Das Geheimnis der Mutterkatze 14

»Ben…« Ein leises Klicken. »zurzeit nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Pfeifton

Tiffany legte auf. Das war’s dann wohl. Sollte sie je noch einmal die Möglichkeit haben mit ihm zu sprechen, würde sie es nicht tun. Der einzige Mensch, von dem sie geglaubt hatte, sie könnte sich auf ihn verlassen, hatte sie im Stich gelassen.

Sie checkte ihre Mailbox für den Fall, dass ihre Eltern (oder Ben) versucht hatten, sie anzurufen. Hatten sie nicht. Eine richtige Mum oder ein richtiger Dad hätte sich inzwischen gefragt, wo sie abgeblieben sei, aber nicht ihre Eltern. Was sie kaum überraschte. Tiffany schaltete ihr Handy aus.

Als sie die Theobald-Anlage sah, ging sie schneller. Nachdem sie einen ganzen Tag lang unentschlossen hin und her überlegt und in Klamottenläden die Zeit totgeschlagen hatte, wusste sie jetzt, mit wem sie reden musste. Bitte, wünschte Tiffany, sei aus Indien zurück.

Sie erreichte den Eingang zu dem heruntergekommenen Wohnblock und drückte auf die Klingel. Das Ohr hielt sie nah an der Sprechanlage, falls jemand sich meldete. Sie läutete noch einmal und wartete lange. Nichts. MrsPowell war nicht da. Tiffany drehte sich um und schniefte; gleich würde sie losheulen. Sie blieb stehen. Atmete noch einmal bewusst ein. Ein vertrauter Geruch lag in der Luft. Sie hätte das Gefühl nicht in Worte fassen können, aber sie wusste, es war MrsPowell, so sicher wie sie sie auf einem Foto erkannt hätte. Sie hatte innerhalb der letzten zwölf Stunden an dieser Stelle gestanden.

Tiffany trat vom Eingang zurück und schaute hinauf zum obersten Stockwerk. Ihr Herz hüpfte vor Freude, als sie sah, dass das Balkonfenster offen stand. Vielleicht war MrsPowell nur rasch weggegangen, um Katzenfutter zu kaufen. Tiffany saß eine halbe Stunde auf der Eingangstreppe, dann vertrieb sie der Gestank aus dem Flur. Hier konnte man nicht bleiben. Sie dachte an das offene Fenster im fünften Stock. Es wäre dumm zu versuchen, dort hinaufzuklettern. Und sie hatte versprochen, nichts Dummes zu tun.

Im nächsten Moment rannte sie schon nach nebenan zum Sportzentrum. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre Pashki-Sachen in eines der Schließfächer zu legen, zum einen, weil es bequem war, und zum anderen, damit sie immer wieder üben konnte, ungesehen an dem Angestellten vorbeizukommen. Sie nahm die Sachen mit in eine Ecke des Umkleideraums, wo sie allein war, tupfte blaue und graue Farbe auf ihre Maske und drückte sie sich aufs Gesicht. So getarnt, nachtschwarz vom Hals bis zu den Knöcheln, schlüpfte sie durch den Notausgang und hinaus in die einbrechende Dämmerung.

Die Wohnungen der Theobald-Anlage hatten rechteckige Balkone, die aussahen wie riesige Blumenkästen aus Beton. Tiffany betrachtete sie und sie verwandelten sich vor ihrem geistigen Auge in eine Leiter.

Ein kurzer Sprint, und sie hatte den Hof überquert. Sie sprang zum untersten Balkon hinauf und zog sich, nach einem Augenblick panischen Strampelns, hoch. Dann balancierte sie auf der Brüstung und arbeitete ihre Route aus. Sie würde zu dem Balkon hinaufspringen müssen, der schräg über ihr lag, eins weiter und eins hoch, und sich so im Zickzack bis ganz nach oben arbeiten.

Die Sprünge waren gewagt. Sie riskierte ziemlich unnötig ihr Leben, aber an einen Rückzieher war überhaupt nicht zu denken. Ihre Nerven brannten mit demselben Feuer, das im Park von Hampstead Heath fast zur Katastrophe geführt hätte: die sture Entschlossenheit von Katzen, zu Ende zu bringen, was sie angefangen hatten, und wenn es ein noch so unbedachtes Abenteuer war.

