Der Zombie-Zoo 10

And now… the end is near… And so I face… the final curtain

Zwei gedämpfte Stimmen drangen in die Dunkelheit, eine weich wie gebürsteter Samt und begleitet von einem Orchester, die andere sang mit, allerdings fast einen halben Ton daneben. Der Wagen machte einen Schlenker, Reifen quietschten und die zweite Stimme hörte auf zu singen und verfluchte einen anderen Fahrer. Ben schlug mit dem Kopf an einen Radkasten.

»Es ist abgeschlossen.« Tiffany fummelte am Kofferraumschloss herum. »Ben, wir sitzen hier fest. Er hat uns eingeschlossen. Wir…«

»Hör auf, ja? Und nimm deinen Fuß da weg, das ist mein Gesicht. Autsch, nicht da hin!«

»’tschuldigung.«

»Keine Sorge«, sagte Ben und versuchte die eigene Angst nicht durchklingen zu lassen. »Früher oder später macht er den Kofferraum auf, dann springen wir raus und verschwinden.«

I did what I had to do… I saw it through… without exemptionDie Stimme schmetterte im Hintergrund.

»Warum?«, flüsterte Tiffany. »Warum soll er den Kofferraum öffnen? Hier drin ist doch nichts.«

Ben versuchte den Kopf in eine erträglichere Position zu bringen. »Das fühlt sich für mich aber ganz anders an.«

»Nein, jetzt mal im Ernst! Er weiß ja nicht, dass wir hier drin sind. Wir können stundenlang eingeschlossen sein. Tagelang. Wir haben kein Wasser, gar nichts. Wir können hier drin ersticken, Ben! Wir können…«

»Pssst!«

Das Radio spielte jetzt leiser. Eine einzelne Stimme sang vibrierend I did it myyyy wayyyy und verstummte. Der Wagen wurde langsamer und schwenkte nach links.

»Was ist los?«, fragte Ben unwillkürlich.

»Wir halten.«

»Was du nicht sagst.«

»Oh, nein«, wisperte Tiffany. »Er ist ausgestiegen.«

Eine Tür wurde zugeschlagen. Zwischen dem Geräusch vorbeifahrender Autos hörte Ben Stanford etwas murmeln.

»Er kommt nach hinten!«, zischte er. »Er muss uns gehört haben!«

Mit einem Satz aus dem Kofferraum zu springen, schien plötzlich die dümmste Idee aller Zeiten zu sein. Es spielte jetzt auch keine Rolle mehr, so weit würde es nämlich erst gar nicht kommen: Bens Beine waren eingeschlafen. Wenn der Kofferraum jetzt aufging, würde Stanford sie darin hilflos wie Ölsardinen liegen sehen. Ben versuchte verzweifelt, mit dem Boden des Kofferraums zu verschmelzen, versuchte, irgendein Versteck zu finden. Beim Einsteigen hatte doch etwas geraschelt. Lag er nicht auf einer Plastiktüte? Doch! Mühsam zerrte er sie unter sich hervor. Vielleicht war sie ja groß genug, damit sie sich darunter verstecken konnten. War sie aber nicht.

Der Kofferraumdeckel hob sich. Kühle Luft und das Licht von Autoscheinwerfern strömten herein. Aus einem kindischen Instinkt heraus schloss Ben die Augen, als könnte er sich dadurch unsichtbar machen.

»Entschuldigen Sie, Sir.«

Eine tiefe, unbekannte Stimme.

»Was gibt’s?«, schnaubte Stanford wütend. Ben öffnete ein Auge. Stanford hatte ihnen den Rücken zugedreht. Seine Hand lag auf dem halb geöffneten Kofferraumdeckel. Hineingeschaut hatte er noch nicht.

»Sie können hier nicht parken, Sir.« Ben erkannte die Uniform eines Verkehrspolizisten. »Sie stehen auf einem Zebrastreifen. Ich muss Sie bitten weiterzufahren.«

»Mit meinem Wagen stimmt was nicht, Sie…« Es kostete Stanford sichtlich Mühe, die Fassung nicht zu verlieren. »Hören Sie, es tut mir sehr leid. Ich wollte nur im Kofferraum etwas nachsehen. Ich habe Geräusche gehört. Wahrscheinlich war er nicht richtig zu.«

An diesem Punkt erwachte Ben aus seiner Benommenheit. Eine zweite Chance würden sie nicht bekommen. Er drehte die Plastiktüte zu einem Seil zusammen.

