Krallenlos 13

Die Musik dröhnte so laut in Bens Ohren, dass sie ihm fast abflogen, aber wenigstens hinderte ihn das am Nachdenken. Eingehüllt in den Lärm aus seinen Kopfhörern ging er wie ein Schlafwandler durch den Park von Clissold. Fast hätte er die beiden Gestalten übersehen, die unter der Kastanie Gleichgewichtsübungen machten. Bevor er den Rückzug antreten konnte, winkte Yusuf. Ben nahm die Kopfhörer ab.

»Wie bitte?«

»Ich hab ›Hi, Ben‹ gesagt!«

»Hi.«

»Hast du gesehen, Olly? Der Maestro ist hier. Machst du mit?« Yusuf setzte sich ins Gras und klemmte einen Fuß hinter den Kopf. »Wir gehen gerade– uff!– ein paar Grundübungen durch.«

Obwohl er ihnen eigentlich aus dem Weg gehen wollte, freute sich Ben, sie zu sehen. Es schien Jahre her, dass er zuletzt mit jemandem gesprochen hatte, ohne zu streiten oder irgendetwas zu verheimlichen.

Bei den beiden war das eine wie das andere eher unwahrscheinlich. Wenn Ben nicht gerade so unglücklich wäre, brächte ihn Olly garantiert dauernd zum Lachen mit seinen albernen Kommentaren und einer Stimmlage, die selbst aus dem großen Einmaleins eine Comedy-Nummer machen konnte. Und Yusuf hatte etwas Entwaffnendes an sich, nicht nur, was seine konsequent unenglischen Vokale anging. Es war auch die Art und Weise, wie er Dinge einfach durchzog, bis dahin, dass er sein Leben im Wald riskierte. Yusuf selbst witzelte immer, dass er diese Haltung von seinem Vater hätte, der früher Hauptmann einer bewaffneten Einheit der irakischen Republikanischen Garde gewesen sei– zumindest ging Ben davon aus, dass es ein Witz war.

Im Moment fand er es einfach nur schön, ein paar Freunde getroffen zu haben.

»Danke, ich… ich setze lieber aus.« Ihm klingelten noch immer die Ohren von der lauten Musik und es war gar nicht so einfach, sich eine passende Lüge auszudenken. »Ich will meine Jeans nicht einsauen. Bei Ich-jage-den-Vogel habe ich schon mal eine geliefert.«

»Gute Ausrede«, meinte Olly grinsend. Er zwinkerte Yusuf zu. »Hab ich’s dir nicht gesagt? Ben spielt nicht mehr in unserer Liga. Für ihn sind wir Lemminge, die aus Bäumen fallen.«

Ben wurde rot. »Stimmt doch gar nicht. Ich bin…« Es war nur so, dass seine letzte Erinnerung an Pashki die war, dass seine Mutter nach einem Schlag von ihm durch die Küche geflogen war. Er wusste genau, er würde ihr Gesicht wieder vor sich sehen, wenn er auch nur versuchte, im Eth-Gang zu gehen. Irgendeine Pashki-Übung zu machen, war im Moment einfach undenkbar.

»Kein Stress«, sagte Yusuf. »Wir wissen doch, dass es stimmt.« Er richtete sich auf und streckte sich genüsslich. »Aber wart’s ab, wir können dir auch etwas zeigen. Ol, sollen wir ihn in unseren Plan einweihen?«

Offenbar bedeutete das, zu Olly nach Hause zu gehen. Dazu mussten sie mit dem Bus in eine der besseren Gegenden im Norden von London fahren. Dieses Mal kaufte sich Ben eine Fahrkarte.

Ollys Zimmer war groß und sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Sie bahnten sich einen Weg durch den Dschungel aus leeren Kartons, Farbdosen, Wäschestapeln, Papierrollen, jeder Menge CD-Hüllen und zwei Staffeleien.

»Schau dir das mal an«, sagte Yusuf. Er nahm ein paar Blätter in DIN-A3-Größe und breitete sie auf der verfügbaren Bodenfläche aus.