Ein Sprung, ein mächtiger Adrenalinschub, dann hing sie an der nächsten Balkonbrüstung und lag nicht mit gebrochenen Knochen auf dem Boden. Das war schon mal gut. Ein Schauer überlief sie auf ihrem Hochsitz. Sie sammelte ihre Kräfte. Genau derselbe Sprung noch einmal. Dritter Stock. Sie kam nun in einen gewissen Rhythmus hinein. Auf der vierten Brüstung rutschte sie aus, tat es aber so leichthin ab, als sei sie auf einer Treppe gestolpert.

Mit einer frechen Pirouette übersprang sie die Brüstung zu MrsPowells Balkon. Treppen, wer brauchte die schon? Sie griff durch das offene Fenster, entriegelte die Balkontür und schob den Vorhang beiseite. Als ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah sie einen Raum, in dem sie noch nie gewesen war. Ein Bücherregal, ein Fernseher und ein altmodischer Plattenspieler standen darin. Jims Geruch hing in der Luft und seine Haare überzogen das Sofa wie Raureif. Sie hoffte, MrsPowell nahm es ihr nicht übel, dass sie sich einfach so in die Wohnung schlich.

»Nicht Worte und nicht Wände hindern mich«, sagte Tiffany laut. Sie nahm einen Prospekt mit ein paar Tigerfotos vom Couchtisch. Es war ein aufwendig gestaltetes Rundschreiben über das Periyar-Reservat in Kerala. Das musste der Wildpark sein, den MrsPowell besucht hatte. Gierig saugte Tiffany die Bilder vom indischen Regenwald auf, von geflammten Raubkatzen, die durch die Blätter strichen, und vergaß ihre Sorgen in einem kurzen Tagtraum. MrsPowell hatte gesagt, sie sei Schirmherrin des Parks. Tiffany konnte ihren Namen aber nirgendwo finden. Sie legte den Prospekt wieder auf den Tisch und mit einem Schlag standen ihr alle Haare zu Berge.

Auf dem Couchtisch lag eine Ausgabe des Wissenschaftsmagazins New Scientist, die vorher von dem Prospekt verdeckt gewesen war. Die Mittelseiten waren aufgeschlagen. Tiffany brauchte kein Wort zu lesen, um zu wissen, wer der Mann auf dem ganzseitigen Foto war. Es war Dr.J. Philip Cobb in einem weißen Labormantel und mit einem Arzneiglas in der verkümmerten linken Hand.

Sie konnte die Zeitschrift nicht ruhig halten. Und sie schien mit einem Mal das Lesen verlernt zu haben. Holpernd hetzte sie durch den Artikel, wie man im Traum vor Vampiren flieht, und bekam nur Bruchstücke mit: sensationelles Wundermittel zur Nahrungsergänzung… bahnbrechende Forschungsergebnisse… Panthacea… Natur pur! bald expandieren. Ein mehrere Millionen teures, neues Labor.

Es war nicht der Artikel selbst, der den Kurzschluss in ihrem Gehirn verursachte, sondern die Tatsache, dass sie ihn hier gefunden hatte.

Das Sofa knarrte, als sie sich schwer darauffallen ließ. In ihre Gedanken, die sich zusammengeballt hatten wie Packeis, kam wieder Bewegung. Bald purzelten sie nur so durcheinander. Warum hatte MrsPowell einen Artikel über Dr.Cobb gelesen? Was hatte Dr.Cobb zu Stanford gesagt?

»Woher ich sie alle habe? Private Sammler. Importe. Den einen oder anderen habe ich jetzt schon seit Jahren…«

Auf eine schreckliche Art ergab alles einen Sinn. Wenn Cobb immer wieder Raubkatzen importieren musste, welchen besseren Ratgeber gab es da als jemanden, der die Tiere wirklich verstand? MrsPowell wohnte in Sichtweite der leer stehenden Fabrik. Und sie hatte Zugang zu den Tieren, die Cobb brauchte.

Tiffany sprang vom Sofa auf. Sie hatte das Gefühl, als rückten die Wände immer näher und zerquetschten sie. Konnte MrsPowell wirklich mit diesem Monster gemeinsame Sache machen? Es war unmöglich. Es war undenkbar. Es war… Es bedeutete, dass sie verschwinden musste. Auf der Stelle.

