Asio flammeus

DIE SUMPFOHREULE

Die Dämmerung war hereingebrochen. Milan hatte uns zu einer Burg gefahren, von der er wusste, dass Sumpfohreulen sie als Rastplatz auf ihrem Weg gen Süden benutzten. Die untergehende Sonne warf ihr scharlachrotes Licht auf die bröckelnden Mauern; es war die Farbe von Torfmoos und Gagelstrauch, die uns aus der weiten, nassen Tundra hierher zu verfolgen schien. Milan machte den Ruf einer Maus in Not nach. Erst passierte nichts, dann schwebte aus den hohen Ästen einer Kiefer ein goldgelber Schatten herab. Es folgte ein weiterer, aus demselben Baum. Wir hatten gute Sicht auf die langen, blassen Flügel der Eule, die weniger einheitlich und ein bisschen heller waren als die der Waldohreule. Sumpfohreulen haben schwarze Unterhanddecken – das sind die sichelförmigen Stellen an der Unterseite der Flügel, die sich um das »Handgelenk« herum befinden –, die sich deutlich vom Rest ihres hellen Gefieders abheben. Milan wies uns darauf hin, dass die Flügel dieser Eulenart geringfügig länger waren als die der Waldohreule, jedoch war ihr Flug ähnlich: schnelle Flügelschläge, die in einen Gleitflug übergingen. Die Tiere huschten und wirbelten unruhig umher, als sie uns erblickten, in ihren blassen Gesichtern spiegelte sich Verwirrung.

»Sie haben Angst«, sagte Milan, während er die Eulen genau beobachtete. »Schaut euch an, wie desorientiert sie sind. Sie sind den ganzen Weg aus der Tundra hierhergeflogen, vielleicht tausend Meilen, und möglicherweise haben sie noch nie zuvor Menschen und eine Stadt gesehen.« Viele Sumpfohreulen ziehen im Winter in den Süden, und diese beiden hier waren vielleicht von so weit weg wie Skandinavien oder Russland gekommen. In der kalten Jahreszeit sucht die Sumpfohreule Schutz und Nahrung in diesem Gebiet, und obwohl sie nicht so gesellig ist wie die Waldohreule, kann man sie in diesen Monaten trotzdem öfter in kleinen Gruppen sehen, die über das Grasland fliegen oder sich in einem Baum zum Schlafen versammeln. Die zwei Eulen vor uns waren ebenfalls Teil einer Gruppe, denn weiter oben im Baum entdeckten wir noch zwei weitere Tiere. Sumpfohreulen sind eine der wenigen Arten, die man in Europa auch bei Tageslicht zu Gesicht bekommt, und wir hatten hier das besondere Vergnügen, gleich mehrere der Vögel in einem Baum zu sehen. Sie wirkten ängstlich, unsicher. »Das Wichtigste ist«, ermahnte Milan uns, »dass wir Abstand halten und keinen Blickkontakt mit den Eulen aufnehmen. Sie denken sonst, dass wir einen Angriff planen.«

Während wir die Eulen bewunderten, schlich sich Margaret davon, um mit ihrem großen Objektiv ein Foto zu machen. Sie war wahnsinnig leise und die Einzige von uns, die auf dieser Reise noch keine Eule erschreckt hatte. Ich beobachtete sie dabei, wie sie in aller Ruhe ihre Kamera einstellte. Sie war eine erfahrene Fotografin und in ihrer Tarnkleidung aus geschmeidigem Fleece so unauffällig und lautlos wie die Eulen selbst. Es war schwer, in dieser Umgebung ein gutes Foto von diesen scheuen Vögeln zu machen, denn das wenige Licht, das es hier gab, fiel hinter ihnen durch die Kiefern. Margaret schickte mir später einige ihrer Aufnahmen – eine großzügige Geste, zumal ich nach dem Kameradebakel in Kikinda den Mut verloren und keine eigenen Fotos mehr gemacht hatte.

Kurz bevor das letzte Licht der Dämmerung verschwand, fixierte ich mit meinem Fernglas eine Sumpfohreule, die hoch oben auf einem Ast in einer Silberfichte hockte. Ihre schwarze Augenmaske sah ein wenig aus wie ein seltsames Grufti-Make-up und bildete einen verblüffenden Kontrast zu dem ansonsten blassen, rundlichen Gesicht und den leuchtend gelben Augen. Die Eule war eindeutig verwirrt über unsere Anwesenheit. Wie wirkten wir Menschen auf diese Gruppe Eulen, die direkt aus der Tundra kam? Wir, diese seltsamen flügellosen Wesen, die wie Bienen inmitten dieser alten, widerhallenden Mauern herumschlichen? In diesem Moment wurde mir meine unbeholfene Menschlichkeit schmerzhaft bewusst, und ich trat einen Schritt zurück – ich wollte nicht mehr so neugierig sein, ich wollte die Eulen nicht mehr verfolgen.

»Es kommt selten vor, dass man eine Sumpfohreule so wie hier am Rande eines Dorfes entdeckt«, sagte Milan leise. Ich folgte seinem Blick mit meinem Fernglas. »Sieh dir an, wie sie fliegt – man erkennt diese Eulenart daran, dass sie immer im Kreis herumflattert. Sie will nicht weg, sie will zurück auf den Ast, den sie bereits kennt. Sumpfohreulen sind sparsam mit ihrer Energie. Haben sie einmal einen Platz gefunden, der ihnen gefällt, bleiben sie dabei und kehren immer wieder dorthin zurück.«

Ich dachte darüber nach, wie erschöpft diese Sumpfohreulen sein mussten. Vielleicht war es für einige von ihnen der erste Winter, den sie an einem fremden Ort verbrachten. Möglicherweise waren sie den ganzen Weg aus der Arktis bis hierher geflogen, um nicht zu verhungern und in dem milderen Klima Serbiens Schutz zu finden. Was würden sie tun, wenn es auch hier im Januar richtig kalt werden würde?

