Katzengesichter 6

»Beeil dich, Sklavenmädchen! Ich hab Durst! Hol mir was zu trinken!«

»Sofort, Eure Exzellenz.« Tiffany verneigte sich vor dem elektrischen Rollstuhl, als Stuart ins Wohnzimmer rollte. »Was darf es denn sein? Nektar, Ambrosia oder Fanta?«

»Nö. Traubensaft.« Stuart grinste.

Tiffany lief in die Küche und öffnete den Schrank. In der Tür klebte ein handgeschriebener Zettel ihres Vaters: Tassen sind endliche Ressourcen. Sie schlug die Tür mit dem Kopf zu und schnappte sich zwei gebrauchte Gläser von der Spüle. Heute war besser als Weihnachten.

Alles war so schnell gegangen. Vor drei Wochen hatte der Postbote den ersten Schwung Panthacea ins Haus gebracht. Ihr Vater war zunächst misstrauisch gewesen und wollte nicht einmal zulassen, dass Tiffanys Mum eine von den dicken grünen Tabletten probierte.

Doch Stuarts Arzt, Dr.Bijlani, hatte die ganze Sache recht nüchtern gesehen. »Ich bin skeptisch, was Wundermittel anbelangt«, hatte er gesagt. Er hatte einiges über Panthacea gelesen und warnte sie, dass es möglicherweise nichts anderes sei als ein Cocktail aus A-, D- und B-Komplex-Vitaminen und zusätzlich ein paar Kräutern, »um die ganze Geschichte für Otto Normalverbraucher glaubwürdiger erscheinen zu lassen«.

Das war bei ihrer Mutter gar nicht gut angekommen und sie hatte ihm einen Artikel gezeigt, in dem sich ein ayurvedischer Arzt für das Medikament stark machte. »Wie Sie wissen, legen ayurvedische Ärzte mehr Wert auf Prävention als auf das Heilen«, hatte sie gesagt.

»Sehr clever, ohne Zweifel«, hatte Dr.Bijlani erwidert. »Wenn Sie also mit einem gebrochenen Bein zu einem solchen Arzt kommen, sagt er dann: ›Sie hätten eben nicht Ski fahren dürfen‹?«

Trotz seines Spotts war er sich aber sicher gewesen, dass die Tabletten Stuart nicht schaden konnten. »Und ich erlebe es immer wieder, dass Leute gesund werden, die nichts weiter konsumieren als eine gute Werbung und ein paar Zuckerperlen«, hatte er gesagt. »Der Kopf ist der größte Heilmeister überhaupt.«

Vielleicht hatte der Doktor ja Recht. Jedenfalls nahm Stuart die Tabletten (von denen er behauptete, sie schmeckten bitter) jetzt gerade mal zwei Wochen. Und schon konnte er viel länger spielen als vorher, er konnte längere Zeit reden, ohne aus der Puste zu kommen, und sogar allein in seinen Rollstuhl steigen. Er war fröhlicher und seine Lungenentzündung war abgeklungen. Hilfreich war wahrscheinlich auch, dass die Eltern nicht mehr an seinem Bett saßen und sich stritten– sie strahlten übers ganze Gesicht und ihr Strahlen war endlich echt.

Immer wieder drehte Tiffany die unscheinbaren Flaschen hin und her und las mit wachsender Verwunderung, was auf dem Etikett stand. Panthacea. Gibt Kraft. Gesundheit. Leben. Dr.Bijlani konnte so sarkastisch daherreden, wie er wollte. Tatsache war: Stuart konnte endlich entlassen werden.

Tiffany stellte den Saft ab und packte die Hand, die ihr ins Gesicht wedelte.

»Armdrücken!«, rief er.

»Boah, he, aufhören, gegen diese Kräfte komm ich nicht an!«, keuchte Tiffany und tat, als breche sie unter dem bisschen Druck, den ihr Bruder ausübte, zusammen. Er wusste natürlich, dass es nur gespielt war, stieß aber dennoch ein Siegesgeheul aus.

»Ich bin der Größte!«

»Dafür musst du mir jetzt den Rücken klopfen«, sagte Tiffany.