Nach Atem ringend stürmte sie auf den Balkon. Ein Blick über die Brüstung sagte ihr, dass es aussichtslos war. Wenn sie vorher keine Angst gehabt hatte, jetzt hatte sie welche. Auf demselben Weg hinunterzuklettern, auf dem sie heraufgekommen war, wäre glatter Selbstmord. Sie rannte zurück in die Wohnung. Ihr blieb nur das Treppenhaus. Im Zimmer war es dunkler geworden, so als seien die Batterien ihrer Katzenaugen plötzlich schwächer. Die Tür ging erst auf, nachdem sie einmal kräftig daran gezogen hatte (der Teppich hatte sich daruntergeschoben), dann stand sie im Flur. Die Wohnungstür– war sie rechts oder links?

Bevor sie sich für eine Seite entscheiden konnte, wurden ihr durch einen niedrig angesetzten Tritt die Beine unter dem Körper weggerissen. Eine Gestalt, die sie nicht sehen konnte, presste sie auf den Boden und drückte ihr das Knie ins Kreuz.

Tiffany wand sich und schrie. Und stellte überrascht fest, dass der Druck nachließ.

»Tiffany Maine! Was in Anubis’ Namen machst du hier?«

Tiffany kroch rasch ein Stück weg, bevor sie sich zu der dunklen Gestalt umdrehte. »N-nichts. Ich wollte gerade gehen.«

MrsPowell hob abwehrend eine Hand. »Du weißt, dass ich für solche Spielchen keine Geduld habe. Spar dir das und komm auf den Punkt.« Sie knipste das Licht an und zog den Gürtel an ihrem Morgenrock enger. Darunter trug sie einen Pyjama. Ihr Haar war völlig zerzaust, doch ihr Gesicht hatte eine gesunde Bräune. »Nun?«

Schweigen wäre sicherer. Dann würde sie lediglich weggeschickt und dürfte nie mehr wiederkommen. Aber Tiffany musste es wissen.

»Haben Sie…«, flüsterte sie. »Sind Sie… Gehören Sie dazu?«

»Wozu?«, fragte MrsPowell scharf zurück.

»Natur pur. Dr.Philip Cobb. Panthacea. Machen Sie da mit? Bitte sagen Sie…« Tiffany schluckte. »Bitte sagen Sie, dass Sie nichts damit zu tun haben.«

MrsPowell schaute ihr in die Augen.

»Ich habe nichts damit zu tun«, antwortete sie. »Gibt es sonst noch etwas, wenn du schon hier bist?«

Die Erleichterung, die sie durchströmte, war so groß, dass sie hätte weinen können. »Dann helfen Sie ihm also nicht? Sie haben mit diesem Mann wirklich nichts zu tun?«

»Du hast von ihm gehört.« Es war halb Frage, halb Feststellung. »Und von Panthacea?«

»Eine ganze Menge, ja.« Tiffany begann zu erklären, erzählte von Stuart und seiner Krankheit, dann hielt sie inne.

»Sprich weiter.«

»Es tut mir leid«, sagte Tiffany. »Sie haben gesagt, wir sollen zusehen, dass wir keinen Ärger kriegen.«

Die Geschichte zu erzählen, bedeutete körperliche Anstrengung für sie. Sie berichtete, was passiert war, als sie und Ben Stanford gefolgt waren. Wo sie gelandet waren, was sie gesehen hatten. »Ich musste mit jemandem reden«, schloss sie. »Sie waren die Einzige, von der ich hoffte, dass Sie mir helfen könnten. Aber dann habe ich diesen Artikel über Dr.Cobb auf Ihrem Tisch gesehen und…«

»Du hast angenommen, dass ich ihn persönlich kenne«, sagte MrsPowell. »Die Logik junger Menschen. Wenn ich also ein Poster von Elijah Wood in deinem Schlafzimmer sehen würde, würde das bedeuten, dass er dein Freund ist, ja?«

Tiffany wurde rot. Träumen war ja wohl noch erlaubt.

MrsPowell lächelte liebevoll. »Komm, Mädchen.« Sie ging voraus in die kleine, aber blitzsaubere Küche und stellte den Wasserkocher an. Jim erschien, tschilpte, als er Tiffany wiedererkannte, rieb sein silbernes Fell an ihren Waden und schnurrte wie ein Bulldozer.

»Gib ihm was davon.« MrsPowell hielt ihr einen blassgelben Brocken Parmesan hin. Tiffany fütterte Jim mit dem Käse, den er genüsslich vertilgte. MrsPowell goss Tee ein und gab Jim ein kleines bisschen, verdünnt mit Milch, in eine Untertasse. Dann setzte sie sich an den Küchentisch.