»Ich verstehe, Sir, aber Sie müssen sich leider trotzdem anderswo darum kümmern.« Der Polizist deutete auf den Verkehr, der sich hinter Stanfords silberner Limousine staute. Ben legte die zusammengedrehte Plastiktüte um den Schließmechanismus der Kofferraumtür, und im selben Moment schlug Stanford sie mit einem genervten Seufzer zu. Ben passte auf, dass der Deckel nicht wieder aufsprang.

Ein Ruck, ein Reifenquietschen und sie fuhren weiter. Erst nachdem sie um drei scharfe Kurven gebogen waren, traute sich Ben wieder zu flüstern.

»Das war knapp.«

»Du Idiot! Warum hast du dich nicht bemerkbar gemacht? Der Polizist hätte uns geholfen.«

»Ich habe dich aber auch nicht besonders laut rufen hören.«

»Ich hatte deinen Fuß im Mund.«

»Dann hätte die ganze Aktion ja überhaupt nichts gebracht. Ist doch jetzt auch egal. Schau– ich kann die Tür jederzeit von innen öffnen. Wir sind also jetzt auf der sicheren Seite.«

»Ich hab mich schon sicherer gefühlt, danke vielmals.«

»Ich will halt wissen, wohin er geht.«

Irgendwann rollte der Wagen langsam aus. Ben spürte, wie sich das Fahrgestell hob, als Stanford ausstieg. Er hielt den Atem an, bis er keine Schritte mehr hörte.

»Er ist weg.«

»Können wir jetzt bitte hier raus?«, fragte Tiffany.

Ben hob die Tür an. Der Abend glühte orangerot im Licht der Straßenlampen. Sie waren in einer verlassenen Gasse, die an einem großen, unbebauten Grundstück vorbeiführte. Vorn an der Ecke sah er ein paar Jugendliche auf einer alten Matratze herumhüpfen. Auf einer hohen Mauer links von ihm zitterten die Schatten von Bäumen wie Aale in Öl.

Ben fühlte sich merkwürdig. Während der Fahrt war er einige Male überzeugt gewesen, er wüsste, wohin es ging. Er hatte ein wiederholtes Ziepen in der Magengrube gespürt, während sich der Wagen durch die kurvigen Straßen geschlängelt hatte. So, als hätte er einen rot pulsierenden Magneten verschlucktPurpurn darunter wirkt Oshtis bewusst.

Das seltsame Gefühl verging und Ben versuchte angestrengt zu erkennen, was er da vor sich sah. Endlich machte es Klick.

»Die alte Fabrik…«

»Was?«

»Wir sind wieder zurück an unserem Ausgangspunkt«, sagte Ben. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich auf einmal unbehaglicher denn je. Da drüben war der Block, in dem sie wohnten, eine gespenstische Silhouette, und direkt vor ihnen

»Das Gebäude hier«, flüsterte er. »Man kann es von unserer Wohnung aus sehen. Die alte Fabrik steht seit Jahren leer.«

»Und MrStanford ist da reingegangen?«

»Möglich.«

Ein hoher, schwarzer Schornstein hob sich wie der Turm eines Zauberschlosses vor dem helleren Himmel ab.

»Und das war mal eine Fabrik?«

»Vor vielen Jahren, ja.«

»Ich glaube, dann hat mein Dad einmal davon gesprochen«, erinnerte sich Tiffany. »Er ist in dem Viertel hier aufgewachsen. Sie haben Hundekuchen hergestellt, hat er gesagt, und es soll meilenweit gestunken haben.«

Was immer sich hier vor langer Zeit getan haben mochte, jetzt lag das Gebäude verlassen da. Zumindest schien es so.

Ben kletterte aus dem Wagen und Tiffany folgte ihm eilig.

Etwas kullerte durch den Kofferraum. Tiffany warf einen Blick zurück.

»Hey!« Sie griff hinein. »Oh nein, Ben! Ich glaub’s nicht!« Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie zog ein braunes Glasgefäß heraus, und aus einer Ecke eine Pappschachtel mit einem Stapel Prospekte. Alles hatte denselben Aufdruck in fetten Buchstaben: Panthacea. Und darunter in Gelb: Gibt Kraft. Gesundheit. Leben.