Ben betrachtete sie aus reiner Höflichkeit. Jemand hatte einen Laserdrucker angeworfen und sich eine Menge Arbeit gemacht. Auf jedem Blatt war ein anderes Bild zu sehen: neonfarbene Pfotenabdrücke, die Silhouette eines Katzenkopfes, ein meergrünes Auge auf schwarzem Hintergrund, diverse Logos mit den Begriffen »Katzenkosmos«, »Pashki« oder »Mau« in ausgefallenen Schriften.

Ein Bild stach besonders ins Auge. Es zeigte fächerförmig angeordnete, geschwungene Linien, die ihm irgendwie vertraut vorkamen. Ben musste zugeben, dass er beeindruckt war.

»Die sind echt super, Olly. Hast du sie gemacht?«

»Yeah. Yusuf behauptet zwar, dass ein paar Entwürfe von ihm stammen, aber er lügt wie gedruckt.«

»Du hast echt was drauf.«

Olly lief rot an.

»Egal, du kannst dir jedenfalls vorstellen, was das werden soll, oder?«, fragte Yusuf. »Judo-Mannschaften haben ihre eigene Kleidung, also warum wir nicht auch? So können wir das Ganze mehr zu einem Club machen.«

»Und hier ist der Prototyp«, sagte Olly und zog ein schwarzes T-Shirt und eine Laufhose aus Stretchmaterial unter dem Bett hervor. Auf dem T-Shirt war das seltsame Bild mit den strahlenförmig von einem Punkt ausgehenden Bögen. »Yusufs Idee, falls du das eine Nanosekunde lang glaubst.«

»Nicht schlecht.« Ben runzelte die Stirn; er versuchte immer noch, das Bild irgendwo einzuordnen.

»Das ist sogar echt gut«, fand Yusuf. »Es sind die Schnurrhaare einer Katze.«

Natürlich! Diese Linien waren die Haarbüschel am Schnäuzchen und an den Augenbrauen einer Katze und man stellte sich automatisch ein Katzengesicht dazu vor.

»Cool.« Ben tat begeistert, obwohl er sich ganz anders fühlte. Das ganze Pashki-Gerede machte ihm nur wieder deutlich, was er getan hatte. Die Angst, dass seine Mutter ihm nie mehr verzeihen könnte, quälte ihn als ständiger Schmerz. Er konnte sich gut vorstellen, wie sich die eingesperrten Tiere mit den Schläuchen in ihren Flanken fühlten. Es war die reine Folter.

Nein. Darüber wollte er lieber gar nicht nachdenken.

»Er ist nicht so leicht zu beeindrucken, wie?«, sagte Olly zu Yusuf.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Ben. »Die Idee ist echt super. Ich hab nur gerade eine Menge anderer Dinge im Kopf.«

»Bestimmt nichts so Wichtiges wie das hier«, meinte Olly und schob eine CD in seinen Computer. »Du hast doch schon von dem neuen Spiel gehört, Cygnus X-1? Hier ist es. Frisch gerippt, erscheint offiziell erst in zwei Wochen. Hat mich einiges gekostet.«

»Kenn ich nicht«, sagte Ben. »Ich muss dann auch los.«

»Bist du verrückt?« Yusuf verpasste ihm im Spaß einen Schlag auf den Hinterkopf. »Das ist eine Vorab-CD! Nicht mal Prinz Harry hat die jetzt schon!«

Es war unfair, sich vor den beiden so hängen zu lassen. Die Freude über die Sommerferien brodelte noch in ihren Adern und für zwei weitere Wochen war die Welt ein Paradies. Sie hatten es nicht verdient, dass sie sich mit ihm herumschlagen mussten.

»Wirklich, ich muss gehen.«

»Okay.« Olly und Yusuf warfen sich einen fragenden Blick zu.

Es war ein sonniger Nachmittag. Im Bus auf der Rückfahrt zur Wohnung seines Dads wurde Ben klar, dass er es nicht länger hinausschieben konnte. Er musste mit seiner Mutter reden. Zwei Stationen vorher stieg er aus und lief durch den Park. Während er zwischen Kinderwagen und Leuten mit Hunden Slalom lief, versuchte er sich zurechtzulegen, was er sagen wollte. »Entschuldigung« war alles, was ihm einfiel. Vielleicht war es ja genug.