»Und jetzt«, sagte sie, »noch mal der Reihe nach: Cobb hat sich in dieser alten Fabrik verschanzt?«

»Ja«, erwiderte Tiffany. »Dort arbeitet er. Ich weiß nicht, ob er dort auch schläft oder ob er dazu nach Hause geht.«

»Wenn er es wirklich ist, schläft er überhaupt nicht. Oder so gut wie nie. Jedenfalls nicht genug, dass er sich die Mühe machen müsste, ein Bett zu kaufen.«

»Woher kennen Sie ihn? Wer ist er?«

»Ich bin ihm seit Jahren auf der Spur«, antwortete MrsPowell. »Er hat früher schon solche Sachen versucht, wenn auch nichts derart Abscheuliches. Das letzte Mal ist es mir und ein paar Freunden gelungen, seinen Plan zu vereiteln. Danach ist er verschwunden. Vor zwei Jahren dann habe ich gehört, dass er wieder in London sei. Ich habe diese Wohnung gekauft, damit ich ihn beobachten und abwarten und mich vorbereiten konnte. Und jetzt stellt sich heraus, dass ich Recht hatte. Nur allzu Recht. Er hat sich zu früh aus der Deckung gewagt.«

»Was meinen Sie damit?«

MrsPowell stellte ihre Teetasse ab. Ihr strenges Gesicht wurde weich und für einen Moment sah Tiffany nichts als Traurigkeit darin.

»Du wolltest vorhin von mir hören, dass ich nichts mit Dr.Cobb zu tun habe«, sagte sie und blickte Tiffany in die Augen. »Aber das stimmt leider nicht, Tiffany. Ich habe sehr viel mit ihm zu tun.«

Tiffanys Tasse klirrte auf der Untertasse.

»Dieses Stück menschlicher Dreck… dieser ranzige Abschaum…«, MrsPowell holte tief Luft, »ist mein Sohn.«

»Du musst dir mich mit zweiundzwanzig Jahren vorstellen«, sagte MrsPowell und fuhr sich mit den Fingern durch das graue Haar. »Ganz schön schwierig, was?«

Tiffany brachte keinen Ton heraus und MrsPowell fuhr fort.

»Wir waren ein freiheitsliebendes Pärchen, Terence und ich. Wir gehörten nicht zu den Leuten, die sich in einem gemütlichen Häuschen niederlassen. Und ich wurde auch nie MrsCobb. Ich ging meine eigenen Wege und ein Ort war für mich wie der andere.«

Der Satz kam Tiffany bekannt vor. Natürlich! Rudyard Kipling. Das Dschungelbuch.

»Ich bekam James, als wir mit dem Rucksack auf Weltreise waren. Ja, sein richtiger Name ist James. Wir nahmen ihn einfach mit, ein Stück Gepäck mehr. Er wohnte auf Flughäfen und in billigen Hotels und war mit vier Jahren noch nicht ein einziges Mal in England gewesen. Er hat jede Minute genossen.

Die längste Zeit, die wir an einem Ort blieben, waren acht Monate in Sri Lanka. Ich war schon immer fasziniert von Katzen und hatte Arbeit im Yala-Colombo-Nationalpark gefunden, wo man sich für ein Leoparden-Schutzprogramm einsetzt. Terry hatte sich damit abgefunden, dass seine Freundin ein bisschen verrückt war. Meine Begeisterung für Katzen hat er nie verstanden. Von Pashki habe ich aber natürlich erst viel später gehört. Obwohl das, was dann passiert ist, mich fast zwangsläufig auf diesen Weg brachte.

Es war alles meine Schuld. Das habe ich nie abgestritten. Ich war ein verantwortungsloser Wildfang. Habe nie Schuhe oder Socken getragen und mich immer wieder an Glasscherben verletzt. Habe überall Wasser aus dem Hahn getrunken und bin davon oft krank geworden. Und ich ließ James spielen, wo immer er wollte, mit den einheimischen Kindern, die eben gerade da waren. Ließ ihn selbstständig werden, so wie ich es war. Das hat Terence oft wahnsinnig gemacht.«

MrsPowells Stimme klang trocken. Sie schenkte sich Tee nach und leerte die Tasse in einem Zug.

»Eines Tages war ich im Leopardengehege und half, ein Tier mit einem eiternden Ohr ruhig zu stellen. James war natürlich nicht dabei, so dumm war ich dann doch nicht. Er war vor dem Zaun und spielte mit einer Kokosnussschale. Ich hatte vergessen, dass am anderen Ende des Geheges drei Leopardenbabys herumliefen.

