Kampf oder Flucht 16
Das helle Sirren einer Stechmücke drang an Tiffanys Ohr. MrsPowells Notruf. Der bedeutete: Verschwinde! Cobb war nicht anzusehen, dass er etwas gemerkt hatte. Entsetzt duckte sich Tiffany tiefer unter das schützende Tuch. Sie konnte jetzt nicht weglaufen, noch nicht.
MrsPowell schüttelte traurig den Kopf. »Ist das eine Art, seine Mutter zu begrüßen?«
Cobb hielt die Pistole, ohne zu zittern. Er schien seinen Schock überwunden zu haben.
»Ach, wir haben fünfzig Prozent unseres genetischen Codes gemeinsam«, erwiderte er. »Tut mir leid, wenn ich deshalb nicht gleich sentimental werde. Warum kannst du nicht aufhören, mich zu verfolgen?«
»Weil ich keine andere Wahl habe. Solange du meine Mitgeschöpfe verfolgst, James, werde ich da sein, wann immer du dich umschaust.«
»Ich heiße Philip.« Mit geübtem Griff spannte er den Hahn der Pistole. »Du bist also immer noch verrückt nach den lieben kleinen Katzen, wie ich sehe. Hast du dich schon mal im Spiegel angeschaut?« Er gluckste. »Du alte Hexe. Du glaubst, dass ich das aus reiner Bosheit tue? Zu deiner Information: Ich lindere das Leiden Tausender von Menschen.«
Tiffany hört die Unruhe im anderen Teil der Fabrik. Auch die Katzen hatten MrsPowells Warnschrei gehört.
»Du linderst kein Leiden«, sagte MrsPowell. »Du verlagerst es nur auf Geschöpfe, die du noch mehr hasst als die Menschen.«
»Katzen zu hassen ist ein Zeichen von Größe«, sagte Cobb. »ElisabethI. hat sie verabscheut. Napoleon genauso. Und Mussolini.«
»Tyrannen«, entgegnete MrsPowell. »Interessant, nicht wahr? So viele Tyrannen fürchten Katzen. Weil Katzen sich weigern, sie zu fürchten. Sie kämpfen oder sie fliehen. Aber sie kuschen niemals.«
»Manche Leute haben noch andere gute Gründe, Katzen zu hassen.«
»Ich weiß, Philip.« MrsPowell machte einen Schritt auf ihn zu, dabei hob sie die Hände. »Und es tut mir leid. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie leid es mir tut. Es war meine Schuld. Und ich habe dafür bezahlt.«
»Das glaube ich kaum.«
»Wirst du nie akzeptieren können, dass es ein Unfall war?« MrsPowell kam noch näher. »James, Philip, egal, ob es dir etwas bedeutet oder nicht, du bist nun einmal mein Sohn und ich habe dich geliebt.«
»Bleib stehen!«
»Was dein Vater dir erzählt hat, stimmt einfach nicht. Wie sind wir zu Feinden geworden, Philip? Ich wollte dich großziehen, für dich sorgen, dir so viel beibringen…«
»Rühr mich nicht an!« Er wich zurück, als ihm seine Mutter die Hand auf die Schulter legte. Hektisch richtete er den Pistolenlauf auf ihr Gesicht und MrsPowell machte einen Schritt rückwärts.
»Es tut mir leid.« MrsPowell ließ den Kopf hängen. »Du hast Recht. Ich hätte nicht herkommen dürfen.« Sie fingerte an ihrem Gürtel herum.
Tiffany hielt den Atem an. Sie wusste, was ihre Lehrerin getan hatte. Als sie Cobb die Hand auf die Schulter gelegt hatte, war ihre andere Hand über seinen Mantel gestrichen. Hatte sie ihm in die Tasche gegriffen? Hatte sie gerade etwas in ihrem Gürtel verschwinden lassen? Es konnte nur der Schlüssel zu den Käfigen sein.
Ein zartes Licht schien durch Tiffanys Verzweiflung. Dass MrsPowell so raffiniert sein könnte, hätte sie nicht im Traum gedacht.
»Nein, ich bin froh, dass du gekommen bist«, erwiderte Cobb. »Du warst der einzige Mensch auf der Welt, der mein Unternehmen hätte zum Scheitern bringen können. Jetzt kann ich dich dahin stecken, wo alle gefährlichen Tiere hingehören.« Er wedelte mit der Pistole. »Los!«
»Warum? Was ist da drüben?«
»Leere Käfige, Mummy. Du teilst die Gefangenschaft deiner Freunde. Es wird dir gefallen. Bestimmt isst du auch dasselbe Futter.«
»Du hast schon bessere Witze gemacht.«
»Ich habe jetzt wirklich keine Lust mehr, mit dir zu reden«, sagte Cobb. »Abmarsch. Aber schön langsam.«
MrsPowell gehorchte. Cobb dirigierte sie in Richtung Vorhang.
