Der Gast, der nicht eingeladen war 9

Gleich beim ersten heftigen Wutausbruch von MrsPowell hatte sich der kluge Jim durch die Katzenklappe verkrümelt. Ben wünschte, es gäbe einen Pashki-Trick, der ihm das auch ermöglicht hätte. Gerade hörte MrsPowell auf zu schreien. Er wartete. Wie er vermutet hatte, holte sie nur tief Luft.

»Bildet euch ja nicht ein, dass es mir leidgetan hätte, wenn ihr euch das Genick gebrochen hättet«, schäumte sie. »Mir wäre das vollkommen egal, glaubt mir! Aber wenn ihr bei euren Spielchen zu Tode kommt, bin ich es, die dafür ins Gefängnis wandert! Und ich habe keine Lust, meine letzten Jahre in einer Zelle zu verbringen!«

Ben konnte Tiffany nicht anschauen. Er wusste, dass er Tränen auf ihren Wangen sehen würde.

»Tut mir leid«, murmelte er. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

»Eine schwache Antwort«, fand MrsPowell. »Du weißt ganz genau, was in dich gefahren ist. Und ich auch. Entscheidend ist jedoch, dass du die Gewalt darüber hast.«

Tiffany flüsterte ihrerseits ein paar klägliche Entschuldigungen. MrsPowell blickte noch eine Weile finster vor sich hin. Dann sagte sie:

»Zwei Katzen gab’s einst in Bad Bügen,

die fanden, ’s tät eine genügen.

Sie kämpften und kratzten und bissen und schassten,

bis, als der Morgen dann graute,

keine einzige mehr miaute.«

Sie lächelte schmallippig. »Ihr zwei kommt nicht miteinander klar, stimmt’s?«

Ben scharrte mit den Füßen.

»Ich weiß ganz genau, was in euch gefahren ist«, wiederholte MrsPowell. »Das macht es allerdings schwierig herauszufinden, wer Schuld hat.«

»Es war zum größten Teil meine Schuld«, sagte Ben. »Machen Sie Tiffany nicht dafür verantwortlich.«

»Zweifellos sehr nobel«, erwiderte MrsPowell. »Tatsache ist, dass ihr beide an einem Punkt angekommen seid, an dem ihr mir immer weniger folgen werdet. Die Mau gehorcht nur ihrer eigenen Stimme.« Sie lachte humorlos. »Ihr solltet Mitleid mit mir haben. Es ist nicht einfach, ein Lehrer zu sein, wenn das höchste Ziel der Ausbildung darin besteht, dass deine Schüler nicht mehr auf dich hören.«

Tiffany sah nicht so aus, als verstünde sie das auch nur einen Deut besser als Ben. Er fürchtete, gleich mitten im Studio in Ohnmacht zu fallen. Ihm tat alles weh, seine Haut juckte von den vielen Kratzern und er kam sich so feucht und stinkend vor wie ein Komposthaufen. Er wollte nur noch nach Hause, sich in die Badewanne legen und dann ins Bett fallen.

»Aber«, sagte MrsPowell, »ihr lebt. Und habt möglicherweise sogar etwas daraus gelernt. Vielleicht kann ich ja einen sorgenfreien Urlaub genießen.«

Sie verabschiedete sie an der Tür und schaute sie beide eindringlich an, als sie über die Schwelle gingen. »Tschüss«, sagt sie. »Wir sehen uns bald wieder.« Ihre Augen glitzerten im trüben Licht des Treppenhauses. »Bleibt sauber.«

Ben rechnete schon eine geraume Weile damit, eines Tages in seinen eigenen vier Wänden angegriffen zu werden. Aber er hatte nicht erwartet, dass Tiffany der Angreifer sein würde.

»Zum größten Teil deine Schuld?«, rief sie. »Sehr witzig. ›Oh, MrsPowell, machen Sie Tiffany nicht dafür verantwortlich!‹ Das wär ja auch noch schöner, verdammt noch mal! Was hab ich denn getan?«

»Na ja… Du bist mir nachgeklettert.«

»Dein Glück! Jemand musste ja auf dich aufpassen.« Tiffany wurde ein wenig rot. Ben war mehr als überrascht gewesen, als er ihre Stimme über die Sprechanlage gehört und sie ihn gefragt hatte, ob sie reinkommen dürfe. Sie sei gekommen, sagte sie, um zu sehen, ob er nach dem gestrigen Sturz wieder okay sei. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass er keine tödlichen Verletzungen davongetragen hatte, fiel sie über ihn her.

