Krallenspuren 7

»Du solltest besser da runterkommen«, flüsterte Tiffany bereits zum zweiten Mal. Sie kauerte in der Jägerhaltung und lugte durchs Gebüsch.

»Der Typ hat bestimmt nichts dagegen«, meinte Ben, »er ist tot.«

Er rutschte ein Stück über den Rücken des Marmorlöwen und linste zwischen den von Wind und Wetter zerfressenen Ohren hindurch. Die beiden Polizisten standen jetzt mitten auf dem Weg. Sie redeten mit einem Pärchen, das zwischen den Gräbern spazieren ging.

»Ich hab natürlich gemeint, dass die dich sonst vielleicht sehen«, sagte Tiffany.

»Sie hören uns vielleicht, wenn du nicht still bist.«

Tiffany zischte etwas durch die Zähne.

Ben ignorierte sie. Angestrengt versuchte er zu verstehen, was die Polizisten sagten. Wenn er sich auf Mandira, das grüne Katra, konzentrierte, wurden ihre Stimmen lauter. Der ältere der beiden, ein untersetzter Mann in einer zu engen Uniform, fragte das Pärchen, ob sie irgendwelche Leute auf dem Friedhof hätten herumlungern sehen. Hatten sie aber nicht.

»Falls Ihnen welche auffallen«, sagte sein Kollege, »ist es vielleicht besser, Sie gehen ihnen aus dem Weg. Wahrscheinlich sind es nur Kinder, aber man kann ja nie wissen.«

Tiffany glitt wie eine Schlange von ihrem versteckten Ausguck herunter. Sobald sie ihr schwarzes Pashki-Trikot und die Tupfenschminke trug, war es fast nicht möglich, sie dazu zu bringen, dass sie normal ging.

»Siehst du, ich hab dich gewarnt«, flüsterte sie. »Die Frau vorhin in ihrem Garten hat dich gesehen.«

»Sie hat uns beide gesehen.«

»Ich war vorsichtig.«

»Hiermit entschuldige ich mich untertänigst.«

Ben hätte lieber einen anderen Partner gehabt: Yusuf, Daniel oder seinetwegen Attila, den Hunnenkönig. Aber Yusuf hatte im Lauf der Wochen immer mehr Zeit mit Olly verbracht, da die beiden ja auch in dieselbe Schule gingen, und Daniel hatte sich überraschenderweise an die beiden drangehängt. Ben hatte sich schon gefragt, was mit ihm nicht stimmte. Dann war ihm aber während der langen Ferienwochen klar geworden, dass er beim Pashki ganz einfach zu gut wurde. Die Gruppe verbrachte mehr Zeit im Freien, sie probierten neue Bewegungsabläufe und Übungen in den Parks und Straßen aus und MrsPowell hatte bestimmt, dass Ben und Tiffany gemeinsam üben sollten. Sie waren allen anderen zu weit voraus. Das sah Ben ein. Blöd war nur, dass Tiffany ein ausgesprochenes Talent dafür besaß, ihm auf die Nerven zu gehen.

Die Polizisten kamen näher. Ben glitt von dem Löwen und landete im Gras hinter der Statue. Die von Efeu ummantelten Bäume tauchten den Boden in grünes Licht und die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die Zweige wie Regen durch ein undichtes Zelt. Baumstämme warfen ihre dunklen Schatten über Gräber, Gruften und versteinerte Engel. Ben schlich im Eth-Gang hinter Tiffany zu einer Stelle mit dichterem Gebüsch. So musste sich ein Dieb auf der Flucht vorkommen.

Aber sie hatten nichts gestohlen. Das heißt, sie hatten lediglich Raum gestohlen. Territorium, sagte MrsPowell, sei im Leben einer Katze von großer Bedeutung. Eine Katze legte sich einen Bestand an besonderen Plätzen an, wo jeder Windhauch und jeder Grashalm ihr gehörte (zumindest glaubte die Katze das). Dies war die fünfte Pashki-Grundlage: Territorium in Besitz nehmen. Und so schickte MrsPowell sie aus, damit sie unbemerkt über ein Gelände gingen, das ihnen nicht vertraut war, es kennenlernten und seine wesentlichen Merkmale in sich aufnahmen. »Und bitte versucht«, fügte sie immer hinzu, »dabei nicht verhaftet zu werden.«

Aber genau das wurde langsam immer wahrscheinlicher. Die beiden Beamten hatten sich an der Weggabelung getrennt und es sah so aus, als könnte der dünnere der beiden mit nur einer Armeslänge Abstand an ihrem Versteck vorbeikommen.