Tiffany drückte die Daumen. War das ihr Plan? Sich in einen Käfig sperren zu lassen und ihn später selbst wieder aufzuschließen? So musste es sein. Tiffany hätte laut jubeln können über so viel Mut und Gerissenheit.
»Durch den Vorhang!«, befahl Cobb. MrsPowell drückte die Plane weg und trat durch. Diese schwang zurück, bevor Cobb ihr folgen konnte. Einen Augenblick lang sah er nichts.
»Halt!«, rief er. »Stehen bleiben!« Er schob sich rasch durch den Vorhang und wedelte mit der Waffe herum. »Bleib sofort…«
Ein Schuss löste sich.
MrsPowell, die ein paar Schritte vor ihm war, wankte, als sei sie von einem Baseballschläger getroffen worden, und fiel zu Boden. Ein roter Fleck breitete sich auf dem Beton aus wie Tinte auf Löschpapier.
Tiffany keuchte. Ein Aufschrei war in ihrer Kehle stecken geblieben. MrsPowell rührte sich nicht. Tiffany klammerte sich an das Geländer der Galerie. Bitte steh auf! Bitte bewege dich! Bitte sei nicht tot!
Cobb stand da wie versteinert. Er blickte auf seine Hand, als gehörte sie nicht zu ihm. Die Pistole war neben MrsPowell auf den Boden gefallen. Das Blut breitete sich schnell aus. Schon war es bei der Waffe angelangt und begann sich um den Lauf herum zu verteilen. Rufe und Schritte hallten durch den Raum.
»Dr.Cobb! Alles in Ordnung? Was ist passiert?«
»Äh…« Cobb löste sich aus seiner Erstarrung. Für den Augenblick war er vor Blicken geschützt; auf der einen Seite deckte ihn der Vorhang, auf der anderen standen Kisten. »Nichts passiert! Alles in Ordnung, Frank! Ich… Ich habe nur meine Waffe getestet. Das tue ich einmal pro Woche. Tut mir leid, wenn ich euch erschreckt habe.«
»Recht so, Sir.«
Tiffany erhaschte einen Blick auf einen bärtigen Wachmann und seinen Partner in grüner Uniform, die auf ihre Posten zurückschlenderten und sich die nächste Zigarette ansteckten.
Cobb konnte den Blick nicht von dem Körper auf dem Boden abwenden. Tiffany auch nicht. Sie wischte sich die Tränen ab, die Schminke verteilte sich auf ihren Händen. Eine Stimme in ihrem Kopf stöhnte: Verschwinde. Hau ab. Aber jetzt war ohnehin alles egal. Lautlos schluchzend kniete sie auf dem Boden der Galerie.
Erst als sie Stimmen hörte, kam sie wieder zu sich. Jemand hatte die Fabrik betreten.
»Das machen die nur für Sie, Sir«, sagte eine raue Stimme.
»Und das weiß ich sehr zu schätzen«, erwiderte eine glatte mit leichtem Akzent. »Aber wir können unseren Freund, den Wissenschaftler, ja wirklich nicht zu lange ohne Aufsicht lassen, nicht wahr? Nicht, wenn so viel auf dem Spiel steht. Das ist unsere Versicherung, Toby, unsere Versicherung.«
»Genau.«
John Stanford trat ins Licht. Hinter ihm ging ein Riese von einem Mann, viel größer als Tiffanys Dad, mit breiten Schultern wie ein Elchbulle. Sein rasierter Schädel war von weißen Narben überzogen. Dem Riesen folgten in respektvollem Abstand drei weitere Gorillas, fast genauso groß. Ihre versteinerten Mienen ließen keinen Zweifel daran, dass sie um diese Zeit eigentlich in ihrer Stammkneipe hätten sitzen wollen.
»John!«, rief Cobb hinter dem Vorhang hervor. »Guten Abend! Kann ich Sie kurz sprechen?«
»Jederzeit.« Stanford wandte sich an seinen Bodyguard. »Toby, bring die Jungs erst mal zur Ladezone.«
»Zur Ladezone?«
»Genau. Ich hab mir was einfallen lassen dafür, dass sie heute Nacht rausmussten. In meinem Wagen sind Bier und Pizza.«
Toby grinste wie ein Kürbisgesicht. »Sie sind einfach klasse, MrStanford. Los, Jungs, kommt!«
Das Trio zog ab und Stanford suchte sich pfeifend einen Weg zwischen den Kistenstapeln hindurch.