»Ich hab ihr gesagt, dass ich schuld war«, protestierte Ben. »Was willst du denn noch?«

»Aber aus der Art, wie du es gesagt hast, muss sie schließen, dass es meine Schuld war!«, sagte Tiffany. »Während du gut dastehst, weil du die Schuld auf dich nimmst.«

Er verstand gar nichts mehr. »Tu ich das?«

»›Tu ich das?‹«, äffte sie ihn nach. »Ja, Ben. Stell dich nicht so blöd. Jetzt ist MrsPowell sauer auf mich und du stehst als Held da, weil du etwas auf dich genommen hast, was du gar nicht getan hast, es aber doch getan hast, und– oh, Mann!« Sie schlug sich selbst an den Kopf.

Zu lächeln war jetzt bestimmt keine gute Idee. Sie blickte ihn finster an, aber das machte es nur noch schlimmer. Er kämpfte gegen einen Lachanfall und wich in den Flur zurück.

»Du musst zugeben, dass es ziemlich komisch ist.« Er stand mit dem Rücken zum Wäscheschrank und eine Sekunde lang fürchtete er, sein letztes Stündlein hätte geschlagen.

»Halt die Klappe.« Ein Grinsen hatte sich unbemerkt auf ihr Gesicht geschlichen. »Du hast wahrscheinlich mein Leben ruiniert.«

»Eins ist futsch, sechs hast du noch vor dir. Oder wie war das?« Ben schlüpfte an ihr vorbei in die Küche und öffnete den Kühlschrank.

Eine Freundin hatte seine Mum an diesem Abend in ein Restaurant geschleift, in der Hoffnung, sie auf andere Gedanken zu bringen. Für Ben bedeutete dies belegte Brote zum Abendessen. Er fand einen Teller voll, abgedeckt mit Klarsichtfolie.

»Und irgendwie«, sagte Ben (er konnte es sich einfach nicht verkneifen), »war es aber ja doch deine Schuld.«

»Was?«

»Hunger?« Er streckte ihr den Teller hin. Sie ignorierte ihn.

»Was soll das heißen?«, fragte sie mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme.

»Na ja«, meinte Ben, »manchmal erhebst du dich schon über den Rest von uns. Versuchst ständig zu beweisen, dass du die Beste bist. Was du ja wahrscheinlich auch bist.«

»So ein Quatsch!«, fauchte Tiffany. »Das mache ich überhaupt nicht. Ich hab nie gedacht, dass ich gut sein könnte bei Pashki. Du bist derjenige, der sich immer messen muss. Und der…«

»Ja?«

»Na ja… Der ein bisschen unhöflich ist, wenn du so fragst. Du behandelst mich wie Luft.«

»Du redest auch nicht gerade viel mit mir, oder?«

»Wenn du nicht immer so… ich weiß auch nicht, so mit dir selbst beschäftigt wärst.«

»Aber genau das hab ich immer von dir gedacht.«

Sie schauten sich einen Augenblick lang an. Langsam glitt ein Lächeln über Tiffanys Gesicht.

»Wir reden ja miteinander.«

»Hm.« Ben war plötzlich verlegen. »Und es tut nicht mal besonders weh.«

»Nein.« Sie lachte. »Dann sind wir jetzt Freunde?«

Ben spürte, dass er noch einen Tick roter wurde, und holte rasch zwei Teller aus dem Schrank.

»Magst du was abhaben?«

Sie gingen ins Wohnzimmer, wo ein Paar Boxershorts von ihm auf der Heizung trockneten. Er schnappte sie und stopfte sie unter ein Kissen, als er sich setzte. Einträchtig mampften sie die Sandwichs mit Thunfisch und Gurke.