»Nicht bewegen«, flüsterte Tiffany.

»Was für ein Glück, dass ich dich habe und du mir sagen kannst, was ich tun muss«, murmelte Ben.

»Pssst!«

Das Funkgerät des Polizisten knisterte. Er ignorierte es. Doch Tiffany, die ohnehin nervös war, fuhr zusammen. Blätter raschelten und der Polizist drehte sich um.

»Ihr da! Stehen bleiben!«

»Abhauen?«, wisperte Ben.

»Ja.«

Sie machten sich aus dem Staub. In seiner Panik vergaß Ben alles, was er gelernt hatte. Ohne die Behändigkeit von Pashki stürmte er auf den nächstgelegenen Weg zu. Er rannte wie durch flüssigen Teer oder einen schlechten Traum. Dabei hörte er, dass ihn der jüngere Beamte verfolgte und dabei in sein Funkgerät brabbelte.

Lag ein Fluch auf ihm oder was? Von einem Bullen geschnappt zu werden, fehlte ihm gerade noch.

In den letzten Tagen waren er und Tiffany durch anderer Leute Gärten geschlichen, über Mauern und Garagen geklettert, hatten ganze Straßenzüge durchlaufen, ohne auch nur einmal einen Fuß aufs Pflaster zu setzen, und kaum jemandem waren sie aufgefallen. Ben hatte festgestellt, dass es ihm dank Pashki möglich war, sich, wenn nicht unsichtbar, so doch höchst unauffällig zu bewegen. Er konnte vor den Augen der Leute vorbeispazieren, und sie ignorierten ihn einfach.

Nur ganz selten waren sie entdeckt worden. Einmal hatte ein Mann ihnen von seinem Badezimmerfenster aus nachgebrüllt und sie hatten sich hinter dem Schornstein verstecken müssen. Und vorhin hatte eine Frau geschrien, als sie durch ihren Garten gegangen waren. Sie waren auf eine Mauer geflüchtet und hatten sich auf der anderen Seite drei Meter tief auf das Friedhofsgelände hinunterfallen lassen. Dass sie all das taten, ohne nachzudenken, überraschte und erschreckte sie beide.

Als MrsPowell für die Sommerferien zusätzliche Pashki-Stunden angeboten hatte, hatte Bens Mutter eine ziemlich unfreundliche Bemerkung gemacht, dass er in letzter Zeit anscheinend kaum noch etwas anderes täte (obwohl es ihres Wissens nach lediglich ein ganz normaler Selbstverteidigungskurs war). Ganz Unrecht hatte seine Mutter nicht. Mit Flipperautomaten hatte er nichts mehr am Hut. Ben hatte nämlich festgestellt, dass er sich beim Pashki richtig gut entspannen konnte. Er konnte John Stanfords Drohungen vergessen, die immer schlechter werdende Laune seiner Mutter, die katastrophalen Versuche seines Dads, ihnen zu helfen.

Am besten gefiel ihm die Übung der Zehn Haken. Sie bildeten einen der neun Grundpfeiler von Pashki. Es war eine Art Sparring-Training ohne Körperkontakt und basierte auf der Art und Weise, wie Katzen kämpfen. Wenn Ben die Schläge, Sprünge und Tritte ausführte, in der Regel mit Tiffany als Partnerin, konnte er seine ganzen Sorgen mal fünf Minuten lang hinter sich lassen und auch seine Angst, was wohl aus seiner Familie wurde.

Die Schuldgefühle stellten sich ein, sobald er an seine Mutter dachte. Die machte Überstunden im Bioladen oder saß allein zu Hause in der Wohnung, die inzwischen fast einem Gefängnis glich. Sein schlechtes Gewissen machte ihm zu schaffen. Er sollte daheim sein und sie trösten und nicht seine Zeit mit Tricks vertrödeln, die eine halb verrückte alte Frau ihm beibrachte.