»Dr.Cobb!«, rief er. »Sie können es jetzt allen sagen. Der Bauplatz ist geräumt, die Urkunden sind unterzeichnet, der Champagner ist kalt gestellt.« Die eisernen Vorhangringe ratschten, als er die Plane beiseite zog. »Und der Bauunternehmer sagt… Wer zum Teufel ist das?«
Es hätte Totenstille geherrscht, wären nicht die unruhigen Tiere im Hintergrund gewesen.
»Niemand, der uns noch Ärger machen könnte«, sagte Cobb schließlich.
»Niemand, der…« Stanford senkte die Stimme, sodass selbst Tiffany sich anstrengen musste, um ihn zu verstehen. »Ich habe meinen Sonntagabend geopfert und bin zu Ihnen herausgekommen, und jetzt finde ich hier, wie es aussieht, eine alternde Zirkusakrobatin, die vom Trapez gefallen ist. Cobb, ich muss gestehen, ich bin besorgt. Wer ist das?«
»Sie hieß Felicity Powell und war früher einmal meine Mutter.«
Stanford lockerte seine Krawatte. »Ist sie tot?«
Cobb sagte nichts.
Stanford sah die Pistole auf dem Boden liegen. Er straffte die Schultern. »Auf Wiedersehen, Dr.Cobb.«
»John, warten Sie…«
»Tut mir leid.« Stanford ging Richtung Vorhang. »Jetzt müssen Sie allein weitermachen. Ich habe noch nie auf dieser Risikoebene investiert.«
»Warten Sie!«, rief Cobb. »Lassen Sie es mich erklären, John! Es war kein richtiger Mord!«
»Notwehr? Sie haben eine alte Dame erschossen! Das übernehmen nicht einmal meine Rechtsanwälte.«
»Es ist kein Mord«, sagte Cobb, »wenn niemand etwas davon erfährt. Und es wird niemand etwas davon erfahren.«
Stanford zögerte. »Jetzt muss was verdammt Gutes kommen.«
»Diese Frau«, begann Cobb, »war allein. Krankhaft allein, verstehen Sie? Keine Freunde, keine Familie. Kein Job. Nicht einmal ein Bankkonto. So war sie ihr ganzes Leben lang. Allein. Sie war die Katze, die ihre eigenen Wege ging.«
»Sagen Sie das noch mal.«
»Rudyard Kipling«, erklärte Cobb. »Egal. Worauf ich hinaus will, ist, dass niemand sie vermissen wird. Keine Menschenseele wird merken, dass sie nicht mehr da ist.«
Oben auf der Galerie hing Tiffany am Geländer, als wären es die Stäbe vor einer Gefängniszelle. Stimmt nicht!, wollte sie rufen. Das stimmt alles nicht! Ihre Tränen tropften lautlos auf den Boden weit unter ihr.
»Das ist ein unbedeutender Zwischenfall.« Cobb lächelte. »Unsere Pläne bleiben davon völlig unberührt. Wir schaffen die Leiche weg und es ist, als hätte es sie nie gegeben.«
Stanford legte zweifelnd die Stirn in Falten.
»Sie haben doch schon so viel Geld, Mühe und Zeit investiert«, sagte Cobb mit schmeichelnder Stimme. »So eine Gelegenheit bietet sich nur einmal im Leben. Werfen Sie nicht alles weg.«
Stanford sah aus, als würde er gleich vor Wut explodieren. Schließlich murmelte er: »Hat sonst noch jemand die Leiche gesehen?«
»Niemand.«
»Dann soll es auch so bleiben.« Stanford zog sein Handy aus der Tasche. Tiffany verstand nicht, was er hineinmurmelte, doch als er auflegte, sah er ein klein wenig optimistischer aus. »Mein Mann wird dafür sorgen, dass wir nicht gestört werden. Jetzt sind Sie dran, Cobb. Schaffen Sie die Leiche weg.«
Philip Cobb betrachtete sie. »Ich kann nicht.«
»Sie können was nicht?«
»Ich kann sie nicht anfassen. Das müssen schon Sie machen.«
»Das darf doch nicht wahr sein!«, rief Stanford. »Sie haben die Schweinerei angerichtet, also beseitigen Sie sie auch!«
»Nein, John, hören Sie zu.« Cobbs Augen waren sehr groß und weiß geworden. »Sie verstehen das nicht. Ich kann dieses… dieses Ding einfach nicht anfassen.«
»Dann gehen Sie doch ins Gefängnis.«
»John, bitte! Ich entschädige Sie dafür.«
»Zwanzig Prozent mehr«, sagte Stanford sofort. »Zusätzlich zu dem, was ursprünglich ausgemacht war.«
»Zehn Prozent.«
»Zwanzig.«
»Gut«, seufzte Cobb.