Milan erklärte uns mittlerweile mehr über das Verhalten der Vögel: »Schaut euch an, wie sie herumfliegen, wenn sie sich erschrecken«, sagte er und lenkte unseren Blick sanft nach oben. Die Sumpfohreule über uns schwebte auf ihren langen, schwarz gesäumten Flügeln im Kreis, so als befände sie sich in einem Zwiespalt, ob sie zu ihrem Ast zurückfliegen sollte oder nicht. Sie war offensichtlich nervös. Wahrscheinlich würde jeder Neuankömmling sich so verhalten – unsicher, unbeholfen, der Landessprache nicht fähig, überwältigt von der neuen Umgebung, fixiert auf jede Kleinigkeit, die sich vertraut anfühlte. Für Zugvögel war die Welt auf das Wesentliche reduziert: Boden, Himmel, Baum; Wasser, Nahrung, Unterkunft.

Trotz ihres Namens sind es nicht die Ohren der Sumpfohreule, die sich als ihr auffälligstes Merkmal erweisen, sondern ihre Augen. Linnaeus entgingen der feurige Blick und die schwarze Augenmaske des Raubvogels nicht, und er benannte ihn entsprechend: Asio flammeus, die Eule mit den Flammenaugen. Viele Eulen haben gelbe Augen; es ist in der Regel ein Zeichen dafür, dass sie bei Tageslicht jagen. Eulen mit bernstein- und orangefarbenen Augen bevorzugen das schwache Licht der Abend- und Morgendämmerung, während Eulen mit dunklen braunen Augen fast ausschließlich in der Nacht jagen. Es sind aber nicht nur die Augen der Sumpfohreule, die feurig glänzen – auch die Art und Weise, wie ihr Gefieder das Licht reflektiert und auf den Betrachter zurückwirft, lässt sie »flammend« erscheinen.

Die sogenannten Ohren dieser Eule sind, genau wie bei den anderen Arten, keine echten Ohren, sondern hübsche Federbüschel, die hauptsächlich zur Kommunikation genutzt werden. Besonders verwirrend ist, dass diese kleinen Büschel normalerweise nicht sichtbar sind, sodass die Eule aus weiter Entfernung, bei schlechten Lichtverhältnissen oder in der Luft leicht mit einer Waldohreule (deren Ohrbüschel im Flug auf dieselbe Weise verschwinden) oder sogar mit einer Schleiereule verwechselt werden kann. Die wahren Ohren der Eule befinden sich versteckt in den Federn hinter dem Gesichtsschleier, wo sie wie bei allen anderen Eulen, denen wir auf dieser Reise bereits begegnet sind, asymmetrisch angeordnet sind. Wenn die Sumpfohreule auf einem Ast sitzt und aufmerksam ihrer Umgebung lauscht, stellt sie ihre Ohrbüschel regelmäßig auf, sodass sie aussehen wie kleine Teufelshörner. Schreckt die Eule auf, können die Büschel leicht nach vorn gerichtet sein, und fühlt sie sich bedroht, sind sie zu verschiedenen Graden aufgestellt.

Milan hatte die Vögel über Jahre hinweg genau beobachtet; er wusste, wie sie sich verhielten, wie sie flogen und sogar, wie ihre Flugbewegungen sich von denen der Waldohreule unterschieden. Uns erzählte er jetzt, dass die Sumpfohreule im Jagdflug mehr Schlenker machte als die Waldohreule, und obwohl Erstere schwerer gebaut war, waren ihre Flügelschläge flacher und die Flügel spitzer, im Gleitflug legte der Raubvogel sie außerdem manchmal in Form eines V an den Körper an.

Im Flug sehen die Flügel der Sumpfohreule schlanker aus als die der Waldohreule, die Innenfahne ihrer Federn ist weiß, und die Flügel weisen ein gut sichtbares gestreiftes Muster auf, das in die charakteristischen schwarzen Federspitzen übergeht. Die obere Brust und der Hals des Vogels sind dunkel gezeichnet, sein Bauch hingegen ist blass, ganz im Gegensatz zu dem der Waldohreule, deren Markierungen sich bis über ihre Vorderseite ziehen.

Als das Licht komplett verschwunden war, stapften wir zurück zu unserem Eulenmobil – hungrig und müde, aber voll von den Eindrücken eines weiteren Tages im Eulenparadies. Die in der Dämmerung leuchtenden Flügel der Sumpfohreule hatten sich wie ein Negativbild auf unsere Netzhaut gebrannt; am nächsten Tag würde ich die Erinnerung an ihren flammenden Flügelschlag mit nach Hause nehmen.

Kaum war ich zurück in der Heimat, nahmen die Winterwinde an Stärke zu. Sie brausten von Westen und Norden heran und rüttelten an Bäumen und Dächern – Sturmtief Gertrude trieb ihr Unwesen. Erst Anfang Dezember waren wir Sturm Desmond zum Opfer gefallen, einem der zerstörerischsten Unwetter, die je den Nordwesten Englands heimgesucht hatten. Anschließend hatte Sturm Eva über Weihnachten noch mehr Verwüstungen angerichtet; darauf folgte Sturm Frank, der zu Neujahr eine neue Welle Elend über Englands Südwesten hinweg schickte. Die meisten Silvesterpartys fielen wortwörtlich ins Wasser, Straßen wurden überflutet, Reisepläne lösten sich in Nichts auf. Nun, da die tief hängenden Wolken am Himmel und die Wettervorhersage weitere unheilvolle Nachrichten ankündigten, kauerten wir uns zusammen und rechneten mit dem Schlimmsten. Sturm Gertrude hielt Einzug.

Regenwasser flutete durch unsere undichten Schlafzimmerfenster und hielt uns bis in die frühen Morgenstunden wach. Rick rannte mit einem Eimer hin und her, um wenigstens einen Teil der Nässe aufzufangen, aber unser Teppichboden war am nächsten Tag trotzdem ruiniert. Wir wischten alles auf, so gut wir konnten, und ich spielte mit dem Gedanken, nach draußen zu gehen. Ausflüge in die windumtosten Hochmoore waren für mich in diesem Winter zu einer Regelmäßigkeit geworden; ich wollte mit eigenen Augen sehen, was die frischen Winde ins Land geweht hatten. Im Flugzeug auf dem Weg zurück aus Serbien hatte ich mir das Bild der Sumpfohreule zurück ins Gedächtnis gerufen: ihr anmutiger Flug, die langen Flügel, die strenge Form ihres Gesichts. Nun wollte ich die majestätische Kreatur auch bei uns zu Hause im heimischen Moor aufspüren – ich wusste genau, dass sie dort irgendwo sein würde. Diese Eule jagt überwiegend tagsüber, sodass man sie in den Mooren, den küstennahen Sümpfen, auf den Dünen und an anderen schilfbedeckten Stellen, wo sie sich zu Hause fühlt, mit etwas Glück hin und wieder zu Gesicht bekommt. Die Eulen haben im Sitzen einen leichten Buckel, aber wenn sie zum Flug ansetzen, kann man nicht anders, als ihre schiere Anmut und Beweglichkeit zu bewundern. Sie stürzen sich in die Tiefe, machen einen Schlenker und gehen in den Gleitflug über, wobei ihr helles Gefieder, die weißen Unterschwingen und die glühenden Augen vom Boden aus deutlich zu sehen sind.