Denn MrsPowell wurde immer merkwürdiger. Seit drei Stunden sprach sie nun schon von den sogenannten »Mau-Krallen«. Sie behauptete, dass der trainierte Mau-Körper nicht nur eine Art von Schnurrhaaren hervorbringen, sondern auch eine Verlängerung der Fingerspitzen und Zehen bewirken könne, sodass man für ein oder zwei Sekunden tatsächlich Krallen zu haben schien. Das sei, wie sie zugab, extrem schwierig. Es bedürfe der Energie sämtlicher Katras nacheinander, blau, grün, gold, kupfer, rot und indigo, um den Mau-Körper an den Punkt zu bringen, an dem er fast physisch greifbar wurde. Für Ben klang das wie Löffelverbiegen mithilfe der Telekinese.

Als er jetzt über den Friedhof rannte, zupfte ihn jemand am Ärmel.

»Da entlang.« Tiffany schoss eine Gasse zwischen Grabsteinen hinunter. Ben bemühte sich Schritt zu halten und die kätzische Anmut wiederzufinden, die er verloren hatte.

»Ich hätte nie gedacht, dass die dumme Kuh die Polizei ruft«, keuchte er. »Der muss es doch todlangweilig sein.«

»Aaah!« Tiffany blieb so abrupt stehen, dass Ben in sie hineinlief. »Da vorn!«

Der dicke Polizist war von seinem Kollegen alarmiert worden und kam aus der anderen Richtung angelaufen.

»Wir trennen uns!«

»Warte, ich hab ’ne Idee.« Tiffany bog in ein Feld mit dicht stehenden, hohen Grabsteinen ab.

»Da geht’s nicht weiter«, zischte Ben. »Das ist eine Sackgasse.«

»Du erinnerst dich echt nicht mehr! In der letzten Stunde hat sie uns Die Statue gezeigt.«

Ben schüttelte den Kopf. Er vertraute solchem Hokuspokus im Moment nicht.

»Wir müssen es versuchen!«, drängte Tiffany. »Du darfst dich nicht mehr rühren. Konzentriere dich auf dein Kelotaukhon-Katra. Es ist kupferfarben und sitzt im Hals.«

»Da sitzt schon was ganz anderes. Allerdings ist es rot und wummert wie verrückt.«

»Ach, halt die Klappe. Wir verteilen uns. Ich stell mich da drüben hin. Und jetzt werd zur Statue.«

Ben stellte sich neben eine Skulptur und versuchte, selbst eine zu werden. Er merkte, wie sein Herz langsamer schlug. Durch halb geschlossene Augenlider sah er den jungen Polizisten vorbeilaufen. Sekunden verstrichen. Die beiden Beamten kamen langsam zu dem Gräberfeld zurück. Sie wirkten verstört. Ben sah, dass der Dünnere ihn direkt anschaute, und hielt den Atem an.

Geheimes Kelotaukhon, kupfernes Maul

Der Blick glitt weiter.

»Eben waren sie noch hier«, murmelte der Mann.

Wieder streifte ihn ein Blick.

»Vielleicht sind es Vampire«, feixte der Ältere. »Hier soll es jede Menge davon geben. Hast du zufällig etwas Knoblauch dabei?«

»Sehr witzig«, raunzte sein Kollege. »Ich bilde mir das doch nicht ein, Trev. Sie können sonst nirgendwo hingegangen sein. Ich war ihnen direkt…« Er zeigte auf Ben. »He, da ist einer!«

Ben biss sich auf die Zunge. Jetzt saß er in der Falle. Rings herum ragten Grabsteine auf und hinter ihm war die hohe Friedhofsmauer. Der Beamte kam grinsend auf ihn zu. Verzweifelt schaute Ben nach oben. Zweige durchschnitten die Wolken. Neben der Mauer wuchs ein Kirschbaum.

Er sprang zum untersten Ast hinauf, doch der war zu dick, um sich richtig festhalten zu können. Seine Füße suchten Halt am Stamm, während seine Hände langsam taub wurden. In der Zeit, die er vor Flipperautomaten zugebracht hatte, hätte er besser gelernt, wie man auf Bäume klettert. Einer der Polizisten feixte. Sie waren fast bei ihm.

Dann fanden seine Finger einen Knoten oder etwas Ähnliches in dem Ast. Ein Ruck aus den Ellbogen und er war oben zwischen den Blättern. Er kletterte weiter hinauf, als sei der Teufel hinter ihm her, sah den Mauerkranz, sprang darauf und ließ sich auf der anderen Seite auf den Boden gleiten. Vermooste Backsteine drückten sich kalt an seine Wange. Die Stimmen der Polizisten drangen von der anderen Seite der Mauer zu ihm herüber.