Kurz bevor er in seine Straße einbog, schaute er hinauf zu den Wolken. Er hatte etwas gehört, was wie Donner geklungen hatte. Ein zweites Grollen folgte, dieses Mal eher blechern. Es klang wie das Scheppern, das man im Theater mit Metallplatten macht, wenn Donner angesagt ist. Ben ging schneller. Etwas an der Silhouette seines Häuserblocks war anders. Ein hoher Mast ragte hinter den Häuserreihen auf. Ein Kran. Es rumste zum dritten Mal– und es war definitiv kein Donner. Beim Abbiegen in seine Straße rannte Ben schon, so schnell er konnte.

Womm!

Er sah Mauern, seltsam vertraut, doch oben ausgefranst. Er sah Fenster ohne Glas und dahinter Himmelsblau. Er sah Backsteine, aufgetürmt wie Schneeverwehungen. Eine riesige Metallbirne hing an einem Stahlseil am Kranausleger. Während er zuschaute, schwang die Abrissbirne träge wie eine geschlenkerte Handtasche in das vierte Stockwerk des Blocks. Die Mauer hustete Staub und verschob sich. Noch ein Schlag und das Mauerwerk gab nach und regnete in großen Blöcken auf die Erde.

Womm!

Der Bürgersteig schien unter seinen Füßen zu schwanken wie ein Schiffsdeck. Wo war er? Eigentlich hätte er vor seiner Wohnung stehen sollen. Irgendwo musste er falsch abgebogen sein und war jetzt auf einer Großbaustelle gelandet. Statt eines Wohnblocks war da eine halbe Ruine.

Dann wachte sein Hirn auf und ließ ihn wissen, dass sein altes Zuhause gerade dem Erdboden gleichgemacht wurde.

»Mum!« Maschinenlärm übertönte ihn. »Mum! Wo bist du?«

Er lief in einen Maschendrahtzaun, der plötzlich vor ihm aufgespannt war wie ein Spinnennetz. Das Raupenfahrwerk des Krans hatte die winzigen Vorgärten platt gewalzt. Irgendwo im Dreck lagen Basilikum, Rosmarin und Salbei, die seine Mum gehegt und gepflegt hatte.

Zwischen Abfallcontainern und geparkten Lastwagen hindurch sah Ben die staubigen Fenster. Die Wohnung schien leer zu sein. Natürlich war sie leer. Sie konnten schließlich kein Haus niederreißen, solange noch jemand drin war. Oder?

»Mum!«, brüllte er so laut, dass es wehtat.

»He!« Ein Mann mit einem Bauhelm wedelte mit dem Arm. »Hau ab, das ist gefährlich hier! Habt ihr jungen Kerls denn gar nix im Kopf?«

Sie war weg. Aber seine ganzen Sachen waren noch da drin. Seine Kleider, seine Bücher, sein Computer, seine Lieblingsbettwäsche. Ob seine Mum sich die Mühe gemacht hatte, etwas für ihn zu retten?

Er wich zurück, wobei er wie hypnotisiert auf die hin und her schwingende Abrissbirne sah. Sein Blick glitt am Kran hinunter zu der orangefarbenen Kabine, auf der der Name Horton & Forrester prangte. Der Kranführer saß darin und bewegte die Hebel, als spielte er ein Computerspiel. Ben beobachtete, wie sich ein Riss in der Wand auftat, und schaute plötzlich in sein Zimmer. Er nahm die Hände vom Zaun und floh.

Etwas Unförmiges plumpste durch den Briefschlitz. Stuart hievte sich vom Sofa hoch und lief auf den Flur. Tiffany hörte sein enttäuschtes Grummeln und entspannte sich.

»Noch nicht gekommen?«, fragte sie.

»Nur ein paar von Dads blöden CDs.« Mit einem trockenen Husten ließ er sich wieder aufs Sofa fallen. »Wenn sie nicht bald kommen, lande ich wieder im Krankenhaus.«

»So schlecht scheint es dir heute doch gar nicht zu gehen«, sagte Tiffany betont fröhlich.

»Aber bald«, unkte Stuart. »Wenn die Wirkung der letzten Tabletten nachlässt.« Er senkte die Stimme. »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, Mum hat die Gläser versehentlich weggeschmissen, als sie im Bad sauber gemacht hat. Zugeben würde sie das natürlich nie.«

»Möglich wär’s.«

Tiffany stellte den Fernseher lauter. Das waren die unangenehmsten vierzehn Tage ihres Lebens gewesen. Als Stuart sich beklagte, weil er seine Tabletten nicht finden konnte, fragte ihre Mutter als Erstes Tiffany. Und nachdem sie das ganze Haus durchsucht hatte, glich alles, was sie sagte, einer offenen Anschuldigung.