Ben verstand gar nichts.

»Das sind Stuarts Tabletten!« Sie fuchtelte mit dem Glas vor seinem Gesicht herum. »Mein Bruder nimmt sie wegen seiner Muskeldystrophie. Was haben die in Stanfords Kofferraum verloren?«

»Frag mich was Leichteres«, sagte Ben. »Meinst du, Stanford hat dieselbe Krankheit?«

»Natürlich nicht. Du hast echt keine Ahnung. Dann könnte er kaum gehen.«

»Hm…« Ben wusste nicht, was er darauf sagen sollte.

Im Dämmerlicht spiegelten sich zwei winzige Abbilder der Fabrik in Tiffanys Augen.

»Er kann doch nichts mit Panthacea zu tun haben, oder?«

»Hm… vielleicht hat er einen Freund, der…«

»Ich muss es wissen.« Tiffany legte die Sachen in den Kofferraum zurück und schloss den Deckel. »Gehen wir ihm nach!«

Ben war plötzlich nicht mehr so wild darauf.

»Es ist schon spät«, gab er zu bedenken. »Du hast gesagt, deine Eltern fragen sich bestimmt schon, wo du bleibst.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, meinte Tiffany. »Ich kann das jetzt nicht so stehen lassen.«

»Es sind doch nur Tabletten.«

»Tabletten, die mein Bruder jeden Tag nimmt.« Leicht geduckt ging sie auf das Gebäude zu.

»Wir können doch auch morgen bei Tag noch einmal herkommen.«

»Wir sehen nachts genauso gut wie bei Tag.«

»Tiffany«, zischte Ben. »Es tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen habe, aber… Du kennst den Typ nicht. Er hat echt nicht mehr alle Tasten am Klavier. Er ist ein hochgefährlicher Psychopath!«

»Genau darum geht es ja«, sagte Tiffany. »Wenn er irgendetwas mit Panthacea zu tun hat und sei es über tausend Ecken, dann…«

Sie pressten sich neben einer alten Brandschutztür, dem einzig sichtbaren Eingang, an die Wand. Das Vorhängeschloss hing offen herunter.

Ben machte einen letzten Versuch: »Du weißt aber, dass wir heute schon mindestens drei Leben aufgebraucht haben, oder?«

Tiffany ignorierte ihn, drückte die Tür auf und schlich auf Zehenspitzen hinein. Es war stockfinster. Ben wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als mitzugehen. Tiffany öffnete eine zweite Tür. Ein mattes Licht ließ die Wände eines riesigen Raumes erkennen. Auf leisen Sohlen schlichen sie in eine düstere Halle, angezogen von halblauten Stimmen zu ihrer Rechten.

Im Herzen dieser toten Höhle, die den Anschein machte, als seien jahrzehntelang nur Ratten durch den Staub gehuscht, war etwas lebendig. Zwischen dicken Pfeilern, die mit erstaunlich kunstvollen Klinkermustern ausgeschmückt und hier und da mit rostigen Schildern bestückt waren, standen sich zwei Gestalten in einem Lichtkreis gegenüber. Staubgespenster tanzten in den grellen gelben Strahlen, die hinaufreichten bis zu den großen Bogenlampen. Ben zwang all seine Energie in die Fußsohlen und hieß sie auf der Luft über dem Boden gehen, in der Lautlosigkeit des Eth-Ganges. Zum Glück war die Fabrik mit einem dichten Netz aus Schatten überzogen; es war nicht schwer, sich von Schatten zu Schatten zu bewegen, während sie dem Licht immer näher kamen.

»Also, was kann ich für Sie tun, John?« Die schmale Gestalt in dem braunen Kamelhaarmantel schaute auf die Uhr, die sie wie eine Krankenschwester auf der Innenseite des Handgelenks trug.

»Sie haben mich herbestellt.« Es war nicht schwer, die Gereiztheit aus John Stanfords Ton herauszuhören.