Im Südwesten Englands befindet sich die Eule normalerweise auf der Durchreise; sie muss weite Strecken zurücklegen, um ihre Lieblingsbeute, die Wühlmaus, zu finden. Beringte Vögel aus Großbritannien wurden schon in so weit entfernten Gebieten wie Russland, dem Mittelmeerraum und Nordafrika gefunden. Sobald eine Sumpfohreule in Großbritannien angekommen ist und sich ordentlich vollgefressen hat, ändert sie ihren Kurs und gleitet gen Westen und Norden, über Moor, Berge und Meer, um ihre Frühjahrs- und Sommerbrutplätze zu erreichen, die oft auf weit entfernten Inseln im Westen wie Skomer Island, Skokholm und den Äußeren Hebriden liegen. Ich hatte gelesen, dass eine kleine Zahl der Eulen jedes Jahr nach Devon zog. Dies sollte meine bisher größte Herausforderung werden, was die Sichtung einer Eule betraf. Ich wusste, dass die Sumpfohreule hierzulande eine Seltenheit war, jedoch kam diese Seltenheit regelmäßig vor. Eventuell könnten sich ein, zwei oder sechs Exemplare hierher verirrt haben, oder vielleicht waren es sogar 16. Ich hoffte, meine Suche würde Früchte tragen.

Ich war überzeugt, dass ich nur hart genug suchen, lange genug warten und meinen Radius genug ausweiten müsste, bis der Winter eine Sumpfohreule in die Nähe meines Wohnorts bringen würde. Während ich auf Twitter aufmerksam die Tweets meiner Vogelfreunde verfolgte, machte ich regelmäßige Ausflüge in die Moore. Der Frühling stand vor der Tür; alle Sumpfohreulen, die sich gerade noch hier aufhielten, würden sich bald auf den Weg nach Norden in ihre Brutgebiete machen. Ich konsultierte meine Freunde vom British Trust for Ornithology, die mit der Hilfe von Freiwilligen in Schottland Erhebungen zu dieser Eulenart anstellten. Dabei erfuhr ich, dass es extrem schwierig war, die Sumpfohreule zu zählen, und der BTO einen Großteil seiner Untersuchungsergebnisse der Arbeit von begeisterten und engagierten Eulenliebhabern zu verdanken hatte. Gestaltete sich diese Arbeit so schwierig, weil die Sumpfohreule am Boden brütete, wo die Nester nicht immer gefunden und die Küken nicht so leicht gezählt werden konnten, da sie nicht an einen künstlichen Nistkasten gebunden waren? Das Wanderungsverhalten der Zugvögel, ihr extrem gut getarntes Gefieder und die Gewohnheit, in der Dämmerung zu jagen, trugen außerdem ihren Teil dazu bei, dass die Sumpfohreule den Statistiken nur allzu leicht entglitt. Darüber hinaus wurde in vielen Berichten eingeräumt, dass Individuen, die nicht erfolgreich nisteten, leicht unentdeckt bleiben konnten, was zu weiteren Ungenauigkeiten bei ihrer Zählung führte. In Großbritannien lag die zahlenmäßige Schätzung der Sumpfohreulen infolgedessen irgendwo zwischen 780 und 2.700 Brutpaaren – eine irritierend breite Spanne! Vorsichtigere Schätzungen gehen davon aus, dass die tatsächliche Anzahl der Eulen eher am unteren Ende dieser Kalkulation anzusiedeln ist. Fakt ist jedoch: Wir können uns nicht sicher sein, und es sind weitere Untersuchungen nötig.

Eine Möglichkeit, Eulen zu orten, sind ihre Rufe, jedoch sind die der Sumpfohreule recht leise. Da der Raubvogel tagaktiv ist und sich darauf verlassen kann, andere Eulen seiner Art mit seinen scharfen Augen auszumachen, kann er es sich im Gegensatz zu den Waldkäuzen mit ihren lauten und teilweise komplexen Rufen leisten, über ein eher einfaches Repertoire an leisen Lauten zu verfügen. Der Revierruf des Männchens ist ein tiefes »Buu-buu-buu-buu«, worauf das Weibchen mit einem tiefen, rauen »Rii-auu« oder »Kii-auu« antwortet. Daneben gibt es noch ein leises, gegrunztes »Wuuh«, auf das normalerweise ein Zischlaut, so ähnlich wie ein undichter Wasserhahn, folgt. Im Frühjahr beginnen die männlichen Sumpfohreulen mit ihren theatralischen Balztänzen, bei denen sie im Flug gelegentlich mit den Flügeln klatschen, jedoch wusste ich, dass ich diese Darbietung so weit im Süden nicht zu Gesicht bekommen würde, da die Eulen in dieser Gegend nicht brüteten.

Anfang März, als ein Großteil des Landes sich immer noch mit verheerenden Stürmen herumschlug, anstatt den Frühlingsanfang zu genießen, hatte ich meine Suche nach der Sumpfohreule schon fast aufgegeben. Im Süden Devons kündigte sich der Winter noch einmal an, was eine schlechte Nachricht für Brutvögel jeglicher Art war. Schnee und Eis waren vorhergesagt. Ich blieb trotz allem hoffnungsvoll, dass dies gute Neuigkeiten für mich sein könnten: Kaltes Wetter, das aus Skandinavien hierherkam, kündigte oft auch die Ankunft von Sumpfohreulen an, da sie gen Süden flogen, um dem Schlimmsten zu entgehen und sich in einem milderen Klima zu erholen.