Der arme Jamie! Er streckte seinen Arm durch den Zaun, um die Kleinen zu streicheln. Das Kätzchen, das er sich ausgesucht hatte, schien merkwürdigerweise absolut nichts dagegen zu haben. Es war die Mutter, die etwas dagegen hatte.

Wie der Blitz war sie am Zaun und hatte Jamies Arm zwischen den Zähnen. Eine Sekunde länger und sie hätte ihn abgerissen. Ich habe ihn schreien hören…« MrsPowell hielt inne und schloss kurz die Augen. Dann fuhr sie fort: »Ein Schrei, den ich nie vergessen werde. Ich lief hin und schlug dem Muttertier mit meinem Stock ins Gesicht. Um ein Haar hätte sie ihr Augenlicht verloren. Etwas, was mir heute noch leidtut. Sie war doch genau wie ich nur eine Mutter, die ihr Kind beschützt.

Die Ärzte wussten nicht, ob James durchkommt. Sein Arm sah aus, als sei er durch den Fleischwolf gedreht worden. Als sein Zustand endlich einigermaßen stabil war, brachte Terence ihn nach England und verbot mir mitzukommen. Die Chirurgen in London konnten den Arm retten, doch er ist nie richtig mitgewachsen.«

»Und Sie haben Ihren Sohn nie mehr wiedergesehen?«, fragte Tiffany leise.

»Doch, aber sicher. Man kann einer Mutter nicht verbieten, ihren kranken Sohn zu sehen. Ich wartete in Sri Lanka, bis ich es nicht mehr aushielt, also genau vier Tage, und dann habe ich meine letzten Ersparnisse zusammengekratzt und einen Direktflug gebucht. Ich habe ihn jeden Tag im Krankenhaus besucht.«

Tiffany bekam eine Gänsehaut, als sie an Stuart dachte.

»Ich habe seine Genesung miterlebt. So lange«, MrsPowell lächelte bitter, »bis Terence mit einem Gerichtsbeschluss daherkam. Der besagte, dass ich James nicht mehr unbeaufsichtigt sehen durfte. Es hieß, ich sei erziehungsunfähig. Und ich habe ihnen geglaubt. Ich ließ mich aus seinem Leben ausschließen. James gab es nicht mehr. Terence benutzte nur noch seinen zweiten Vornamen. Er sagte, ihm hätte Philip ohnehin immer besser gefallen als James. Ich bitte dich! Wem gefällt schon Philip besser?«

»MrsPowell«, sagte Tiffany, »ich hab da was gelesen. Auf der Webseite von Dr.Cobb wird auch der Unfall erwähnt. Es heißt, seine Mutter sei dabei gestorben.«

»Das erzählt er den Leuten. In gewisser Weise stimmt es ja auch. Sein Vater sorgte dafür, dass James– sorry, Philip– immer wusste, wer die Schuld an seiner Behinderung trägt. Wahrscheinlich war er irgendwann davon überzeugt, ich hätte ihn absichtlich einem Leoparden zum Fraß vorgeworfen. Er hat gelernt, mich genauso zu hassen und zu fürchten, wie er Katzen fürchtet und hasst.«

»Aber wenn er so große Angst vor ihnen hat, wie hält er es dann mit einer ganzen Fabrikhalle voller Katzen aus?«, fragte Tiffany.

»Sie können ihm jetzt nichts mehr tun«, antwortete MrsPowell. »Er benutzt sie, er quält sie, und sie machen ihn reich und berühmt. Es gibt ein Wort dafür, nicht wahr? Man nennt es Rache.»

Die Küchenfenster waren zu gespenstischen Spiegeln geworden, als drückte die Dunkelheit von außen dagegen, damit das Licht von drinnen nicht hinauskonnte. Tiffany und ihr bleiches Spiegelbild starrten sich an. Minuten waren vergangen, seit MrsPowell aufgehört hatte zu reden. Wie spät war es? Sie sollte zu Hause Bescheid geben.

»Und was jetzt?«, hörte sie sich fragen.

»Ich gehe heute Nacht los«, sagte MrsPowell. »Es bringt nichts, länger zu warten.«

»Aber was wollen Sie tun?«

MrsPowell war aufgestanden und wollte die Küche verlassen. Jetzt hielt sie noch einmal inne.

»Was ich tun will? Ihm das Handwerk legen natürlich.«