»Endlich. Die Rache ist mein!« Stuart ballte die Faust. »Hier hast du’s. Und hier! Und…«

»Tiffany, das reicht.« Ihre Mutter machte beschwichtigende Gesten. »Nicht übertreiben, Liebes, das ist zu viel für ihn. Musst du nicht noch dein Zimmer aufräumen?«

»Wir spielen doch nur. Er findet’s super, das siehst du doch!«

»Für solche Spiele habt ihr bald noch genug Zeit«, sagte ihre Mutter. »Dein Zimmer, bitte.«

Tiffany schnaufte ihren Ärger hinaus und stapfte nach oben.

Cecile linste hinter dem Gipsbrocken hervor, den sie in den Händen hielt. »Wie seh ich aus?«

»Irre!« Tiffany wünschte, sie hätte einen Spiegel, damit sie ihr eigenes Gesicht sehen könnte. Die rot-weiß marmorierte Schminke auf Ceciles ebenholzfarbener Haut hatte sie in ein völlig anderes Wesen verwandelt. »Du siehst aus wie eine Schildpatt!«

»Eine was

»So nennt man eine bestimmte Fellzeichnung von Katzen«, erklärte Tiffany hastig.

»Und du hast dieselben Tupfen wie Jim«, stellte Cecile fest. »Man kann sogar deutlich das M auf deiner Stirn erkennen.«

Vom ersten Augenblick an hatte Tiffany gespürt, dass diese Pashki-Stunde etwas Besonderes werden würde. Sie hatte lange gerätselt, was es wohl mit den Tonmasken auf sich hatte, die sie von ihren Gesichtern gemacht hatten. Hier war des Rätsels Lösung: MrsPowell hatte von jeder Maske einen Gipsabdruck gemacht und von den Abdrücken wieder eine Gipsmaske. Da hinein hatte sie in eigentümlicher Anordnung Filzstücke geklebt. Sie zeigte ihnen, wie sie die Filzstücke befeuchten und einfärben sollten. Dann brauchten sie sich die Masken nur noch aufs Gesicht zu drücken, und wenn sie sie wieder abnahmen, hatten sie auf Stirn und Wangenknochen auffällige Muster.

»Auf Wiedersehen, Menschengesicht! Hallo, Katze!«, sagte MrsPowell. »Von jetzt an tragt ihr zu Beginn jeder Stunde eure Gesichtsbemalung auf.«

MrsPowells Katzenbemalung war so unaufdringlich, dass Tiffany sie zuerst gar nicht wahrgenommen hatte: feine graue Linien, die den Falten auf ihrer Stirn folgten und unter dem Haaransatz ein M bildeten. Ein allgemeines Gemurmel war zu hören, als die Kursteilnehmer gegenseitig ihre Zeichnungen bewunderten. Bei Susie liefen geschwungene Linien über Schläfen und Wangenknochen, die ihre neugierigen Mandelaugen betonten. Helle und dunkle Ringe gaben Yusuf den Blick eines Jägers. Tiffany fand, er sah aus wie eine Abessinierkatze. Die helle Farbe auf Daniels Haut erweckte den Eindruck, als trüge er eine graue Maske, in die sich seine Brille überraschend gut einfügte. Und das Muster aus feurigen Wellenlinien auf Bens Gesicht wirkte fast tigerähnlich. Er saß abseits und schien zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um den anderen Beachtung zu schenken.

»Hey, cool!« Cecile lächelte. »Hast du daheim wirklich eine Katze, Tiff?«

Aus ihrem Mund klang das, als seien Katzen mindestens so exotisch wie Flamingos im Vorgarten.

»Er ist nur eine normale Hauskatze. Aber eine wunderschöne«, fügte Tiffany schuldbewusst hinzu.