»Habe ich das? Dann kommen Sie doch mit in mein Büro.«

Der schmale Mann machte mit der rechten Hand ein Zeichen, ihm zu folgen. Die linke hielt er, wie Ben feststellte, schützend unter dem Mantel am Körper, so als sei der Arm verletzt. Die beiden Männer gingen auf eine Mauer aus Kartons zu. Dahinter befand sich ein Arbeitsbereich mit einem Schreibtisch, einem Computer und einem Aktenschrank, verloren wie im Schaufenster eines Möbelgeschäfts.

Der Mann setzte sich an den Schreibtisch und richtete die hellen Augen auf Stanford. Er erinnerte Ben an eine kranke Schlange, die er einmal in einer Zoohandlung gesehen hatte. »Sie haben die Pläne des Architekten?«

»Hier.« Stanford griff in seine Tasche. Der Schmächtige legte die zusammengefalteten Papiere beiseite, ohne einen Blick darauf zu werfen.

»Ich werde sie mir anschauen, wenn ich Zeit und Muse habe.« Er lächelte freudlos. »Wie kommen Sie mit der Arbeit voran?«

»Also wenn das alles ist, was Sie mich fragen wollten, Dr.Cobb«, erwiderte Stanford, »hätten Sie das auch am Telefon tun können.«

»Was hat er gesagt?«, zischte Tiffany an Bens Ohr.

»Pssst!«

»Er hat den Mann ›Doktor Cobb‹ genannt. Philip Cobb heißt der Wissenschaftler, der das Medikament für meinen Bruder macht…« Tiffany biss sich in die Faust, als sei das die einzige Möglichkeit, sich selbst zum Schweigen zu bringen.

»Aber wenn Sie nun schon fragen…«, fuhr Stanford fort. »Es läuft gut. Horton und Forrester haben den Vertrag akzeptiert. Die Bauarbeiten können bald beginnen.« »Bald? Was steht dem Baubeginn noch im Weg?«

»Wenn Sie glauben, Ihre Wissenschaft sei kompliziert«, meinte Stanford, »sollten Sie mal eine Woche ins Maklergeschäft einsteigen. Diese Rechtsanwälte brauchen eine ganze Woche, bis sie allein ihren Tee umgerührt haben.« Er zog geräuschvoll die Nase hoch. »Aber darum brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Es geht nur noch um den Erwerb der letzten Wohnung von den sogenannten Eigentümern. Sie haben sich quergestellt, aber das hört bald auf.«

»Ach ja? Ich bin davon ausgegangen, dass die Labors bis nächsten Sommer fertig sind und die Produktion dann endlich richtig anläuft. Das wird immer unwahrscheinlicher, oder wie sehen Sie das?«

»Wir haben ja das Gebäude hier zur Überbrückung.«

»Ja, sicher, es ist perfekt. Eine leer stehende Hundekuchenfabrik«, höhnte Cobb. »Genau das Bild, das ich ganz groß auf meiner Homepage sehen will. Und was die Toiletten betrifft… Lassen wir das lieber.«

Stanford schien vor Wut zu schäumen. Ein gefährlicher Geruch wehte aus seiner Richtung. Doch bevor er etwas sagen konnte, sprang Cobb wie von der Tarantel gestochen vom Schreibtisch auf.

»Nein, nein, halt! Sofort stopp!«

Ben packte Tiffany am Arm und wollte schon abhauen. Es dauerte einen Moment, bis er begriffen hatte, dass nicht sie der Grund für Cobbs Aufregung waren. Sie waren also doch nicht allein in dem heruntergekommenen Bau.

Cobb lief zu zwei Arbeitern, die gerade versuchten, einen alten Lastenaufzug in Gang zu bringen. Der Aufzug hatte noch Seile statt Kabel und einen großen eisernen Korb, der aussah, als gehörte er ins Museum.

Cobb schubste die Männer mit erstaunlicher Kraft zur Seite. »Das würdet ihr ganz schön bereuen«, fauchte er. »Meine Güte, wir haben es doch hier nicht mit Raketenforschung zu tun. Okay, es ist etwas Ähnliches wie Raketenforschung, aber doch nicht dasselbe.«

Er wandte sich an einen der Arbeiter, einen jungen Mann, der kaum älter sein konnte als siebzehn Jahre.