Irgendwann nahm Dad Tiffany beiseite und bat sie, noch einmal gut zu überlegen, ob sie Stuarts Tabletten nicht vielleicht doch irgendwo hingetan hatte… Worauf Tiffany losbrüllen musste, dass man ihr immer für alles die Schuld gab und sie schließlich nicht der Drogenhändler ihres kleinen Bruders sei. Danach hörten ihre Eltern damit auf.

Es half, dass Stuart auf ihrer Seite war. »Tiffany kann sie unmöglich verlegt haben. Sie verlegt doch nie etwas«, erklärte er seinen Eltern. »Nicht einmal ihre Schwimmbrille, Dad.«

Nachdem jedes Zimmer und jeder Papierkorb durchsucht worden war, gaben ihre Eltern auf und bestellten eine neue Lieferung Panthacea über die Natur-pur!-Webseite. Der Preis war inzwischen auf siebzig Pfund pro Paket angestiegen.

In Tiffany krampfte sich alles zusammen. Sie hatte es lediglich geschafft, Dr.Cobbs Taschen noch mehr zu füllen. Und bald würde sie die nächste Lieferung verstecken müssen. Du kannst auch hundert Lieferungen verstecken, höhnte eine fiese Stimme in ihrem Kopf, die Katzen sind deshalb immer noch eingesperrt.

Am Sonntag wachte Tiffany spät auf und ging hungrig nach unten. Ihre Mum bügelte.

»Hallo!« Tiffany schüttete Cornflakes in eine Schüssel und ertränkte sie in Milch. Dann schaute sie zu ihrer Mum hinüber, um zu sehen, warum sie nicht geantwortet hatte. Etwas Rotes lag auf dem Bügelbrett.

»Ist das nicht deine hübsche Seidenbluse?«, fragte sie. »Die, nach der du gesucht hast?«

»Ja.«

»Dann hast du sie also gefunden.« Das unbewegte Gesicht ihrer Mutter irritierte Tiffany. »Wo war sie denn?«

Ihr Dad erschien in der Tür. Er hielt drei kleine Schachteln und ein Arzneiglas in den Händen.

»Ich hab sie gefunden«, sagte er. »Und zwar auf dem Dachboden.«

Die Schüssel glitt Tiffany aus den Händen. Milch und Scherben spritzten über den Boden. Sie suchte nach einem Spültuch.

»Jetzt lass das.« Ihr Dad stellte das Panthacea ab und kam auf sie zu. Er hob ihr Kinn an, damit sie ihn anschauen musste. »Ich werde dich nicht fragen, ob du es getan hast«, sagte er. »Das steht außer Zweifel. Ich werde dich auch nicht fragen, wie du es getan hast, obwohl es mir, das gebe ich zu, ein Rätsel ist. Was ich wissen möchte, ist: Warum, Tiffany?«

Sie versuchte den Kopf wegzudrehen. Dads Blick war unerträglich; so hatte sie ihn noch nie gesehen. Er hielt sie fest. »Sprich mit mir, Mädchen. Warum hast du die Arznei deines Bruders versteckt?«

»Was hast du dir bloß dabei gedacht?«, rief Tiffanys Mutter.

»Versuchst du ihm eins auszuwischen wegen irgendeiner dummen…« Ihr Vater brachte den Satz nicht zu Ende. »Denn wenn das der Fall ist…«

Jetzt war es so weit. Sie musste ihnen alles sagen. Aber, aber… Wenn sie ihnen die Wahrheit sagte, glaubten sie ihr vielleicht nicht, und selbst wenn sie ihr glaubten, wäre es noch schlimmer. Stuart würde erfahren, was er in den vergangenen Monaten geschluckt hatte. Die entsetzlichen Bedingungen, unter denen die Tabletten hergestellt wurden. Es schnürte ihr die Kehle zu, bis sie kaum noch atmen konnte.

»Du verlässt diesen Raum nicht, bevor wir nicht deine Gründe wissen, Fräuleinchen!«, sagte ihre Mutter.