»Es ist ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen. Geben Sie mir Ihren Mantel.«
»Was?»
»Auf diesen Anzug kommt kein Blut. Geben Sie ihn her!«
Cobb zog seinen Mantel aus und warf ihn ihm zu. Stanford wickelte ihn um MrsPowell und hob sie hoch.
»Nicht in meinen Wagen«, sagte er. »Das ist zu riskant. Lieber auf die Baustelle da draußen… Wir könnten Sie tief einbuddeln. Dann Zement drüberkippen. Vielleicht findet man sie eines Tages, aber nicht, solange wir leben.«
»Legen Sie sie erst mal in die Fleischkammer. Die ist gekühlt, da verdirbt nichts.«
»Dort gehen Ihre Leute ein und aus! Sie kann da nicht lange bleiben.«
»Wird sie auch nicht«, erwiderte Cobb. »Ich hab’s mir gerade überlegt. Für die Raubkatzen wird es Zeit, auf ein neues Futter umzusteigen.« Er lachte plötzlich so hysterisch, dass Stanford vor ihm zurückwich.
»Wenn sie mit ihr fertig sind«, kicherte Cobb, »ist nichts mehr übrig, das irgendjemand finden könnte.«
Als Tiffany hörte, was Cobb vorhatte, packte sie ein solches Entsetzen, dass sie in Ohnmacht fiel. Das Nächste, woran sie sich deutlich erinnerte, war, dass sie zitternd im Dunkeln kauerte, als sei sie mitten in der Nacht in einer Badewanne voll kaltem Wasser aufgewacht. Dann traf sie mit voller Wucht die Erkenntnis: Ein Mensch war tot, etwas unaussprechlich Schreckliches war geschehen, und sie war ganz allein. Sie sehnte sich nach ihren Eltern, die sie nach Hause holen sollten. Warum kamen sie denn nicht? Was hielt sie ab? Ein Ruck. Sie setzte sich auf. Sie durfte nicht eindösen und träumen.
Ein schneller Blick von der Galerie durch den Raum zeigte, dass ihrer Flucht kaum etwas im Wege stand. Die oberen Ebenen wurden nicht kontrolliert. Sie brauchte nur den Weg zu finden, auf dem sie hereingekommen war, und darauf zu vertrauen, dass sie ihre Pashki-Fähigkeiten nicht im Stich ließen. Sie sammelte sich, um danach gleich loszurennen, zögerte dann aber. Der Gedanke, sich einfach so aus dem Staub zu machen, war unerträglich. Irgendwie erschien ihr das noch schlimmer, als hierzubleiben. Hierherzukommen, zu sehen, wie MrsPowell erschossen wurde, und wieder zu verschwinden, sich geschlagen zu geben… Das wäre zu erbärmlich, um es in Worte zu fassen.
Ein Gedanke kam ihr. Sie versuchte ihn zunächst zu unterdrücken, aber er nahm immer deutlicher Gestalt an. Vielleicht konnte sie ja doch etwas tun. Es war zu spät, um MrsPowell zu retten. Aber da war noch der Schlüssel. Felicity hatte ihr Leben riskiert, um an den Schlüssel für die Käfige zu kommen– den Schlüssel, den sie jetzt irgendwo am Körper trug. Tiffany konnte ihn holen, ein andermal zurückkommen und vollenden, wozu sie beide aufgebrochen waren.
Der Plan war da. Auch wenn er sie zu Tode erschreckte, wusste sie, dass sie ihn in die Tat umsetzen musste. Was immer in dieser schrecklichen Nacht noch geschah, sie konnte nicht zulassen, dass MrsPowell umsonst gestorben war.
John Stanford war verschwunden. Cobb kniete auf dem blutgetränkten Boden und schrubbte ihn mit Seifenwasser. Sie ging zum Schacht des Lastenaufzugs zurück und kletterte über die Wartungsleiter nach unten. Es würde nicht schwer sein, die Futterkammer zu finden– ihre Nase führte sie bereits in die entsprechende Richtung. Sie versuchte nicht lange darüber nachzudenken, was sie tun würde, wenn sie dort war. Sie würde MrsPowells Leiche nach dem Schlüssel absuchen müssen. Und wenn ihre Augen noch offen waren?