Weiter nördlich wurde eine Sumpfohreule, die in Richtung Süden unterwegs war, verletzt aufgefunden. Sie war in der Nähe von Lincoln von einem Auto angefahren und in ein Rettungszentrum gebracht worden, wo sie gesund gepflegt und wieder ausgewildert wurde. Die Empörung über ihre Gefangenschaft war ihr deutlich vom Gesicht abzulesen, als die Eule in einem Fernsehbericht über meinen Bildschirm flimmerte, und ich spielte mit dem Gedanken, in den Zug zu steigen und nach Norden zu fahren, um sie aus der Nähe betrachten zu können. Dann hörte ich, dass in den Mooren der Grafschaft Durham zwei Eulen von einem Spaziergänger tot aufgefunden worden waren. Die beiden Kadaver waren in einem Erdloch in der Nähe des Selset Reservoirs unweit von Middleton-in-Teesdale versteckt worden. Eine schnelle Recherche ergab, dass der Stausee in einem Naturschutzgebiet lag und damit das perfekte Revier für Sumpfohreulen darstellte: Mit vielen offenen Heide- und Torfmooren, Heuwiesen, Tälern, Wäldern und Flüssen war das Gebiet extrem reich an ihren Lieblingsbeutetieren: Wühlmäusen.

Aber warum würde jemand mitten in der Wildnis zwei Eulen töten und verstecken wollen? Waren sie zum Schutz von Wildvögeln geschossen worden? Eine Obduktion bestätigte, dass die Tiere tatsächlich durch Gewehrschüsse zu Tode gekommen waren. Zu der Vogelwelt in diesem Gebiet zählten neben den Eulen auch viele Moorschnee- sowie Birkhühner. War es möglich, dass die Sumpfohreulen von Wildhütern aus der Ferne mit dem größten Feind dieser Vögel, der Kornweihe, verwechselt worden waren? Wurden sie absichtlich abgeschossen, um sicherzustellen, dass sie sich nicht an den Moorhühnern vergehen würden? Unglücklicherweise ähnelt das Gefieder der Sumpfohreule dem der weiblichen Kornweihe – genau wie die Eule hat auch sie ein rundes Gesicht und eine ähnliche Zeichnung am Schwanz. Beide Vogelarten sind außerdem ungefähr gleich groß. Obwohl sowohl die Sumpfohreule als auch die Kornweihe unter Schutz standen und die Tötung eines dieser Vögel eine sechsmonatige Freiheitsstrafe nach sich ziehen konnte, wurden sie von Jägern manchmal dennoch geschossen. Die Polizei bat die Öffentlichkeit damals um ihre Mithilfe, um das Verbrechen an den Eulen aufzuklären, doch die Geschichte geriet schon bald in Vergessenheit, ohne dass je ein Täter überführt wurde.

An einem kalten Nachmittag wanderte ich schließlich hoch zum Rippon Tor, einem markanten Felsvorsprung im südlichen Dartmoor. Von dieser windigen Stelle aus hat man einen weiten Blick über die Moorlandschaft, die sich über weite Teile Devons bis zur trichterförmigen Mündung des glitzernden Teign-Flusses erstreckt. Ich saß im Windschatten des Granitfelsens in der Nähe der Hügelkuppe, lauschte dem Rauschen des Grases im Wind und blickte über die Felder, die zum Meer hin abfielen. Der Himmel war erfüllt von einer unheimlich niedrig hängenden grauen Wolkenschicht, durch die an einigen Stellen zitronengelbes Licht sickerte, das die Landschaft mit einer wässrigen Blässe überzog. In der Luft lag der Duft von Schnee, und ich saß eine lange Zeit einfach nur da und ließ mir die eisige Brise um die Nase wehen.

Dann plötzlich erregte ein Flackern meine Aufmerksamkeit. Endlich, nach all der Zeit des Wartens, erhob sich aus der golden glänzenden Wiese ein Paar langer Flügel, in denen die Gesamtheit aller Braun- und Ockertöne des Moores schimmerte, dazu die dunkle Farbe von Brombeeren und Winterfarnen und die Sepiatönung der Gräser. Als der helle Schatten an mir vorbeiglitt und ich meinen Kopf drehte, um ihm mit meinen Augen zu folgen, sah ich, dass seine Flügel in einem V angeordnet waren. Das blasse Gesicht war nach unten gerichtet, auf die flachsblonden Gräser und das Gewirr aus Flechten und verwelktem Gestrüpp. Der leuchtende Umriss ließ sich senkrecht fallen und verschwand. Als er zu meiner Freude wenige Sekunden später wieder auftauchte, war ich mir hundertprozentig sicher, auch ohne Fernglas: Das hier war Asio flammeus, die Eule mit den Flammenaugen. Sie war nicht mehr als zwanzig Meter von mir entfernt, und als ein erneuter Luftzug aufkam, ließ sie sich von der unsichtbaren Brise, ohne ihre Flügel zu bewegen, weiter in meine Richtung wehen. Unbeeindruckt von meiner Anwesenheit schwebte sie durch die Luft und drehte kurz vor mir um, wobei ihre blassen Unterschwingen mit den schwarzen Flügelspitzen deutlich die dunkle Form einer Mondsichel preisgaben: die Unterhanddecken – so nah, dass ich sie fast berühren konnte!

Mein Magen verkrampfte sich. Die Eule schwang sich noch ein wenig höher in die Lüfte, driftete leicht bergab und ging immer mehr in den Sinkflug, während sie den Boden nach Beute absuchte. Die langen Beine waren vom Körper gestreckt und bereit zum Angriff. Ein schräg aus den Wolken fallender Lichtstrahl beleuchtete die weichen cremefarbenen Oberflügeldecken des Raubvogels, die gespickte Goldfärbung der Handschwingen und die weißen Spitzen seiner Schwungfedern, während er immer wieder im Kreis flog, hin und her, immer noch auf der Suche. Plötzlich drehte die Eule sich um und flog wieder den Abhang hinauf, direkt auf mich zu.