»Ich hab nie ein Haustier gehabt«, sagte Cecile. »Außer einem Meerschweinchen, als ich acht war. Aber das hat sich kaum bewegt und dann ist es gestorben.«

»Dann wünsch dir doch ’ne Katze!«

»Klar doch. In unserer Wohnung ist nicht mal genug Platz für die Menschen. Ich und meine kleine Schwester haben ein Zimmer zusammen und meine Eltern und mein kleiner Bruder schlafen im anderen. Und überall sonst stehen Fahrräder und Wäsche. Wenn ich in dem Irrenhaus eine Katze wäre, würde ich schneller verschwinden als…« Cecile brach ab. »Kannst du dir vorstellen, dass ich noch nie ein Schaf gesehen habe?«

»Bitte?«

»Ich habe noch nie ein Schaf gesehen. Oder eine Kuh. Außer im Londoner Zoo. Oder im Fernsehen, aber noch nie in echt auf dem Feld oder so. Das ist halt so, wenn man in Hackney aufwächst. Deshalb bin ich hierhergekommen. Ich hab gedacht, es hätte irgendwas mit einem Naturlehrpfad zu tun. Katzenkosmos, du weißt schon. Aber das jetzt ist noch viel besser! Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal sein könnte wie ein Tier!«

MrsPowell begann mit dem Unterricht. Im Lauf der Wochen waren ihre Pashki-Übungen immer tanzähnlicher geworden: Sprünge in eleganten Bögen, urplötzlich stehen bleiben und sich auf dem großen Zeh drehen, sich in einer einzigen, fließenden Bewegung zu Boden sinken lassen und hochschnellen, als sei man plötzlich aus Gummi. Für Tiffany war diese Art sich zu bewegen die höchste Wonne, und wie es schien, beherrschte auch Ben viele Schritte inzwischen perfekt. Alle hatten Fortschritte gemacht, selbst Olly, auch wenn er im Spaß behauptete, er käme nur noch her, weil MrsPowell jeden jagen und erlegen würde, der versuchte aufzuhören.

»Denkt immer an eure Katras«, sagte MrsPowell, während sie um sie herumschlich wie ein Luchs auf der Pirsch. »Mit euren Übungen bereitet ihr euch körperlich darauf vor und sie helfen euch, euren Mau-Körper zu wecken. Doch weiterentwickeln kann sich euer Mau-Körper nur, wenn ihr eure Katras heraufbeschwört. In den meisten von euch ist er immer noch nicht mehr als ein Funke. Jetzt müssen wir diesen Funken anfachen. Yusuf, nenne mir noch einmal die Katras.«

»Äh…« Yusuf schaute zu Tiffany hinüber.

»Ist das zu fassen!«, rief MrsPowell. »Himmel, es sind doch nur sechs! Mein alter Lehrer in Kaschmir…« Sie ließ den Satz unvollendet und schaute einen Augenblick lang aus dem Fenster, als hätte ein trauriger Gedanke sie von weit her eingeholt. Rasch war sie wieder bei sich. »Mein alter Lehrer hat uns Akhoteps Katra-Gesang auswendig lernen lassen. Auf Altägyptisch, in der Originalfassung. Ich weiß, dass ihr euch zu Tode langweilen würdet und eure Köpfe wahrscheinlich explodieren würden, deshalb habe ich eine sehr viel kürzere Version verfasst. Bis zum nächsten Mal habt ihr sie alle auswendig gelernt.«

Sie verfiel in einen verträumten Singsang:

»Ptep ist mein Kopf, der blaue Himmel, Gleichgewicht;
Mandira, grünes Auge, mein Zweites Gesicht;
Geheimes Kelotaukhon, kupfernes Maul;
Goldenes Parda, hell leuchtende Brust;
Purpurn darunter wirkt Oshtis bewusst;
Beweglicher Schwanz, Ailur, indigoblau.«

Die Kursteilnehmer wiederholten es, zunächst zögernd, dann noch zweimal. Bei der dritten Wiederholung glaubte Tiffany jedes Katra beim Sprechen sehen zu können, wie eine Neonlampe, die auf einem leeren Bildschirm in ihrer Stirn aufleuchtete und in den entsprechenden Körperteilen Wärme erzeugte.

Sie beendeten die Stunde, indem sie die Meditationshaltung Purr übten. Tiffany bezweifelte, dass sie das je hinbekommen würde. Es war kein Problem für sie zu kauern wie die Sphinx, aber das war nur ein Teil der Übung. Als schwieriger stellte sich das Schnurren heraus. Der Trick dabei war, dass man so tief wie möglich zu summen versuchte. Dann musste man irgendwie noch tiefer gehen, bis es nur noch ein Pochen im Hals war. Alle fanden es unmöglich, aber MrsPowell beharrte darauf, dass es zu schaffen war.