»Komisch.« Tiffany redete mit vollem Mund. »Ich dachte, du wärst irgendwie sauer auf jemanden. Auf mich oder MrsPowell. Aber wahrscheinlich hab ich es mir nur eingebildet.«

»Nein, hast du nicht«, erwiderte Ben. »Ich bin tatsächlich sauer. Aber auf niemanden, den du kennst.« Er holte tief Luft. »Willst du das echt hören?«

Sie nickte. Er schaute auf die Wand neben ihrem Kopf und erzählte ihr alles. Vom ersten Auftauchen von John Stanford über die eingetretene Wohnungstür bis dahin, dass sein Dad von Toby zusammengeschlagen worden war. Während Tiffany zuhörte, spürte Ben, wie eine Zentnerlast von ihm abfiel. Bald redete er nicht mehr die Wand an, sondern schaute Tiffany ins Gesicht.

»Puh«, machte Tiffany, als er schließlich fertig war. »Könnt ihr nicht zur Polizei gehen?«

Er unterdrückte ein Stöhnen.

»Wir haben es versucht. Für die Polizei liegt kein Verbrechen vor. Stanford versteht es zu gut, seine Spuren zu verwischen.«

»Aber die Tür… und dein Dad…«

»Wir sind hier in Hackney«, erwiderte Ben bitter. »Die Tür hätte jeder Junkie eintreten können. Und mein Dad hat Streit gesucht und die Rechnung dafür bekommen. Dank meiner Hilfe. Ich hätte den Mund halten sollen.« Er knabberte an seinem Brot. »Tut mir leid. Ich bin halt ’ne echte Stimmungskanone, was?«

Tiffany schnippte eine Krume in seine Richtung. »Jetzt werd nicht wieder so. Es ist gut, wenn du darüber redest. Ich weiß, wie es ist, wenn… wenn einem keiner zuhört.«

»Ach ja?«

»Ja.«

Jetzt war sie an der Reihe. Sie erzählte ihm von ihrem Bruder. Von seiner schrecklichen, schleichenden Krankheit, von Krankenhauszimmern und einem leeren Haus, von Eltern, die oft kurz vor dem Zusammenbruch gestanden hatten. Bis sie fertig war, wurde es schon dunkel und die übrig gebliebenen Brote waren durchgeweicht. Ben kam gar nicht auf die Idee, das Licht einzuschalten. Sie sahen beide noch ausgezeichnet.

»Tut mir leid«, sagte Ben nach einer Weile.

»Schon okay. Du kannst ja nichts dafür.«

»Oh Mann… Ich war echt blöd. Ich hab gedacht, dein Leben wäre so perfekt, verglichen mit meinem.«

»Das denke ich oft, wenn ich mir die Leute so anschaue. Aber ein perfektes Leben gibt es nicht. Selbst wenn Stuart nicht krank wäre…« Sie wirkte traurig, dann strahlte sie. »Aber es geht ihm ja jetzt sowieso schon viel besser. Mit diesen neuen Medikamenten. Deshalb sieht es für dich wahrscheinlich schlimmer aus.«

»Aber wir machen jetzt keinen Wettbewerb daraus, oder?«, sagte Ben.

Sie mussten beide lachen.

Tiffany ist okay, stellte er fest. Vielleicht sogar mehr als okay.

»Wissen es deine Eltern?«, fragte sie unvermittelt. »Das mit dem Pashki, meine ich?«

Ben winkte ab. »Mum weiß, dass ich einen Kurs mache. Es war ihre Idee, dass ich Selbstverteidigung lerne. Für sie ist Pashki eine Art Karate. Mir soll’s recht sein. Und mein Dad… Ich rede wahrscheinlich nicht genug mit ihm. Da ist das Thema nie zur Sprache gekommen.«

Tiffany lächelte bitter. »Kommt mir alles sehr bekannt vor.«

»Du erzählst auch nichts davon?«

»Ach!« Sie verzog den Mund. »Das ist völlig egal. Ich könnte beim Frühstück Akhoteps Katras herbeten und es wäre egal. Eines Tages gehe ich mit zwei Schritten die Treppe hinauf und ich schwöre dir, sie werden nicht mit der Wimper zucken. Mum und Dad denken doch immer nur an…« Sie hielt inne.