»Der Aufzugskorb ist leer, du Schwachkopf. Ihr müsst das Gegengewicht verringern, bevor ihr die Bremse löst.« Er zeigte hinauf zu einem Stapel Gewichte, die ganz oben am Aufzugsgerüst hingen. »Wenn es nicht richtig ausbalanciert ist, kracht das Ding herunter, zerschlägt den Mechanismus und euch höchstwahrscheinlich gleich mit. Wenn ihr eure Tage also nicht auf meinem Seziertisch beschließen wollt«, Cobb schlug mit der flachen Hand auf ein vergilbtes Pappschild, »lernt lesen.«

Er ging zurück in den Bürobereich.

Stanford grinste. »Und wie kommen Sie mit Ihrer Arbeit voran?«

»Könnte nicht besser laufen«, erwiderte Cobb trocken. »Jedenfalls sind wir bald am Ziel. Wir sind fast so weit, dass wir die Nachfrage befriedigen können– auch wenn wir zwischen drei verschiedenen Betrieben hin und her pendeln müssen, um eine Lieferung auf die Beine zu stellen. Aber mit dem neuen Labor wird sich das ja endlich ändern.«

»Nächstes Jahr um diese Zeit ist es fertig.«

»Das bezweifle ich nicht.« Philip Cobb wurde auf einmal ganz umgänglich. »Prima! Wie wäre es nun mit einer kleinen Führung durchs Haus? Dann können Sie endlich mal sehen, was mit Ihrem Geld alles Schönes gemacht wird.«

»Wird auch langsam Zeit. Ich bin entzückt.«

Stanford ging mit Cobb an dem Lastenaufzug und den beiden Arbeitern vorbei, die noch immer versuchten, den Mechanismus zu durchschauen. Ben blieb erst mal in seinem Versteck. Als er sich nach Tiffany umschaute, sah er, dass sie den beiden nachschlich.

»Nein!«, zischte er. »Wir verschwinden! Jetzt!«

Sie ignorierte ihn und duckte sich hinter eine Absperrung aus Metallstangen. Er holte sie in dem Augenblick ein, als Cobb den dicken Plastikvorhang zur Seite schob, der die Fabrik in der Mitte teilte.

»Hier haben wir die Extraktionshalle.«

Reihen von tragbaren Lampen blendeten mehr, als dass sie erhellten. Drähte und Schläuche schlängelten sich wie Wurzeln über den Betonboden und woben sich zwischen irgendwelchen klobigen Objekten durch, die in einer Art Gittermuster angeordnet waren. Ben fragte sich, worum es sich dabei wohl handelte. Auch Stanford schien sich zu wundern. Die Objekte waren etwas größer als Reisekoffer und leuchteten merkwürdig im Schein der Lampen. Eine winzige Bewegung in dem Kasten, der ihnen am nächsten stand, ließ Stanford zusammenzucken. Im selben Moment erkannte Ben, dass es sich um einen Käfig handelte. Ein Käfig mit etwas Lebendigem darin.

Ein fauler Geruch stieg Ben in die Nase.

»Darf ich Ihnen die Insassen vorstellen«, sagte Philip Cobb.

Das Ding in dem Käfig war ein Leopard. Stanford wich zurück und stieß gegen einen weiteren Käfig mit einem zweiten Leoparden. Daneben lag eine gelbbraune Katze mit Haarbüscheln an den Ohren. Und drüben war etwa Schwarzes, vielleicht ein Panther. Überall– Käfige. Stanford brachte den Mund nicht mehr zu. Ben hörte ein unterdrücktes Keuchen neben sich.

»Woher ich sie alle habe?« Cobb machte mit der linken Hand, die im Vergleich zu seinem Körper unnatürlich klein wirkte, eine weit ausholende Geste. »Von hier und da. Private Sammler. Importe. Die zufällige Schließung eines Zoos. Den einen oder anderen habe ich jetzt schon seit Jahren.«

Stanford beäugte den Leoparden aus sicherer Entfernung. Er kauerte, als wollte er gleich losspringen. Aber er verharrte in dieser Haltung nur, weil der Käfig zu klein war, als dass er sich hätte aufrichten können. Die runden Ohren stießen an den oberen Stäben an. Ben fragte sich, warum er, wenn er nicht richtig stehen konnte, sich nicht einfach hinlegte. Zwei glühende Augen blinzelten. Das Tier drehte den Kopf mechanisch hin und her, so weit es der enge Käfig zuließ, von links nach rechts und wieder zurück, wie ein Uhrwerk.

