbar war, im nächsten Moment knarrte die kleine Tür und heraus kletterte, wie ein kleiner Star, Murray der Kaninchenkauz.

Zu unserer aller Entzückung drehte der braun-weiß gescheckte Murray direkt in unserer Mitte ein paar Runden auf seinen knochigen Beinchen, die scharfen Krallen klackten auf dem polierten Holzboden. Die Kinder hielten vor Bewunderung den Atem an.

Der winzige Kaninchenkauz füllte den gesamten Raum aus. Seine Aura hielt uns gefangen, sie flößte uns Ehrfurcht ein. Dann, ganz leise – man hatte die Kinder gewarnt, dass Murrays Gehör sehr empfindlich war –, begann ein Murmeln die Stille zu füllen. Viele kleine Ausrufe, darüber, wie klein der Kauz war, wie schön und perfekt, und wie grimmig er gleichzeitig dreinschaute. Diese Augen! Nichts entging ihnen. Und in seinen empfindlichen Ohren musste jedes Geräusch, jede winzige Bewegung und jedes Rascheln in den großen hallenden Räumen der Galerie wie ein Feuerwerk krachen. Wir alle wollten unsere Hand ausstrecken und Murray berühren, aber wir wussten von Anita, dass er wahrscheinlich nicht gestreichelt werden wollte, und das mussten wir respektieren. In der Haltung der kleinen Eule lag ein gewisser Trotz, vielleicht ein Überbleibsel der tief sitzenden Wildheit, die Angell in seinem geretteten Kaninchenkauz beobachtet hatte, als dieser ihn wie eine Klapperschlange anfauchte.

Murray stand stramm, und wir starrten ihn an. Vielleicht fühlten wir uns in diesem Moment alle irgendwie mit ihm verbunden: Auch er war fremd hier, ein Außenseiter. Vielleicht war er genauso nervös wie wir. Deshalb durften wir ihm keine Angst einjagen. Wir mussten ihn leise willkommen heißen, ihm dabei helfen, sich sicher und gut aufgehoben zu fühlen.

Anita brachte den Kindern bei, wie sie sich in der Nähe von Murray verhalten mussten. Sie mussten ihr Verlangen, ihn hochzuheben und zu streicheln, zügeln und stattdessen langsam und sachte vorgehen. Einer nach dem anderen durften wir abwechselnd den Falknerhandschuh überziehen, auf den Murray trainiert wurde, und Kontakt zu der kleinen Eule aufnehmen. Die Gesichter der Kinder leuchteten auf, wenn Murray jedem Einzelnen von ihnen entgegenflog. Dieser kleinen, gefiederten Kreatur so nah zu sein, weckte unsere Neugierde.

Was fiel uns an Murray auf? Er war sehr klein und leicht, er könnte nervös sein.

»Wie ich!«, verkündete ein Kind namens Lee plötzlich lächelnd. »Er ist wie ich!«

Eins nach dem anderen hatten die Kinder kleine Aha-Erlebnisse. Murray, der kleine, jähzornig dreinblickende Kauz, half uns allen dabei, etwas über uns selbst zu erfahren.

»Wie können wir Murray dabei helfen, sich zu entspannen?«, fragte Anita.

»Wir können leise mit ihm reden!«

»Und was können wir ihm sagen, damit er sich sicher fühlt?«, fragte sie weiter.

»Guter Junge!«

»Gut gemacht, Murray, du bist sehr mutig.«

»Er kann zwar nicht verstehen, was wir sagen, aber wir fühlen uns gut dabei, so mit ihm zu reden«, erklärte Anita. »Und er weiß, dass er nachher eine Belohnung bekommt.«

»Er kann meinen Herzschlag hören. Er weiß, wie ich mich fühle«, warf Jessica ein.

»Wie können wir Murray dazu bringen, uns zu vertrauen?«, fragte Anita als Nächstes.

Wir spielten ein Spiel, bei dem Murray eine kleine Stoffmaus aufheben und in einer Box ablegen musste. Dabei bekam er jedes Mal, wenn er es richtig machte, eine Belohnung. Wurden die Kinder beim Zuschauen zu aufgeregt, sagte Anita: »Wir geben der Eule jetzt etwas Zeit, sich zu beruhigen, weil sie ein bisschen überfordert ist.«

Dann verzog sich Murray für eine Weile zurück in seine Box. Wir alle lernten auf diese Weise etwas über Empathie und darüber, wie man eine Verbindung zu einem anderen Wesen herstellt. Wir lernten, die Verletzlichkeit der Eule und ihr Bedürfnis nach Raum und Verständnis zu respektieren. Und damit lernten wir auch, uns selbst und unseren Bedürfnissen mehr Akzeptanz entgegenzubringen. Das Zusammentreffen mit Murray brachte uns in einen intimen Dialog mit uns selbst; zusammen mit unserem tierischen Freund bildeten wir eine Gemeinschaft.

Nach dem Mittagessen las Anita den Kindern eine Eulengeschichte vor, und eine Weile lang rekelten sie sich verträumt auf ihren Kissen. Die Geschichte war gespickt mit Fakten über Eulen, und die Kinder hörten entspannt, aber aufmerksam zu. Danach fragten wir sie, woran sie sich erinnern konnten:

»Eulen müssen ihren Kopf ganz weit im Kreis drehen, deshalb haben sie zusätzliche Wirbel und Blutgefäße, die ihnen dabei helfen.«

Alle hatten gut aufgepasst. »Aber nicht ganz im Kreis!«

»Es gibt einen Horrorfilm, in dem ein Mädchen das macht – ihr Kopf dreht sich ganz oft.«

»Und sie spuckt überall hin!«

»Das ist ein ganz gruseliger Film namens Der Exorzist. Den habt ihr aber nicht gesehen, oder?«

»Nein, aber davon gehört!«

Später, als Murrays Schicht zu Ende war und er wieder in seiner Box saß, war es Zeit für den Heimweg. Immer noch knisterte die Luft vor Freude und Aufregung. Nach diesem Zusammentreffen schien die Welt auf einmal voller Möglichkeiten. Die Kinder würden jetzt nach Hause gehen, und am nächsten Tag würden sie in die Welt hinaustreten und die Weisheit, die ihnen der kleine Kaninchenkauz anvertraut hatte, in ihrem Leben anwenden. Vielleicht konnte man von einer in Gefangenschaft lebenden Eule ja doch etwas lernen. Murray lebte zwar nicht das Leben seiner wilden Artgenossen, aber er verfügte über andere Talente und war zu einem Botschafter geworden, der Kindern beim Erlernen von Empathie half. Durch das Überschreiten der Grenze, die zwischen unseren Arten verläuft, hatte der Kaninchenkauz die Position eines Gesandten eingenommen, der uns dazu inspirierte, über Gleichheit und Fairness nachzudenken. Die kleine Eule hatte es sich zur Aufgabe gemacht, uns Menschen Rücksichtnahme zu lehren und uns beizubringen, wie wir eine Gemeinschaft pflegen und uns gegenseitig respektieren können. In diesem Sinne war Murray ein kleiner Apostel der Zukunft.