»Das Purr ist sehr wichtig«, sagte sie. »Katzen schnurren, wenn sie sich freuen, aber sie schnurren auch, wenn sie krank sind oder verletzt. Eine Katze schnurrt, kurz bevor sie vom Tierarzt eingeschläfert wird.«

An so etwas wollte Tiffany gar nicht denken.

»Wie die Meditationssilbe ›Om‹ beim Yoga«, erklärte MrsPowell, »hilft Purr zu entspannen. Es fungiert als Schmerzstiller und kann Angst vertreiben. Es kann Katzen sogar helfen, sich von Verletzungen zu erholen. Manche behaupten, das Purr sei das Geheimnis der berühmten sieben Leben einer Katze. Also los, konzentriert euch. Schnurrt mit mir.«

Sie ließ dieses nicht menschliche Grollen hören, das von überall und nirgendwo zu kommen schien. Die nächsten acht Minuten saß Tiffany da, versuchte es ihr nachzumachen und bekam einen wunden Hals. Auf dem Weg nach draußen nahm sie sich zum Trost zwei von den Brownies, die Olly für alle mitgebracht hatte. Er hatte vielleicht noch nicht die Eleganz eines Pumas, aber was Katzen gerne naschten, wusste er.

Als ihr Dad die Treppe heraufrief, ob sie zu Stuarts Physiotherapie mitkommen wollte, sagte Tiffany automatisch Nein. Schließlich war Samstag und sie genoss es, länger im Bett bleiben zu können. Einen Moment später fiel die Haustür ins Schloss. Ungläubig lauschte Tiffany in die Stille hinein.

Sie waren tatsächlich ohne sie gegangen. Keiner hatte ihr mangelnden Familiensinn vorgehalten. Sie war allein.

»Mrau.« Rufus kam ins Zimmer geschossen. Er stupste ihre bloßen Füße an, die unter der Decke hervorschauten, als wollte er sagen: Wenigstens du bist noch da.

»Ja. Die gute alte Tiffany.« Sie kraulte ihn hinter den Ohren. Was jetzt? Zuerst mal trank sie Ananassaft direkt aus dem Karton und stopfte Unmengen von Toast in sich hinein. Dann rief sie nacheinander ihre paar Schulfreundinnen an, aber nur Natascha war zu Hause und in ihrer Familie war die Pest ausgebrochen. Zumindest klang es dem Niesen nach so.

Nachdem sie sich eine Stunde lang hirnlose Sendungen im Fernsehen angeschaut hatte, hatte sie genug. Sie stapfte die Treppe hinauf und surfte ein bisschen im Internet. Neugierig durchforstete sie den Favoritenordner ihrer Mutter. Da sie nichts anderes zu tun hatte, las sie ein paar Artikel über Panthacea und seinen Erfinder, Dr.J. Philip Cobb:

Cobb selbst ist ein lebendiges Aushängeschild für seine Produkte. Obwohl er als Kind im Wildreservat einen Unfall hatte und seither behindert ist, hat Panthacea seinem verkümmerten Arm 70% der alten Beweglichkeit wiedergegeben.

»Schwere Sachen lasse ich jedoch immer noch von meinen Angestellten tragen«, scherzt er. Bei der Aussicht auf millionenschwere Verträge mit Arzneimittelherstellern, die kurz vor der Unterzeichnung stehen, und zahllosen Leidensgenossen, die darauf warten, von seinen Forschungsergebnissen zu profitieren, ist das eine Pille, die Philip Cobb ohne Mühe schlucken dürfte.

Ihr Herz machte einen Sprung. Wenn große Unternehmen Panthacea kaufen wollten, war ja vielleicht tatsächlich etwas dran. Ein paar verzweifelten Leuten konnte man leicht etwas vormachen, das wusste Tiffany, aber nicht eiskalt kalkulierenden Geschäftsleuten. Es sah so aus, als könnte Stuart gesund werden. Wirklich gesund. Vielleicht spielte er nächstes Jahr um diese Zeit schon auf dem Schulhof Fußball. Nein, nicht Fußball, er hasste Fußball– aber vielleicht rannte er mit seinen Freunden herum und spielte Superman. Vielleicht hatte er dann Freunde.