»Wozu«, fragte Stanford und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, »sind sie hier?«

»Natürlich!« Cobb rieb sich die Hände, als amüsiere er sich über einen guten Witz. »Das können Sie ja nicht wissen. Ich beneide euch Businesstypen. Keiner von euch kümmert sich einen Deut darum, wie etwas funktioniert, solange der Gewinn stimmt. Ich langweile Sie doch hoffentlich nicht mit einer Erklärung?«

»Mein Vater war Architekt und meine Mutter war Ärztin«, knurrte Stanford auf Deutsch, »und Englisch ist lediglich meine dritte Sprache, Dr.Cobb. Erklären Sie nur, ich kann Ihnen schon folgen.«

»Oh.« Cobb schien überrascht. »Nun gut, schauen Sie sich diesen Kameraden hier an. Ich nenne ihn Tricky, weil er ein ziemlich fieses Naturell hat.«

Der Leopard machte ein Geräusch wie eine Kettensäge.

»Kommen Sie hier herüber, wo er Sie nicht sehen kann«, sagte Cobb. »Schauen Sie hier, an seiner Seite.«

Ben versuchte von seinem Versteck aus etwas zu erkennen. Aus dem Bauch des Leoparden ragte ein durchsichtiger Plastikschlauch, der von einem schmutzigen Mullverband an Ort und Stelle gehalten wurde. Während er hinschaute, floss ein dünnes Rinnsal durch den Schlauch in einen Behälter außerhalb des Käfigs. Ein weiterer Schlauch führte die dunkle Flüssigkeit von dem Behälter weg nach Wer-weiß-wohin.

»Was ist das für ein Zeug?«, fragte Stanford.

»Galle«, antwortete Cobb. »Wird abgezapft aus der Leber.«

»Warum?«

»Das ist unser Rohmaterial«, erklärte Cobb. »Das, woraus Panthacea zum großen Teil besteht. Galle von Raubkatzen. Die Chinesen kennen ihre heilsamen Eigenschaften schon seit Jahrhunderten. Ich habe das Ganze zu einem wirkungsvollen Heilmittel weiterentwickelt. Ein Heilmittel für allerlei Krankheiten– hergestellt aus hundert Prozent natürlichen Inhaltsstoffen.«

Ben hörte ein Schluchzen. In Panik legte er Tiffany die Hand über Mund und Nase. Er war sich kaum bewusst, was er tat, bis sie sich wand und nach Luft schnappte. Ben lockerte seinen Griff wieder etwas, gerade genug, dass sie atmen konnte. Er spürte, wie Tiffany zitterte, so, als könnte jeden Augenblick ein grässlicher Schrei aus ihr herausbrechen.

Philip Cobb fuhr sich mit der gesunden Hand durchs Haar. Ben konnte den Blick nicht von dem Leoparden abwenden. Jetzt wusste er, warum dieser sich nicht hinlegte. Wenn er es täte, würde der Schlauch in seinen Bauch weiter hineingedrückt.

»Die Käfige«, fuhr Cobb fort, »müssen natürlich genau die richtige Größe haben. Wenn wir den Tieren so viel Platz gäben, dass sie sich umdrehen könnten, würden sie an den Schläuchen lecken und sie sich herausziehen.«

»Tut das…« Stanford runzelte neugierig die Stirn. »Tut das nicht weh?«

»Sie sind daran gewöhnt. Ah, es ist Fütterungszeit.«

Zwei dunkelhaarige Frauen waren in der Halle erschienen. Sie schoben Wagen vor sich her, die überquollen von Fleischbrocken. Cobb redete ein paar Worte in einer fremden Sprache mit ihnen und die Frauen begannen mit langen Zangen Fleisch zwischen die Käfigstäbe zu schieben. In der Fabrikhalle wurde geschnüffelt, gegrunzt und geknurrt, als mindestens ein Dutzend Raubkatzen sich über ihre Ration hermachten. Der Panther krümmte sich und versuchte ein Stück Fleisch zu erhaschen, das außerhalb seiner Reichweite gelandet war.