Was dann geschah, war so verblüffend, dass ich daran zweifelte, ob es real war. In meiner Sitzposition im Schneidersitz inmitten von Gras und Steinen musste ich wie ein Teil der Landschaft ausgesehen haben, denn die Eule kam immer näher und fixierte mich dabei mit ihren eindringlichen gelben Augen. Irgendwann war sie so nah, dass ich deutlich die schwarze Zeichnung um ihre Augen erkennen konnte – und sie machte keine Anstalten umzudrehen. Als Nächstes streckte sie ihre Beine aus, als wollte sie auf mir landen. Ich sah den beigen Flaum auf ihren Füßen, so weich, dass es mir nichts ausgemacht hätte, ihn zu berühren, wären da nur nicht die tödlich scharfen Krallen gewesen, die der Vogel nun spreizte und direkt auf meinen Kopf ausrichtete. In diesem Moment zuckte ich zusammen und stieß vor lauter Panik einen Schrei aus. Er war eine Warnung an die Eule, ein Reflex, mit dem Ziel, den Vogel von seinem Kurs abzubringen. Zu meinem Erstaunen kreischte die Eule zurück, genau in dem Moment, in dem ich mich duckte, um nicht von ihren ausgestreckten Krallen skalpiert zu werden. Nachdem sie ihren Irrtum bemerkt und realisiert hatte, dass ich in meiner braunen Tarnkleidung kein Teil der Landschaft war, wich sie in Sekundenschnelle aus, immer noch krächzend, ihr Ruf ein sicheres Zeichen ihres Ärgers.

Mit einem schnellen und nicht gerade würdevollen Schlenker änderte die Sumpfohreule die Richtung, schwebte tief über den Boden hinweg und verschmolz schließlich auf unheimliche Weise mit den leuchtenden Farben des Hügels. Sie flog davon, und ich sah sie nie wieder. Ich weiß nicht, wer von uns beiden überraschter war. Mit trockenem Mund und klopfendem Herzen blieb ich zurück, von der Kopfhaut bis zu den Zehennägeln befand sich mein gesamter Körper in Alarmbereitschaft; die Eule hatte mich ihrem Zauber unterworfen und in Schockstarre versetzt.

Meine – zugegeben nicht gerade umfangreiche – Erfahrung hat mich gelehrt, dass die wichtigsten Eigenschaften bei der Beobachtung von Vögeln Geduld und Ausdauer sind. Mein Freund Paul Riddle, der einen Blog über Eulen schreibt, erzählte mir, dass er erst kürzlich eine Reise nach North Uist unternommen hatte, wo er einen Großteil seiner Zeit mit Warten verbracht hatte (und damit meinte er wohl eher Tage als Stunden, also weit mehr, als die meisten von uns bereit waren zu investieren). Neben Geduld ist auch die eigene Positionierung entscheidend: Wenn ich eines von erfolgreichen Naturbeobachtern gelernt habe, dann ist es, sich dem Tier direkt in den Weg zu stellen. Das heißt, dass man sich nicht einfach irgendwo niederlässt, sondern einen gut recherchierten Platz auswählt, den der Vogel höchstwahrscheinlich irgendwann aufsuchen wird. Dabei kommen seine Bedürfnisse ins Spiel: Die Kunst besteht darin, wie eine Eule zu denken und zu wissen, was sie braucht. Merke: Wenn eine Eule nicht gerade frisst, dann ruht sie sich aus. Und wo tut sie diese Dinge?

Paul erzählte mir, wie er sich an diesen Orten auf die Pirsch legte; er wählte hauptsächlich Beobachtungspunkte, wo er sein Auto an der Straße parken, sein langes Objektiv vor einem weiten Streifen nebliger Moorlandschaft aufstellen und sich selbst in Sichtweite einiger Zaunpfähle und Nadelbäume positionieren konnte. Der Wind blies ihm um die Ohren und jagte Nebelschwaden über den Horizont, Sprühregen setzte ein und hörte wieder auf, die Uhr im Auto lief weiter; und während all dieser Zeit wartete Paul und hielt Ausschau nach den Eulen, die hier vielleicht auf ihrem Jagdzug vorbei- oder auch nicht vorbeifliegen würden. Wenn man bedenkt, dass Eulen nur einen Bruchteil des Tages mit Jagen und Fressen beschäftigt sind, wird einem klar, wie lange Paul in der Tat gewartet haben musste.

In North Uist befinden sich viele Futterplätze der Sumpfohreulen, aber man muss sich auf das Wetter und auch auf die kargen Moorlandschaften einstellen. Die Insel liegt zwischen Harris und Benbecula, nur eine kurze Fahrt in Richtung Süden von der bekannteren Isle of Lewis entfernt. Wie die anderen Hebrideninseln ist auch North Uist ein Labyrinth aus tief liegenden, empfindlichen Feuchtgebieten, eine »ertrunkene Landschaft«, bestehend aus Torfmooren und Seen sowie ein paar sporadischen Dünen, geformt aus blendend weißem Sand. An ihren Rändern wird die Insel von langen, flachen Stränden gesäumt. Als ich Pauls Beschreibung lauschte, packte mich sofort die Lust, diesem Flecken Erde selbst einen Besuch abzustatten.

Während der gesamten drei Tage, die Paul mit seinem Freund Adey auf North Uist verbracht hatte, waren starke Winde und Schauer aus Richtung des Atlantiks über die Insel hinweggeweht. Als am letzten Tag endlich der Himmel aufklarte, hatten die beiden schon fast die Hoffnung aufgegeben. Bevor um drei Uhr ihre Fähre kommen würde, fuhren sie eine nicht eingezäunte Straße hinab und parkten ihr Auto an einer vielversprechenden Stelle. Obwohl es in North Uist meilenweit kristallklares Meer und weiße Strände voller Muscheln gibt, zog es die beiden Vogelbegeisterten ins Innere der Insel, wo die Landschaft flach, sumpfig und karg war. Aber für Eulenliebhaber und Naturforscher, die den verborgenen Reichtum und die subtile Schönheit dieses Ortes zu schätzen wussten, hatte diese Gegend mehr als genug zu bieten: »Überall herrschte Aktivität!«, erzählte Paul begeistert. »Es ist wirklich erstaunlich, was für einen Unterschied ein leichter Wetterumschwung macht.« Es ist nicht einfach, ein Fünfhundert-Millimeter-Objektiv aus einem Autofenster zu halten, um Fotos von Vögeln im Flug zu machen, aber Paul gelang es, einige Nahaufnahmen zu ergattern, da die Sumpfohreule, die ihm vor die Linse flog, nach drei Tagen Regen so auf die Jagd konzentriert war, dass sie sowohl das Auto als auch das Objektiv komplett ignorierte. Als die Eule gefressen hatte, kehrte sie in die Nähe von Pauls Auto zurück und setzte sich dort auf einen Zaunpfahl. Die Bilder, die mein Freund von ihr schoss, waren atemberaubend. Auf einem von ihnen sitzt die Eule auf ihrem Pfosten und schaut direkt in die Kameralinse; ihre winzigen Ohrbüschel sind nach oben gereckt, die schwarze Maske um ihre Augen betont die Wildheit, die in ihrem feurigen Blick liegt.