»Stuart?«

Tiffany schaut auf ihre Füße. »Ich bin nicht irgendwie eifersüchtig auf ihn oder so. Ich– ich liebe ihn. Und er ist krank. Er braucht sie mehr als ich.«

Ben holte Luft. Er stellte fest, dass sein Kopf vollkommen leer war. Ihm wollte absolut nichts einfallen, was nicht blöd geklungen hätte.

»Natürlich würde ich ihnen nie erzählen, was Pashki wirklich ist«, fuhr Tiffany fort. Ihre Stimme klang heiser. »Aber manchmal denke ich, es wäre schön, wenn sie ab und zu ein bisschen neugierig wären. Oder?«

Ben beschloss die Teller einzusammeln.

»Soll ich… äh, soll ich den Fernseher einschalten?«

Tiffany schaute auf die Uhr. »Ich geh mal lieber. Selbst meine Eltern wundern sich vielleicht so langsam, wo ich bleibe.«

»Klar«, sagte Ben. Er war erleichtert und enttäuscht. »Ich ruf dich an, dann können wir noch weiter…«

»Ja, cool.« Tiffany runzelte die Stirn. »Was ist das?«

Auch Ben hörte jetzt die Schritte im Hausflur.

»Merkst du was?« Er seufzte. »Meine Mum mag abends nicht mal mehr lange wegbleiben.«

Er stand auf und wollte zur Tür. Tiffany stellte sich ihm in den Weg.

»Nicht.«

»Hm?«

»Das ist nicht deine Mum«, flüsterte sie.

Schlüssel klimperten, ganz leise.

»Natürlich ist sie es.« Irritiert merkte Ben, dass er auch flüsterte. »Sonst hat niemand einen Schlüssel zu der Wohnung.«

»Ich weiß nicht, woher ich es weiß. Ich weiß es einfach.«

Die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf und er spürte einen plötzlichen, stechenden Schmerz im Bauch. Er hatte keine Ahnung, wer auf der anderen Seite der Tür stand, aber Tiffany hatte Recht, seine Mum war es nicht. Ein Schlüssel knirschte im Schloss.

»Versteck dich!«

Ben öffnete den Wäscheschrank und kletterte aufs oberste Brett. Es war gerade genug Platz, dass er sich zusammenrollen konnte. Tiffany legte sich in eines der unteren Fächer. Ben zog die Schranktür in dem Moment zu, in dem die Wohnungstür aufging.

Durch einen Spalt sah Ben einen blonden Mann im Anzug. Einen Augenblick stand John Stanford da und lauschte, dann ging er ins Bad. Ben hörte, wie er die Wasserhähne aufdrehte, den Arzneischrank öffnete und wieder schloss, Shampooflaschen schüttelte. Die Klospülung betätigte.

Stanford. Er war da. Hier in ihrer Wohnung. Er hatte einen Schlüssel zu ihrer Wohnung!

Wenn Ben vorher schon das Gefühl gehabt hatte, als würde ihm das Blut in den Adern gefrieren, wurde er jetzt zum Eiszapfen. Das war nicht der Schlüssel, den man üblicherweise als Hauseigentümer besaß. Sie hatten das Schloss ausgetauscht, nachdem die Tür eingetreten worden war. Also musste Stanford heimlich hergekommen sein. Er hatte sich einen Nachschlüssel machen lassen. Wann? Wie oft, um alles in der Welt, war er schon hier drin gewesen, ohne dass sie etwas gemerkt hatten?

»Ist er das?«, wisperte Tiffany.

Ben brachte keinen Ton heraus. Sein Gehirn befand sich im freien Fall. Stanford kreuzte sein schmales Gesichtsfeld und ging in die Küche. Ben betete, dass die Schranktür nicht quietschte, und drückte sie einen Zentimeter weiter auf. Stanford zog Schubladen heraus und schmetterte sie wieder zu. Er öffnete den Kühlschrank, schraubte die Milchflasche auf und warf den Verschluss in den Abfalleimer. Er sah die Whiskyflasche auf dem Fensterbrett, nahm sich ein Glas vom Abtropfgestell, goss es fast voll und kippte den Inhalt hinunter, als sei es Orangensaft.

»Was macht der denn da?«, fragte Tiffany.