»Wir schicken die Galle in mein kleines Labor in Kent«, rief Cobb über den Lärm. »Dort werden die Tabletten gepresst. Das ist das Gebäude, das Sie auf unserer Webseite sehen können. Ein Haus auf dem Land mit Blick auf den Wald. Besuchen Sie mich dort doch einmal!«

»Herzlich gern.« Stanford betrachtete einen riesigen Tiger, der an den Stäben seines Käfigs herumnagte und das Blut ableckte, das vom Durchschieben der Fleischbrocken daran klebte. Mit seiner Zunge hätte man Holz schmirgeln können.

»Das ist Shiva«, sagte Cobb. »Wir kennen uns schon ewig. Eine meiner ersten Anschaffungen.«

Er näherte sich dem Käfig und zog einen Schlüssel aus der Tasche, was Ben allergrößtes Unbehagen bereitete. Der Tiger unterbrach seine Fressorgie. Cobb ging bis auf zwei Meter heran und ließ den Schlüssel funkeln. Der Tiger starrte darauf. Cobb machte einen weiteren Schritt auf ihn zu. Noch eineinhalb Meter. Noch einen.

Shivas Pfote krachte in die Käfigtür. Krallen von der Größe eines Messers schrammten über die Gitterstäbe, als spielten sie eine grauenhafte Harfe. Aus Shivas Kehle kam ein Brüllen wie von einem Erdbeben tief unter dem Boden. Cobb rührte sich nicht.

»Shiva ist bereits vier oder fünf Jahre bei uns. Haben Sie schon einmal von einer Tierschutzorganisation mit dem Namen Tigers for Tomorrow gehört? Nein? Sie ist bankrottgegangen über dem Versuch, indische Tiger zu züchten, um sie dann auszuwildern. Sie haben verzweifelt nach Unterbringungsmöglichkeiten für ihre wenigen Erfolgsgeschichten gesucht. Eine davon war Shiva und sie war fast alt genug, um in die Freiheit entlassen zu werden. Sie waren dankbar, als ich eingesprungen bin.«

Stanford zündete sich eine Zigarre an und nahm einen Zug.

»Aber diese Organisation wusste nicht, was Sie…«

»Die konnten sich keine Fragen erlauben.« Cobb warf Stanford einen prüfenden Blick zu. »Sie sind doch kein Vegetarier oder so?«

»Kaum.« Stanford gluckste. Als sie an einem Käfig mit einem kleineren, schwächlich aussehenden Tiger vorbeikamen, schnippte er ihm Asche auf den Kopf.

»Tun Sie das nicht!«, raunzte Cobb ihn an. »Wenn ich bitten darf! Diese Galle ist eine Menge wert. Sie darf nicht kontaminiert werden.«

Sie drückten den Industrievorhang auf und betraten wieder die relativ ruhige zweite Hallenhälfte. Ben flitzte von Schatten zu Schatten und versuchte den Ausgang wiederzufinden. Tiffany zog er hinter sich her. Sie stolperte wie jemand, der frisch erblindet war.

Cobb ging in sein behelfsmäßiges Büro, schloss den Schlüssel in der Schreibtischschublade ein und faltete die Blätter auseinander, die Stanford mitgebracht hatte. Mit einem verträumten Lächeln betrachtete er die Bauzeichnungen.

»Dr.Cobb«, sagte Stanford, »ich bin ehrlich beeindruckt. Als ich dieses gottverlassene Gelände gekauft habe, dachte ich, wir nutzen es nur vorübergehend als Lager. Ich hätte nie gedacht, dass Sie die Sache mit so wenig zum Laufen bringen würden.«

»Danke.«

»Nachdem ich mir jetzt allerdings selbst ein Bild gemacht habe, bin ich doch etwas besorgt. Diese Tiere… Das alles ist ja nicht ganz legal, oder?«

»Ich kann Ihnen meine Erlaubnis zum Halten exotischer Tiere zeigen«, erwiderte Cobb.

»Haltung, ja. Aber gibt es nicht Leute, die möglicherweise etwas dagegen hätten…« Stanford saugte an seiner Zigarre. »Was ich sagen will, ist: Sie würden diese Halle hier doch nicht der Öffentlichkeit zugänglich machen, oder?«

»Falls die Öffentlichkeit sich umsehen will, kann ich sie nicht daran hindern«, antwortete Cobb. »Aber bis jetzt hat sie noch nicht darum gebeten. Niemand interessiert sich dafür, John.«

Stanford stieß eine graue Wolke aus. »Gut.«