An diesem Tag bekam Paul auf North Uist nicht nur eine, sondern gleich sieben Sumpfohreulen zu Gesicht, was beweist, wie reichhaltig Inseln dieser Art sein können und wie wichtig es ist, sie für die Tierwelt als Lebensraum zu erhalten.

Der Juni brach an, Jennys Prüfungen waren vorbei, und gemeinsam entschieden wir, dass es Zeit für eine Reise war. Ich versuchte, ihr North Uist schmackhaft zu machen, aber meine Teenagertochter hatte andere Pläne: Sie wollte ein wenig weiter südlich bleiben und eine Woche lang die Isle of Mull erkunden. Übernachten würden wir auf Iona – einer Insel, von der wir beschlossen hatten, dass jeder Mensch sie mindestens einmal in seinem Leben bereisen musste. Wir packten unsere Taschen so leicht wie möglich, einschließlich Regenklamotten und Badekleidung, und stiegen in der schwülen Stadtluft der Euston Station in den Nachtzug gen Norden.

Als wir sicher in den Betten in unserem Abteil lagen, schlug ich mein Buch über schottische Mythen und Legenden auf. Ein Teil davon drehte sich um Eulen. Das Wort cailleach bedeutet auf Gälisch »alte Frau« oder »Hexe«, aber cailleach oidhche steht für »Eule«. In der keltischen Kultur wurden die Greifvögel oft mit alten Weibern in Verbindung gebracht – wörtlich bedeutet cailleach »die Verhüllte«. Dabei handelte es sich um eine magische alte Frau, die sich die elementaren Kräfte der Natur zu eigen machen und auf diese Weise Stürme beschwören kann. Die mystische Eulenfrau verkörperte sowohl Weisheit als auch das Böse: eine starke Kombination. Shakespeare griff diese Volksmythologie in seinem schottischen Stück Macbeth auf. Darin wird der »Eulenflügel« in das Gebräu gemischt, das die Hexen in der stürmischen Nacht zu Beginn des Werkes zubereiten, um damit Unheil und Zerstörung über die Menschen zu bringen.

Trotz der schaurigen Lektüre schliefen Jenny und ich tief und fest, sanft schaukelnd im Rhythmus des Zuges. Um sechs Uhr morgens wachten wir im verregneten Glasgower Morgengrauen auf. Je weiter wir nach Nordwesten vordrangen, desto nebliger wurde es; auf dem Weg nach Oban schafften die Berge es kein einziges Mal, sich aus dem düsteren Nebelschwaden herauszukämpfen. Jenny und ich drückten unsere Nasen ans Zugfenster, um vielleicht trotzdem einen Berggipfel zu erhaschen, aber schon bald nahmen die verlockenden Inseln all unsere Aufmerksamkeit gefangen. Auf der kurzen, aber spektakulären Überfahrt mit der Fähre erinnerte sich der Sommer an seine guten Qualitäten, und endlich brach die Wärme durch. Spätestens jetzt entglitt uns jeder Gedanke an die schaurige Eulenhexe. Als wir auf der Isle of Mull ankamen und uns in den Bus nach Fionnphort setzten, brannte die Sonne auf uns herab. Nach weiteren anderthalb Stunden Fahrt durch die feuchten Berge mit ihren vielen verschiedenen Braun- und Grüntönen – von Heide- über Farnkraut bis hin zu üppigen Kiefern – blitzte endlich unser Ziel vor uns auf: die winzige Insel Iona.

Am nächsten Morgen erwachten wir im St Columba Hotel von einem seltsamen Geräusch, das einfach nicht aufhören wollte. Weit entfernt vom Rhythmus winziger Wellen, die an den weißen Sandstrand plätscherten, und vom Gesang von Drosseln in den Hecken waren diese bizarr anmutenden Klänge so ganz und gar nicht der Soundtrack, den wir erwartet hatten. Zuerst dachten Jenny und ich, dass jemand mit einem Ratschenschrauber einen Zaun reparierte. Wir verschlangen unser Frühstück und hielten angestrengt Ausschau nach der Quelle des komischen, leicht nervigen Geräusches. Nachdem ich für jede von uns einen Muffin eingesteckt hatte (fluffige hausgemachte Teigkugeln mit Preiselbeeren und weißer Schokolade, von denen ich bezweifelte, dass sie bis zum Mittagessen überleben würden), huschten wir hinaus, um der Straße zu folgen, die am Kloster vorbei in den Norden der Insel führte. Der Ratschenschrauber tönte währenddessen weiter in unseren Ohren. Wir suchten das schwankende Gras am Straßenrand nach einer Person mit einer Werkzeugkiste ab, aber da war niemand, nur eine sanfte Brise, die über das Mädesüß, den Kleinen Klappertopf und die Wilde Möhre wehte. Da war es schon wieder, durchdringender als je zuvor: »Krk-krk-krk-krk-krk.« Dann fiel es mir ein: Wachtelkönige! Jenny schaute mich schief an. Unsere Verwirrtheit wich der Freude, als wir versuchten, diese scheuen, aber lauten kleinen Vögel im Gras zu entdecken. Doch egal wie leise wir uns auch anschlichen: Die Wachtelkönige blieben unsichtbar. Wir konnten sie zwar hören, und zwar praktisch direkt zu unseren Füßen, aber die Tiere schienen auf übernatürliche Weise in der Lage zu sein, mit dem Gras zu verschmelzen.