Ben traute sich nicht, Pst! zu machen, deshalb knuffte er sie von oben in die Schulter. Stanford genehmigte sich noch einen Whisky– die Flasche war jetzt leer–, dann durchsuchte er die Küchenschränke. Er holte eine Tüte Zucker heraus. Mit einem flauen Gefühl im Magen sah Ben, wie er sich einen Teelöffel voll in den Mund schob.

»Den schnapp ich mir!« Die Worte brachen aus ihm heraus. »Ich zerreiß ihn in der Luft!«

»Pst, Ben!«

»Sobald er zurückkommt, ist er dran!«

»Nein, Ben! Er ist doppelt so groß wie du.«

»Wir sind schneller, wir können zusammen angr…«

»Mau-Krallen hin oder her, er ist zu stark.« Tiffanys Stimme war kaum hörbar. »Ben, hör zu! Du weißt, dass Pashki nicht richtig funktioniert, wenn man Angst hat. Und ich habe Angst.«

Ben auch. Todesangst. Am liebsten hätte er sich unter den Wolldecken im Schrank vergraben. Und doch: John Stanford in seinem Haus, ohne dass ihm jemand Einhalt gebot… Das hielt er nicht aus. Er machte sich bereit. Stanford kam zurück in den Flur, wischte sich den Mund ab und schnippte Zuckerkrümel vom Revers seines eleganten Anzugs. Ben spannte alle Muskeln an. Er musste es tun. Jetzt.

Ein fürchterlicher Radau brach los und seine Knochen wurden zu Wackelpudding. Der Lärm einer bellenden Hundemeute, die sich auf ihre Beute stürzte. Ben drückte sich ganz hinten an die Schrankwand. Dann ein Pieps.

»Hallo?«

Das Bellen hatte aufgehört. Ben lugte aus dem Schrank. John Stanford hatte sein Handy am Ohr. Das Hundegekläffe war sein Klingelton.

»Was? Heute Abend noch?« Stanfords Gesicht legte sich in Falten. Er schaute aus dem Fenster. »Ja, ich bin in der Gegend, aber… Okay, wenn Sie darauf bestehen. Wir sehen uns dann in zwanzig Minuten.«

Er legte eine Hand auf die Jackentasche.

»Oder sagen wir in vierzig. Ich habe die Pläne zu Hause gelassen.«

Nicht zum ersten Mal fiel Ben auf, dass Stanford manche Wörter merkwürdig aussprach.

»Ja, ich weiß, Sie haben viel zu tun, das geht uns allen so. Ich beeile mich. Aber bei dem Verkehr heute Abend würde selbst Buddha Migräne kriegen.«

Stanford legte auf. An der Wand hing ein Aquarell, das Bens Mum gemalt hatte. Er rückte es mit dem Finger in Schräglage, bevor er hinausging und die Wohnungstür hinter sich zuzog. Man hörte noch, wie er durch den Hausflur ging.

Ben sprang aus dem Schrank. Tiffany rollte sich, in ein Bettlaken verheddert, heraus.

»Was war das denn?«

»Der Scheißkerl!« Ben ballte die Fäuste. »Ich bring ihn um!«

»Solltest du nicht…«

»Die Polizei anrufen? Vergiss es.« Er boxte gegen die Wand. Denk nach, denk nach! Warum war Stanford hergekommen? Gott sei Dank war seine Mum nicht daheim gewesen. Stanford hatte einen Schlüssel. Er konnte wiederkommen, immer wieder wiederkommen

Ben erstarrte. »Ich muss ihm nach!«

»Warum?«

»Er trifft jemanden. Er hat etwas von Plänen gesagt. Du hast es gehört.« Ohne nachzudenken, quasselte Ben drauflos. »Es hat was mit der Wohnung hier zu tun, das weiß ich. Und ich mache jede Wette, dass er Dreck am Stecken hat.«

»Und?«

»Tiffany, wenn ich beweisen kann, dass er was Illegales tut«, rief Ben, »kriegen diese lahmen Bullen vielleicht mal den Hintern hoch! Er darf nicht ungeschoren davonkommen!«

Er rannte durch den Flur und riss die Haustür in dem Moment auf, als Stanfords silberne Limousine losfuhr.