»Komm da runter!«

»Er ist nicht im Baum, Trevor.«

»Was? Wo ist er denn hin?«

»Keine Ahnung. Ich geh ihm jedenfalls nicht nach. So bewegt sich kein normaler Mensch.«

Der ältere Mann stieß langsam die Luft aus. »Wer hätte gedacht, dass einem das in Hackney passiert? Da bekommt man einen Anruf und plötzlich jagt man einem Phantom hinterher.«

Die Polizisten schwiegen eine Weile.

»Trev?«

»Was gibt’s?«

»Ich hab ganz schön die Hosen voll.«

Wieder eine Pause.

»Ich auch. Lass uns verschwinden.«

Als die anhaltende Stille ihm sagte, dass sie weg waren, zog Ben sich wieder auf die Mauer hinauf.

Oben kauerte Tiffany. »Hey, Ben, das war super!«

Ben schaute hinunter und sein Magen schlug einen Purzelbaum. Kein Kind käme auf die Idee, auf einen so morschen Kirschbaum zu klettern. Und man musste schon sehr dumm sein, um von den dürren Ästen auf die Mauer hinüberzuspringen. Trotzdem schien er genau das getan zu haben.

»Schau mal«, sagte Tiffany leise und zeigte auf den dicken Ast des Kirschbaums. In der rauen Rinde waren helle Linien zu erkennen, wie Messerschnitte. »Glaubst du…«

»Gehen wir. Ich hab keine Lust zu warten, bis sie zurückkommen.«

»Siehst du das denn nicht? Du hast es geschafft! Du musst deine Mau-Krallen ausgefahren haben!«

»Red keinen Quatsch.« Ben drehte sich zu ihr um. Er war plötzlich wütend, ohne zu wissen, weshalb. »Das sind nur die Stellen, wo die Rinde abgegangen ist. Du glaubst wohl alles, was MrsPowell sagt, wie?«

»Und was machst du hier bitte auf einer drei Meter hohen Mauer?«

Ben merkte, dass er die Arme vor der Brust verschränkt und seine Finger unter den Achseln versteckt hatte. Nicht aus Angst, sie anschauen zu müssen, natürlich nicht.

»Das ist was anderes«, murmelte er. »Balancieren und springen kann man üben. Solche Sachen sind möglich.«

»Ach ja? Ich hab in letzter Zeit ein paar ziemlich unmögliche Sprünge gemacht. Und du auch. Wir könnten uns wahrscheinlich für die nächste Olympiade qualifizieren und…«

»Hör zu, Pashki ist nur eine ziemlich abgefahrene Kampfsportart. Es gibt Karatekämpfer, die Backsteine zerschlagen. Stimmt’s?«

»Ich habe gestern Abend im Bett gelesen, als das Licht aus war. Können die das auch?«

Ben zögerte. Er wollte nicht zugeben, dass er auch schon im Dunkeln gelesen hatte.

»Tiffany, Menschen sind nicht dazu gemacht, so etwas zu tun. Es ist… komisch.«

»Es ist fantastisch!« Tiffany legte sich auf die Mauer und schaute den Wolken zu, die über den Himmel zogen.

»Also gut. Aber was MrsMiez angeht…«

»Unsere Lehrerin heißt…«

»Was hat sie mit uns vor?«

Tiffany lachte.

»Jetzt hör mir doch ausnahmsweise mal zu«, ereiferte sich Ben. »Warum veranstaltet sie den Kurs? Geld ist bestimmt nicht der Grund. Was wir zahlen, reicht nicht einmal für die Miete für das Studio.«

»Na und? Sie will halt, dass wir etwas lernen. Und sie will nicht, dass Pashki in Vergessenheit gerät.«

»Aber weißt du nicht mehr, wie alles angefangen hat? Sie hat uns reingelegt. Wir haben uns im Sportzentrum getroffen, waren aber seither nicht ein einziges Mal mehr dort. Sie hat mit dem Sportzentrum überhaupt nichts zu tun. Jede Wette, dass dort noch nie jemand etwas von einer Felicity Powell gehört hat.«

Er glaubte, sie damit überzeugt zu haben. Tiffany schaute weiter den Wolken nach.