Die Hebrideninseln beherbergen eine seltene Population dieser faszinierenden, schwer fassbaren Rallenvögel, die dafür bekannt sind, dass sie dem menschlichen Auge normalerweise verborgen bleiben. Vor zwanzig Jahren hatte es auf dieser Insel kein einziges Exemplar dieser Tiere mehr gegeben, aber mittlerweile wurde die Population dank der sorgfältigen Bemühungen einiger lokaler Landwirte wieder aufgebaut. Etwa fünfzig Männchen flogen jedes Jahr im April aus Mosambik den ganzen Weg hierher, bis zur südwestlichen Spitze der Isle of Mull und noch ein kleines Stück weiter, bis zu diesem niedrig gelegenen, dem Atlantik zugewandten Fleckchen Erde – einer Insel vor einer Insel vor einer noch größeren Insel. Die ganze Woche lang beschallte der seltsame Ruf der Wachtelkönige Tag und Nacht unsere Ohren. Und Tag für Tag suchten wir unermüdlich nach dem Vogel, ohne ihn je zu Gesicht zu bekommen. In einer Vollmondnacht erschütterte ein heftiges Gewitter die Insel, und von dem Moment an, als der erste Blitz über die Meerenge zuckte, schlugen die Wachtelkönige Alarm und produzierten dabei mehr Lärm als der krachende Donner selbst. Niemand bekam ein Auge zu.

Die Ralle trägt in den verschiedenen Gebieten Großbritanniens unterschiedliche Namen. Ihr Ruf war einst von den feuchten Wiesen und dem saftigen Grasland der Britischen Inseln nicht wegzudenken. Die vielen verschiedenen Namen zeugen davon, aus wie vielen Lebensräumen der Vogel, der in den 1880er-Jahren sogar in Londons Tooting und Streatham Common zu hören war, mittlerweile verschwunden ist. Halb so groß wie ein Rebhuhn und deutlich schlanker, war dieser unauffällige Vogel in Cheshire als Graswachtel, in Aberdeen als Kornralle und in Yorkshire als Heuwachtel bekannt. Die Weibchen sitzen so verstohlen auf ihren Eiern, dass sie beinahe unsichtbar sind, und im letzten Jahrhundert passierte es oft, dass Bauern mit ihrer Sense beim Abernten des Feldes versehentlich einen der Vögel brutal aus seinem Nest beförderten.

Heutzutage, wo Felder nur noch mechanisch gemäht werden, sind die krächzenden Territorialrufe der Ralle in ganz Großbritannien verstummt. Hier auf den Inseln, wo die Felder zu klein für große Maschinen waren und erst spät im Jahr abgeerntet wurden, hatte der Wachtelkönig durchgehalten und sich wieder angesiedelt. Der Vogel hatte an diesem felsigen, abgelegenen Ort, wo Straßen und Gebäude nur spärlich vorhanden waren, einen sicheren Lebensraum gefunden, wo er in Ruhe nisten konnte, da die Heuernte erst nach der Brutsaison stattfand.

Während die Winde der Hebriden an den blaugrünen Irisblättern rüttelten, waren wir auf der Pirsch und warteten. Immer wieder ertönte der hartnäckige, monotone Ruf der Wachtelkönige, so als würde ein Kobold mit seinen Fingernägeln über einen scharfen Kamm fahren. Wir hielten die Augen offen – aber vergeblich. Der mysteriöse Vogel war bis September in dieser ungestörten Graslandschaft zu Hause, dann kehrte er allmählich in sein Winterquartier im Süden Afrikas zurück, und das Krächzen auf Iona verstummte.

Wir wagten uns hinunter über die tief liegende machair – das ist Gälisch für eine fruchtbare, grasbewachsene Ebene –, eine exponierte, windgepeitschte Dünenlandschaft, die eine sandige Grenze zwischen Land und Meer bildete. Diese weiten Flächen wurden vom Wind geformt und sind auf das Dünengras angewiesen, das den Grund befestigt. Diesen in Europa extrem selten vorkommenden Küstenlebensraum findet man besonders an den Rändern der Äußeren Hebriden, wo der feine schneeweiße Sand regelmäßig von Atlantikstürmen ins Landesinnere geblasen wird.

Der kalkreiche Boden mit seiner feinen Schicht aus weißem Muschelsand und der niedrig wachsenden, kräuterreichen Grasdecke ist das Ergebnis einer traditionellen Beackerung: Jahrhundertelang haben Kleinbauern hier den Boden bewirtschaftet und ihre Schafe weiden lassen. Die ständige Erosion durch die schleifenden Winde und erbarmungslosen Regenfälle aus allen Himmelsrichtungen bedeutet, dass das Land den größten Teil des Jahres unter Beschuss steht. Aber jetzt war Juni, es war warm, und der zart angeknabberte Grasteppich (der sowohl von Kaninchen als auch von Schafen getrimmt wurde) lud zum Barfußlaufen ein. Wir schlenderten ohne Schuhe über die Dünen und bestaunten die rund um uns verstreuten Farbtupfer von Gänseblümchen, Rotklee, Hahnenfuß, Augentrost und Hasenglöckchen. Lerchen stiegen aus dem vom Wind gekräuselten Strandhafer auf, die klagenden Stimmen der Austernfischer erfüllten die Luft, und wir schafften es endlich abzuschalten.

Große gelbe Hummeln und seltene Trockenrasen-Dickleibspanner waren hier zu Hause, und im Winter suchten Goldregenpfeifer Schutz in den Dünen. Draußen auf dem Meer sahen wir Brandgänse und Eistaucher. Weiter entlang der Küste, in der wundervollen Bay at the Back of the Ocean, brüteten im Frühjahr Eiderenten und schickten ihre frechen »Uuuh-uuuh«-Rufe über die Dünen. Schließlich kletterten wir zum Strand hinunter, der so glatt und weiß war, dass es in den Augen wehtat. Wir setzten uns in den Schatten der Felsen und entdeckten vor uns einige deutlich erkennbare fünfzehige Otterabdrücke, die sich in der Flutlinie verloren.

Weiter draußen über dem Meer legten Basstölpel ihre langen Flügel an und stürzten sich in das Indigoblau des Wassers. Hinter ihnen ragten drei Gipfel aus dem Atlantik: die Paps of Jura, eine zerklüftete Insel am Horizont, die einsam aus dem Nebel ragte. George Orwell hatte sich einst selbst in diese windige, gebirgige Wildnis verbannt, wo es mehr Rehe als Menschen gibt, um dort den düstersten seiner düsteren Romane, 1984, zu vollenden.