»Er ist weg«, sagte Tiffany. »Ohne Auto kannst du ihm nicht nach.«

»Denkst du!«

Ben sprintete zur Ecke. Entlang der Hauptstraße standen ein paar Bäume. Dadurch, dass ständig hohe Fahrzeuge vorbeikamen, gingen die Zweige gleichmäßig rechts und links von der Straße weg, gestylt wie Haartollen.

»Den kriegen wir nie«, keuchte Tiffany.

»Nein«, erwiderte Ben, »aber wir kriegen einen Bus.«

Erstaunlicherweise kam sogar einer. In ihrer Alltagskleidung kletterten sie ungelenk auf einen Ast, der über die Straße hing. Im nächsten Moment bog auch schon ein glänzender roter Bus der Linie 73 um die Kurve.

»Das ist eine ganz, ganz schlechte Idee, Ben.«

»Meine Familie hat ganz, ganz große Probleme«, erwiderte Ben.

»Es ist unmöglich, sich in Jeans richtig zu bewegen. Und ich hab keine Lust mir meine Schuhe zu ruinieren.«

»Vielleicht kann MrStanford ja kurz warten, dann kannst du nach Hause und dich umziehen. Ich frag ihn mal.«

»Vielleicht kann MrBen ja kurz aufhören, so sarkastisch…«

»Spring!«, unterbrach Ben sie.

Mit einem Rums landete er auf dem gewölbten Dach des Busses. Tiffany kam hinter ihm auf. Sie legten sich flach auf den Bauch, als sie unter einem anderen niedrig hängenden Ast durchfuhren. Der Bus rumpelte über eine Bodenwelle und Tiffany wäre fast heruntergerutscht.

»Ich verstehe nicht, warum wir keine Fahrkarte kaufen können wie andere Leute auch.«

»Ich hab kein Kleingeld.«

»Ich würde lieber ein Bußgeld fürs Schwarzfahren riskieren als mein Leben.«

Ben grinste. »Ach komm, das hast du doch schon immer mal machen wollen, gib’s zu!«

Die Fenster der ersten Stockwerke flackerten vorbei, als der Bus schneller wurde. Eine Frau, die in ihrer Küche an der Spüle stand, verschüttete ihre Tasse Tee über dem frisch gespülten Abwasch, als sie sich verblüfft umdrehte, um ihnen nachzuschauen. Die ersten Straßenlampen gingen an.

»Außerdem«, sagt Ben, »müssen wir ja auch flexibel bleiben.«

»Flexibel?«

Bens suchender Blick fand sein Ziel. Der silbergraue Wagen schob sich ein ganzes Stück weiter vorn über eine Kreuzung. Ihr Bus fuhr Seite an Seite neben einem anderen her auf eine Ampel zu. Die Ampel sprang auf Gelb um.

»Schnell!« Wie ein Hundertmeterläufer nach dem Startschuss lief Ben über das Dach. Er sprang aufs Dach des Nachbarbusses, der wegen der umspringenden Ampel beschleunigte. Der erste hatte angehalten und stand jetzt bei Rot.

»Oh!«, sagte Tiffany. »Flexibel.« Sie schaute ihn finster an und rollte sich von der Dachkante weg. Sie war gerade noch rechtzeitig gesprungen.

Ben musste höllisch aufpassen, damit er Stanfords Wagen nicht aus den Augen verlor. Er war ein gutes Stück weiter vorn, drängelte sich zwischen Lieferwagen und Taxis durch, eine graue Maus in einem Irrgarten. Der Verkehr wurde immer dichter. Wie Sirup. Immer mehr Busse reihten sich in ihre Spur ein, bis sie in einer langsam dahinkriechenden Schlange eingezwängt waren.

»Schneller!« Ben schlug mit der flachen Hand aufs Dach, als sei der Bus ein lahmes Pferd. Im nächsten Moment merkte er, wie bescheuert das war. Er gab Tiffany ein Zeichen, ihm zu folgen und sprang in vollem Lauf auf das nächste rote Dach in der Schlange, von dort wieder auf das nächste und so weiter. Er benutzte die Dächer wie Trittsteine in einem Bach. Bis sie den vordersten Bus erreicht hatten, war Stanford nicht mehr weit entfernt. Ohne zu blinken, bog er an einer Kreuzung rechts ab. Ihr neues Bustaxi fuhr an und Ben stieß einen Freudenschrei aus. Dann fiel ihm etwas ein.