Aber Tiffany ignorierte sie. Wie gebannt schaute sie auf Stuart, der in die Küche gekommen war und ein Buch vor der Brust hielt.

»Tiffany?«, begann er. »Das war doch nur ein Scherz, nicht wahr?«

Sie starrte auf den Boden. Das Muster der Fliesen zerfloss in Tränen.

»Willst du denn nicht, dass ich gesund werde?«, fragte Stuart. »Magst du mich nur, wenn ich krank bin oder so?«

Sie stieß die Hand ihres Vaters mit einer Kraft weg, die diesen überraschte. An Stuart vorbei lief sie in den Flur und hinaus auf die Straße.

»Hätten wir das zulassen dürfen?«, murmelte ihr Dad quälend deutlich für ihr Katzengehör. »Besser, wir geben ihr Hausarrest.«

»Damit sie bekommt, was sie will? Sie möchte nur Aufmerksamkeit, Peter. Eifersucht ist etwas Schreckliches.« Ein Seufzer. »Und ich dachte immer , sie vergöttert Stuart.«

Ben hockte hinter dem Steuer des Wagens. Als ihn die sinkende Sonne zu blenden begann, klappte er den Sonnenschutz herunter. Er drückte aufs Gas, doch der Wagen rührte sich nicht. Was ihn nicht überraschte. Der Volkswagen parkte auf einem anderen Wagen und hatte selbst noch einen auf dem Dach. Ein Wrack in einem Berg von Wracks. Ben kannte den Autofriedhof aus der Zeit, als er und seine Kumpels von der Spielhalle an langweiligen Wochenenden durchs Viertel gezogen waren. Wie er heute hier gelandet war, allein in diesem Friedhof der Blechelefanten, wusste er nicht so genau. Vielleicht war es der letzte Ort, an dem er sich zu Hause fühlen konnte.

Einmal noch hatte er all seinen Mut zusammengenommen und war zu seiner alten Wohnung zurückgegangen. Sie war nicht mehr da. Sogar der Schutt war schon abtransportiert. Doch sein Zuhause schrie immer noch kläglich nach ihm. Er hatte gehört, dass Menschen, die einen Arm oder ein Bein verloren hatten, immer noch Schmerzen darin empfinden konnten. Jetzt konnte er das nachvollziehen.

Nachdem er die Mauern hatte fallen sehen, hatte er sich in die Wohnung seines Dads geflüchtet. Dort hatte er seine Mutter angetroffen. Sie hatte mit einem Whiskyglas in den zitternden Händen auf dem Sofa gesessen. Stück für Stück kam die Geschichte heraus. Anscheinend hatte John Stanford die Geduld verloren. Plötzlich waren draußen Bauarbeiter gewesen. Und in ihrer Wohnung Rechtsanwälte mit Urkunden, die besagten, dass es nicht mehr ihre Wohnung war. Lucy Gallagher hatte keine Zeit gehabt, sich zu wundern, wie Stanford das zuwege gebracht hatte. Sie packte zusammen, was in ihr Auto passte, dann rückte die Abrissmannschaft an. Von den geretteten Sachen gehörten, wie sich herausstellte, die meisten Ben.

Bens Vater war wie ein Fels in der Brandung. Es gelang ihm, zu lächeln und Witze zu machen. Bens Mutter wiederholte immer wieder, wie blöd sie gewesen war, dass sie jetzt alles verloren hätte, bis auf den letzten Penny. Dad weigerte sich, das einzusehen. Er redete von gerichtlichen Schritten, von Wiedergutmachung in Höhe von mehreren Millionen Pfund. Es stand außer Frage: Stanford hatte das Gesetz gebrochen. Jetzt konnten sie ihn packen.

Bens Mutter nickte. Sie glaubte nicht daran. Ben auch nicht.

Das Abendessen an diesem Tag war seltsam gewesen. Seine Eltern waren wieder zusammen. Zumindest saßen sie am selben Tisch. Doch niemand aß oder redete viel und sein Dad kämpfte darum, die gute Stimmung aufrechtzuerhalten. Sie waren nicht wieder zusammen. Seine Mum war nur hier, weil sie sonst keine andere Bleibe hatte. Sein Dad würde auf dem Sofa schlafen. Sie waren keine Familie. Sie waren drei Fremde, die Schiffbruch erlitten hatten und sich nun am selben Stück Treibholz festklammerten.