Die Reise, die einen an diesen spektakulären Ort führt, der zerklüftet und rau, aber unglaublich schön ist, ist in der Regel ein Akt der Hingabe. Hier, auf dieser schneeweißen Insel, mit meiner Tochter neben mir, spürte ich, dass Jenny sich bald von mir abwenden würde. Sie würde ihren Freunden folgen, auf in eine andere Welt, hin zu anderen Dingen. In diesem Moment jedoch, wo wir unsere nackten Zehen in das kalte Salzwasser vor uns streckten, der Wind unsere Haare zerzauste und alle Unterschiede für einen Moment vergessen waren, fühlte sich mein Herz zum Überlaufen voll an.

»Auf den Shetlandinseln nennt man sie brown yogles«, erzählte uns Rory, der örtliche Vogelexperte und Freund eines Freundes, als er einige Tage später von seinem Jeep aus die Moorlandschaft absuchte. »Schwer auszumachen! Ich habe sie in dieser Gegend aber schon gesehen, wie sie aus Richtung des Meeres auf die Insel fliegen …«

Unsere Woche auf der Isle of Mull war fast zu Ende, jedoch hatte ich noch keine Sumpfohreule gesichtet. Ich war mir allerdings sicher, dass sich der Vogel hier irgendwo verstecken musste, also hatte ich ein paar Tweets geschrieben und ein paar Telefonate geführt. In Craignure hatten Jenny und ich uns dann mit Rory getroffen. Überrascht, dass wir nicht auf der Suche nach Seeadlern oder Ottern waren, versprach er uns, dass er die Sumpfohreule für uns ausfindig machen würde.

»Bingo! Gefunden«, sagte Rory triumphierend.

»Wo?«, fragte Jenny und schaute auf genau die Stelle, die Rory mit seinem Fernglas visierte, ein paar Meter von uns entfernt, auf einem Zaun an der Straße. Die Eule war so gut getarnt, dass sie wie ein Teil der Holzkonstruktion wirkte, auf der sie saß. Sie hatte es dem Wachtelkönig nachgemacht und sich in Unsichtbarkeit gehüllt. Jenny und ich hatten Mühe, sie zu erkennen.

»Sie jagen an den Straßenrändern im hohen Gras«, sagte Rory. »Ich habe hier schon sechs oder sieben auf einmal gesehen. Aber man muss wissen, wonach man suchen muss. Sie fliegen tief und sind nicht leicht zu erkennen.«

Leise baute er sein Teleskop auf und stellte die Höhe so ein, dass wir die Eule genau sehen konnten. So einfach konnte es also sein. Durch das vergrößernde Objektiv konnten wir jedes Detail im Gesicht der Eule erkennen. Sie starrte uns direkt an, die Ohrbüschel alarmiert aufgestellt. Die furchteinflößenden Augen blitzten aus der tiefschwarzen Maske heraus – die Eule wirkte so nah, dass ich eine Gänsehaut auf meinen Armen spürte und sich mir die Nackenhaare aufstellten. Ich hatte so viele Monate mit der Suche nach diesem Vogel verbracht, dessen Abwesenheit sein charakteristischstes Merkmal zu sein schien, und Rory hatte ihn innerhalb weniger Minuten für mich gefunden. Vielleicht war es leichter, die Sumpfohreule zu erspähen, wenn sie sich in ihrem Brutgebiet aufhielt?

»Sie nisten immer auf dem Boden«, erzählte uns Rory. »In einer kleinen Mulde. Man muss genau wissen, wonach man suchen muss. Manchmal ist es nur ein Nest, manchmal auch mehrere, da sie gemeinschaftlich nisten können, aber erkennen kann man es trotzdem kaum. Sie fügen sich so gut in ihre Umgebung ein. Wusstet ihr, dass das Weibchen, wenn es auf seinen Eiern sitzt, die Augen die ganze Zeit über beinahe komplett geschlossen hat, damit man ihr leuchtend gelbes Strahlen nicht sieht? Die würden im Moor sonst wie Scheinwerfer aufleuchten! Das gilt eigentlich für alle Eulen, die gelbe oder orangefarbene Augen haben – sie müssen extrem aufpassen, damit sie nicht auffallen, wenn sie auf ihren Eiern sitzen. Aber selbst wenn sie zu lange auf einem Zaun oder einem einfachen Flecken Gras sitzen, kommen die Möwen angeflogen und triezen sie, oder Krähen kommen und stehlen ihre Eier, wenn sie nicht vorsichtig sind.«

Jenny war einen Moment lang still, während sie das Fernrohr für sich einstellte, dann atmete sie hörbar aus. Die detailreiche Schärfe des gespenstischen Eulengesichts ließ uns beide erschaudern. Der helle Gesichtsschleier war weiß umrandet und fast herzförmig, die weißen Brauen liefen zwischen den Augen zusammen, genau wie bei der Schleiereule. Dieses Detail war mir bei meiner letzten Sichtung im Süden des Dartmoors nicht aufgefallen; damals hatte sich die Eule so schnell genähert und war dann abgedreht, dass ich keinen genauen Blick erhaschen konnte. Diesmal, mit dem Vergrößerungsobjektiv, konnte ich all diese charakteristischen Merkmale im Detail studieren. Während die Eule auf jedes winzige Geräusch reagierte und ihr Gesicht drehte, bewunderten wir die dunklen Flecken auf ihrem Hals und der cremefarbenen Brust. Ihre Flügel waren leicht angewinkelt, so als wäre sie bereit, jeden Moment abzuheben. Als sie sich dann schließlich in die Lüfte schwang, wurde die Sonne wie gleißendes Messing von den langen Primärfedern reflektiert. Durch die Luft hallte ein scharfes Geräusch; es klang so hell, als wären die Flügel der Eule aus Metall geschmiedet.

Meine Suche nach der Sumpfohreule hatte mich von Serbien ins heimatliche Dartmoor und dann bis auf diese abgelegene schottische Insel geführt. Mit dieser letzten Sichtung war meine Reise, das Unterfangen, allen Eulenarten in Großbritannien nachzuspüren, offiziell abgeschlossen.

Oder gab es da etwa noch mehr?