»Welche Nummer hat unser Bus?«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte Tiffany.

»Wir brauchen einen, der in seine Richtung fährt!« Die Nummer spiegelte sich in einer Schaufensterscheibe, als sie sich der Kreuzung näherten. Es war die 38. Das hieß, der Bus würde geradeaus weiterfahren. Aus dem Augenwinkel sah er einen Bus blinken.

»Umsteigen in die 476!«, brüllte er. Der Nachbarbus schwenkte beim Abbiegen aus und sie warfen sich auf sein Dach. Ben kämpfte gegen einen heftigen Schwindel an.

»Das war das letzte Mal, dass ich mit dir was unternehme«, keuchte Tiffany.

Unter ihnen ertönten Rufe. Immer mehr Fußgänger entdeckten die beiden verrückten Jugendlichen, die sich auf dem Busdach festklammerten. Als sie eine Einbahnstraße hinunterfuhren, sah Ben den silbernen Wagen nach links abbiegen.

»Hier ist unsere Haltestelle.«

Sie sprangen auf das Dach der nächsten Bushaltestelle und hangelten sich auf den Boden, wobei sie die fassungslosen Blicke der wartenden Fahrgäste ignorierten. Auf beiden Seiten der Straße, in der sie sich nun befanden, standen Reihen ehrwürdiger viktorianischer Häuser. Ein Stück weiter unten entdeckten sie Stanfords Auto, schräg eingeparkt vor einem dreistöckigen Stadthaus.

»Und?«, fragte Tiffany atemlos. »Gehen wir rein?«

Ben schüttelte den Kopf. »Er hat gesagt, er trifft sich mit irgendjemand. Hier holt er nur etwas ab. Ich will wissen, wohin er geht.«

»Wir können nicht die ganze Nacht mit Bussen durch London surfen.«

»Nein.« Ben fummelte am Kofferraum des Wagens herum. Der Deckel sprang auf.

»Sag bitte, dass das ein Witz sein soll.«

»Du brauchst nicht mitzukommen, Tiffany. Das ist nicht dein Problem.«

»Oh doch, wenn du da reinsteigst, ist es das«, sagte sie. »Sei kein Idiot.«

Das Zittern in ihrer Stimme brachte ihn dazu, seinen Plan noch einmal zu überdenken. Dann wurde ein helles Fenster im Haus dunkel. Er musste sich entscheiden. Und stellte entsetzt fest, dass er in den Kofferraum kletterte.

»Ben, bitte!«

»Geh nach Hause und warte dort«, sagte er. Sein Herz hämmerte. »Wenn ich nicht innerhalb der nächsten zwei Stunden anrufe, alarmierst du die Polizei.«

Tiffany knirschte mit den Zähnen. »Du Blödmann. Also gut. Mach Platz.«

»Was?«

Tiffany kroch neben ihn. Es war kaum genug Platz für zwei und Ben bekam ihre Füße ins Gesicht. Er machte sich noch kleiner und rutschte ein wenig hin und her, bis er eine bequemere Position gefunden hatte.

»Wer ist hier der Idiot?«, murmelte er. »Kein Mensch weiß, wo wir sind.«

»Dann müssen wir eben allein auf uns aufpassen.«

Ben zog den Deckel des Kofferraums herunter, wobei er aufpasste, dass er ihn nicht ganz schloss. Unter ihm raschelte etwas in der Dunkelheit. Vielleicht eine Plastiktüte.

Er hörte Stanford aus dem Haus kommen und die Fahrertür öffnen. Dann murmelte er etwas. Seine Schritte kamen näher und Ben wusste mit schrecklicher Gewissheit, dass er zum Heck des Wagens ging. Eine schwere Hand schloss den Kofferraumdeckel mit einem festen und endgültigen Rums.

Der Motor startete und der Wagen fuhr los. Gedämpfte Musik schallte durch den Innenraum. Dann brausten Tiffany und Ben in unbekannte Richtung davon, eingeschlossen im Kofferraum von John Stanfords Wagen.