Neben dem Computer stand ein Panthacea-Glas. Tiffany schraubte den Deckel ab und betrachtete die Tabletten. Große Ovale in der Farbe von dunklem Moos, nichts Besonderes. Aus dem Glas kam ein seltsamer Geruch. Obwohl sie wusste, dass sie es nicht tun sollte, nahm sie eine Tablette heraus und berührte sie mit der Zunge. Sie schmeckte bitter, wie Stuart gesagt hatte. Ein bisschen wie Aspirin, aber sie war viel größer. Grüner. Aus einem Impuls heraus steckte sie die Tablette in den Mund.

»Was machst du da eigentlich?«, murmelte sie und schob die Tablette ungeschickt in eine Wange. Der bittere Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, als die Pille sich im Speichel zersetzte. Tiffany lief ins Bad und spuckte das Ding ins Klo. Der Klumpen schwamm auf dem Wasser im Kreis herum und löste sich langsam auf. Sie beobachtete ihn. Ihr war ein bisschen schlecht. Was hatte sie nur dazu getrieben?

Tiffany schraubte den Deckel wieder auf das Glas und stellte es an seinen Platz zurück. Doch als sie sich in einem Chatroom anmeldete, um die nächste Stunde rumzukriegen, wünschte sie, sie hätte die Tablette doch geschluckt.

Sie war schließlich selbst nicht gerade Miss Universum. Vor ihr lag die letzte Sportstunde des Schuljahrs und Miss Fuller hatte der Klasse »eine Überraschung« angekündigt, was nichts Gutes bedeuten konnte. Da brauchte sie alle Hilfe, die sie bekommen konnte.

»Ach, Rufus«, flüsterte sie, »wo ist meine Arznei?«

Die gelb-braune Katze auf ihrem Schoß schnurrte.

»Wenn das Miss Fullers Vorstellung von einer netten Überraschung ist«, flüsterte Avril, »tun mir ihre Kinder jetzt schon leid.«

»Wenn sie überhaupt jemals welche bekommt«, wisperte Tiffany zurück. »Dazu muss sie sich nämlich erst mal einen Mann angeln.«

»Und ihn im Keller einsperren«, kicherte Avril.

»In einen Käfig.«

Miss Fuller hatte das Pferd aufgestellt und ein Sprungbrett. Ihre Überraschung war ein Sprungwettbewerb. Wer am höchsten oder am weitesten sprang, ohne sich ernsthaft zu verletzen, durfte eine lebendige Tarantel mit nach Hause nehmen. Oder so ähnlich. Tiffany hatte nicht richtig hingehört.

»Das überleben wir nicht.« Avril beobachtete mit finsterer Miene, wie sich der erste Junge, Jason Wilks, über das Pferd katapultierte.

»Und das ist noch die niedrigste Einstellung«, murmelte Tiffany. »Pass auf, gleich stellt sie es höher. Was hab ich gesagt? Typisch.«

Avril wurde noch blasser. »Wie hoch ist es dann erst, wenn wir drankommen?«

»Sie hat natürlich gewusst, dass wir uns ganz hinten anstellen«, sagte Tiffany. »Fiese alte Zimtzicke.«

»Mir wird schlecht.«

»Das hätte dir früher einfallen sollen.«

Tiffany schloss die Augen und sagte sich, dass Miss Fuller in vierzig Minuten nur noch eine schlimme Erinnerung war. Aber die Peinlichkeit, der Klassentrampel zu sein, würde nicht so schnell vergehen. Woche für Woche hatte sie sich hier blamiert. Wie war es möglich, dass sie so gut war beim Pashki und eine solche Niete im Schulsport?