»Das hat nichts zu sagen«, meinte sie schließlich. »Versetze dich mal in eine Katze. MrsPowell könnte nie Lehrerin in einem überfüllten Sportzentrum sein. Katzen sind ihre eigenen Chefs. Sie brauchen Platz.«

»Sie ist keine Katze! Und sie hat uns angelogen.«

»Jetzt hab dich nicht so.« Tiffany machte eine Rolle rückwärts und stand auf. Dass es auf beiden Seiten ziemlich weit senkrecht hinunterging, schien ihr nichts auszumachen. »Jedenfalls gefällt dir Pashki doch. Du bist zehnmal besser als die anderen. Mich ausgenommen.«

»Natürlich.«

Tiffany senkte den Blick, als sei ihr das nur so herausgerutscht. »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie. »Warum bist du plötzlich so wütend?«

»Wer ist denn hier wütend? Ich bin nicht wütend.«

»Irgendetwas macht dir zu schaffen.« Tiffany schaute ihn wieder an. »Das sieht man auch ohne die scharfen Sinne einer Katze.«

Sie hatte Recht. Die Vorstellung, dass er unsichtbare Krallen hatte, war seltsam, aber warum bekam er deshalb so eine Wut? Vielleicht war es aber auch mehr Sorge als Wut. Vielleicht war das richtige Wort dafür Angst. Es hatte nicht nur etwas mit Pashki zu tun.

All das, worauf er vertraut hatte– seine Eltern, sein Zuhause– schien im Treibsand zu zerfließen. Und jetzt tat er selbst auch noch diese unerklärlichen Dinge. Er hatte das schreckliche Gefühl, völlig die Kontrolle zu verlieren, sich selbst zu verlieren wie eine Gestalt im Nebel.

»Möchtest du darüber reden?«, fragte Tiffany.

Ben war unschlüssig. Klar, er könnte ihr alles sagen. Es spielte kaum eine Rolle, wenn sie ihm danach aus dem Weg ging. Aber was sollte er sagen? Dass er und seine Mutter möglicherweise noch vor Ende des Monats aus ihrer Wohnung geworfen wurden? Dass ihm der kalte Schweiß ausbrach, sobald das Telefon klingelte? Oder dass er Albträume hatte, in denen Ratten aus der Toilette krabbelten und sich in John Stanford verwandelten, der die Teppiche, die Wände und den Boden zernagte, bevor er sich mit seinen gelben Zähnen grinsend zu Ben umdrehte?

Er stellte sich das Gefühl vor, wenn er ihr erzählte, wie es zu Hause war, seit seine Mum nicht mehr lächelte. Seit sie ihre Handarbeiten aufgegeben hatte und ihn nur noch anschnauzte. Dass sie zwei Wochen lang kaum mit ihm gesprochen hatte, zur Strafe, weil er seinem Dad Bescheid gesagt hatte.

Konnte er Tiffany erzählen, wie das Mittagessen mit seinem Dad am letzten Sonntag verlaufen war? Als er versucht hatte, die blauen Flecken und ausgeschlagenen Zähne zu ignorieren– das Werk von Tobys (!) Fäusten–, und sie deshalb den ganzen Tag kaum ein Wort miteinander gewechselt hatten?

Je länger er darüber nachdachte, desto unmöglicher erschien es ihm. Nichts von alldem konnte er ihr sagen. Es hing alles zusammen, war ein einziger großer Klumpen. Ihre Frage mit Ja zu beantworten hieße, sein Innerstes nach außen zu kehren.

»Ich bin natürlich keine ausgebildete Therapeutin.« Sie lächelte.

Dieses Grinsen. Plötzlich begriff er. Sie war hinter pikantem Klatsch her, den sie ihren Freundinnen erzählen konnte. Um sie zum Kichern zu bringen mit der Geschichte eines Jungen, der in Tränen ausgebrochen war. Aus diesem und keinem anderen Grund hatte sie ihn gefragt.

»Vergiss es«, schnaubte er. »Such dir einen anderen Krüppel, dem du helfen kannst.«

Sie zog scharf die Luft ein. Es war, als hätte er sie geschlagen.

Warum hatte er das gesagt? Ben konnte sie plötzlich nicht mehr anschauen und zupfte Moos von der Mauer, weil er nicht wusste, wohin mit seinen Händen. Als er eine Minute später aufschaute, war Tiffany verschwunden.