Der alte Autositz glich mit den kaputten Federn einem Nagelbett. Ben stieg aus und kletterte auf den Boden. Der Geruch nach Rost hing in der Luft. Er sah eine Metallstange aus einer Karosserie ragen und ruckelte und zerrte so lange daran, bis er sie in der Hand hielt. Stanford hatte sie vernichtet. Stanford und sein übler Freund Cobb. Ihr Leben hatte ihm so viel bedeutet wie das von Igeln, die benommen blinzelnd auf der Überholspur der Autobahn saßen. Jetzt war es vorbei.

Ben schwang die Stange wie einen Tennisschläger. Sie krachte in den Scheinwerfer des Volkswagens und Ben musste schützend die Arme vors Gesicht legen, als es Glassplitter regnete. Er schüttelte sie aus seinem Haar und zerschlug auch noch den anderen Scheinwerfer.

Er hob die Stange, drehte sich wie ein Kugelstoßer und ließ sie in eine Windschutzscheibe krachen. Das Glas zerbarst wie zerstoßenes Eis. Brüllend drosch Ben auf eine Tür ein, bis sie aussah wie zerknitterte Folie. Die Hände rostschwarz, schlug er auf die Autos ein, bis er keine Kraft mehr hatte. Die Stange fiel ihm aus der Hand und er sank auf die Knie.

Nach und nach kehrte sein gesunder Menschenverstand zurück. Auf Schrottautos einzudreschen war keine Antwort. Es war lediglich Vergeudung von Wut. Zitternd stand er auf.

Schon eine ganze Weile hatte eine Idee in seinem Hinterkopf geschlummert, aber er hatte sie gemieden wie ein verdächtiges Päckchen, das man lieber nicht öffnen wollte. Während eine fremde Macht ihn im Griff gehabt hatte, hatte er jemanden verletzt, den er liebte. Also gut. Wenn er schon Leute verletzen musste, konnte er sich wenigstens die richtigen aussuchen. Er besaß eine Waffe. Er hatte die letzten Monate gelernt, wie man sie benutzt. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sie wegzuschmeißen.

Ben holte tief Luft und nahm die Habt-Acht-Stellung ein. Seine Beine waren steif; seit vierzehn Tagen hatte er kein Pashki mehr gemacht. Nach ein paar Aufwärmübungen, die an seinen Sehnen zerrten wie die erste Sportstunde nach den Ferien, kniete er sich hin und ging seine Katras durch. Zunächst blieb alles dunkel. Nach einer Ewigkeit flackerte ein blaues Flämmchen auf seiner Iris. Er versuchte es mit den anderen, das grüne Mandira, das goldene Parda. Alles, was er sah, waren schwache Flecken, so als hätte er zu lange in helles Licht gestarrt. Was war los?

Er war aus der Übung. Das war alles. Das Beste war, wenn er wieder ganz von vorn anfing, mit den Grundlagen von Pashki. Er suchte sich eine freie Übungsstrecke auf dem Schrottplatz und durchlief sie im Eth-Gang, wobei er sich bei jedem Schritt dünne Pfosten unter den Füßen vorstellte. Auf der halben Strecke kam er ins Wanken, stolperte über irgendetwas und fiel der Länge nach hin.

Lange Zeit lag er einfach nur da, einen Keilriemen um den Knöchel gewickelt. Aus der Übung? Von wegen.

Es war viel schlimmer. Der einfache Eth-Gang hatte ihn zur Strecke gebracht. In seinem Kopf hatte er die Pashki-Bewegungen alle parat, aber seine Muskeln streikten.

Er versuchte ein letztes Mal ein Katra heraufzubeschwören, sah jedoch nichts als das Schwarz seiner Augenlider. Es war, als sei sein Mau-Körper verkümmert wie ein Muskel, der nicht gebraucht wird.

Ein Geräusch ließ ihn zusammenschrecken. Sein Handy. Er fischte es aus der Tasche und sah auf das Display. Tiffany. Der James-Bond-Klingelton dudelte vor sich hin. Bei der vierten Wiederholung verstummte er.

Mit einem wütenden Aufschrei– Wut auf sich selbst, auf alles– schleuderte Ben das Handy in den Schrottberg.