Sie hatte erfahren, dass Yusuf zu den besten Fußballern seines Jahrgangs gehörte, aber beim Pashki war sie ihm haushoch überlegen. In der letzten Stunde hatte sie alle zum Staunen gebracht, als sie den langen, gewundenen Parcours, den MrsPowell im Park von Clissold für sie vorbereitet hatte, im Eth-Gang absolvierte. Tiffany hatte Bens Zeit um eine Sekunde unterschritten und die aller anderen um eine halbe Ewigkeit.

Im Schulsport war sie jedoch ein anderer Mensch. Eine andere Gattung.

»Emma! Los!«, rief Miss Fuller. Tiffany hörte bloße Füße zum Sprungbrett rennen und sich abstoßen. Dann landete etwas mit einem satten Plopp! auf der Matte. Emma stöhnte, als hätte sie sich wehgetan. Das Gewicht der Schmetterlinge in ihrem Bauch ließ Tiffanys Knie fast einknicken. Sie hörte, wie Miss Fuller das Pferd noch höher stellte.

Dann sah sie auf dem schwarzen Hintergrund ihrer eigenen Augenlider Katzenaugen. MrsPowell hatte sie dazu angehalten, ihre Katras so lange zu üben, bis sie sie jederzeit abrufen konnten. Ein indigoblaues Auge schwebte in ihr Gesichtsfeld (es war Ailur, wie Tiffany wusste) und verschmolz mit einem goldenen, Parda. Warum sie diese beiden gerade jetzt sah und was sie in Kombination bedeuteten, wusste sie nicht. Doch dass sie da waren, empfand Tiffany als beruhigend. Sie fühlte sich gestärkt.

»Verzeihung? Tiffany? Schön, dass du gekommen bist, aber kannst du jetzt bitte aufwachen?«

Beim Klang von Miss Fullers Stimme schreckte Tiffany zusammen. Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass sie ganz vorne in der Reihe stand. Die ganze Klasse blickte sie an und grinste wie ein Rudel Wölfe. In ihrer Verwirrung hatte sie das Pferd aus den Augen verloren. Sie schaute nach rechts und links, drehte sich um und endlich sah sie es. Für Nervosität war keine Zeit mehr. Sie lief los und betete.

Es stellte sich heraus, dass der Sprung einfacher war als gedacht. Tiffany stieß sich ab und flog über die ausgefranste grüne Polsterung. Ein winziger Ruck durchfuhr sie, als sie auf dem Holzfußboden aufkam, und schon war es vorbei. Sie reckte sicherheitshalber noch die Arme über den Kopf, so wie die Turner im Fernsehen das taten, und ging dann erleichtert zurück ans Ende der Schlange. Sie hatte ihre Sache genauso gut gemacht wie die anderen.

Es dauerte einen Augenblick, bis sie merkte, wie still es in der Turnhalle geworden war.

»Tiffany…« Miss Fullers Stimme klang anders als sonst. Fast menschlich.

»Was war denn das?«, flüsterte einer der Jungs.

»Die ist ja von der falschen Seite gesprungen«, sagte ein anderer.

»Tiffany…« Miss Fuller schaute sie an wie ein Maulwurf, der Examensaufgaben lösen soll. »Warum hast du es so herum gemacht?«

»Bitte?« Tiffany hatte keine Ahnung, wovon sie alle redeten. Sie schaute an sich hinunter, ob irgendetwas nicht stimmte.

»Das Sprungbrett steht auf dieser Seite«, sagte Jason mit gerunzelter Stirn.

»Habt ihr das gesehen?«, rief Avril.

Tiffany stand verwirrt da, als plötzlich ein Tumult in der Turnhalle ausbrach. Sie drehte sich zu dem Gerät um, und da endlich begriff sie. Anscheinend war sie so durcheinander gewesen, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, von der falschen Seite Anlauf zu nehmen, ohne Hilfe des Sprungbretts, das sie in die Luft katapultiert hätte, zu springen und auf der anderen Seite ohne Dämpfung durch die Matte aufzukommen. Und dabei ragte das Pferd in seiner höchsten Einstellung auf, so hoch, wie sie groß war.

Es dauerte noch einen Moment, bis Miss Fuller stammelnd ihre Sprache wiederfand. »Kannst du es, äh, das nächste Mal bitte so machen, wie es sich gehört?«