Auf allen vieren kroch sie in die zweite Halle. Käfigreihen bildeten trostlose Wege in alle Richtungen. Sie erinnerte sich an die Frauen, die ihre Wagen mit dem Fleisch hereingeschoben hatten. Sie waren von dort drüben gekommen. Ein paarmal in die Luft schnuppern und sie hatte die Bestätigung, auch wenn der Geruch aus den Käfigen so streng war, dass sie würgen musste. Trotz des Gestanks konnte sie die Hoffnungslosigkeit der Katzen riechen, die in der Luft lag.
»Wir holen euch hier raus. Bald!«, flüsterte sie, als sie an einer Raubkatze vorbeiging, die zu verdreckt und schorfig war, als dass man hätte sagen können, um was für ein Tier es sich handelte. »Wir kommen zurück und holen euch raus, meine Freunde und ich.«
Die großen Ohren eines Luchses zuckten und drehten sich in ihre Richtung. Sie lief weiter und befahl ihren Füßen zu Federn zu werden. Es wäre schrecklich, wenn die Katzen selbst sie verraten würden. Von ihrem Versteck hinter einem gurgelnden schwarzen Plastikrohr sah sie in der gegenüberliegenden Wand eine Metalltür schimmern.
Verzweiflung überkam sie, als sie sah, wer davorstand.
»Niemand geht hier rein, ist das klar?«, sagte Stanford gerade. »Nicht einmal du.«
Toby nickte, ohne nachzufragen, wie ein Wachhund. Warum um alles in der Welt musste MrStanford immer noch mehr Sicherheitsleute hierherschleppen? Vielleicht traute er Dr.Cobb nicht. Es war wie Wachen, die Wachen bewachen, die Wachen… Tiffany zog sich zwischen die Käfige zurück. Wie sollte sie nur an diesem Gorilla vorbeikommen?
Ohne genau zu wissen, was sie eigentlich damit erreichen wollte, zog sie MrsPowells Pfeife heraus und blies viermal hinein. Iiiiiiiiip! Iiiiiiiiip! Iiiiiiiiip! Iiiiiiiiip!
Gitterstäbe klapperten, als die kleineren Katzen darauf reagierten. Ihre direkten Nachbarn begannen zu knurren. Die Unruhe schwappte wie eine Welle von Käfig zu Käfig, bis jede Katze, die noch die Kraft dazu hatte, fauchte und zischte und überzeugt war, dass irgendetwas sie bedrohte, das sie nicht sehen konnte.
»Dr.Cobb!« Ein Wachmann sprach in sein Funkgerät. »Mit den Tieren stimmt etwas nicht.«
Das Geräusch wuchs zu einem Grollen an. Es war, als erwachten die alten Maschinen der Fabrik knirschend zum Leben. John Stanford drückte sich an der Wand entlang.
»Cobb?«, rief er. »Was ist da los? Warum machen die das?«
Er lief zu der Metalltür zurück.
»Ich hab’s mir anders überlegt, Toby«, sagte er. »Du kommst mit mir. Wir warten in der anderen Halle, bis unser Professor sein Viehzeug wieder zur Vernunft gebracht hat.«
Tiffany ballte triumphierend eine Faust. Der Zugang zur Futterkammer war frei. Sobald Stanford und Toby weg waren, lief sie zu der Tür und zog am Riegel, zu aufgeregt, um auf das plötzliche, blutrot pulsierende Oshtis in ihrer Magengrube zu achten: Sie war noch immer nicht allein.
Eine Hand umklammerte wie ein Schraubstock ihren linken Arm. Vor ihr tauchte das bärtige Gesicht von Cobbs Sicherheitschef auf.
»Du! Wie bist du hier reingekommen?«
Panik überkam sie. Sie wehrte sich, aber er hielt sie mit eisernem Griff fest.
»Dr.Cobb! Wir haben einen Einbrecher geschnappt! Das hat die Tiere so unruhig gemacht!«
Als ihr der Name ins Ohr gebrüllt wurde, drehte sie durch. Sie wand sich und trat nach dem Mann. Er drehte ihr den Arm auf den Rücken. Sie schrie auf vor Schmerz und verfluchte ihre Dummheit. Rufus würde nie zulassen, dass man ihn so behandelte. Rufus würde…
»Autsch!«
Der Mann heulte auf, als Tiffany ihre Mau-Krallen in sein Bein schlug. Er ließ ihren Arm los und sie wirbelte herum und ratschte ihm über die Brust. Er starrte auf den Riss in seinem grünen Jackett, das jetzt in Fetzen herunterhing, und hielt sich den Oberschenkel wie ein Kind, das erste Bekanntschaft mit Bienen gemacht hat. Tiffany war bereits losgesprintet. Ein Funkgerät knisterte und der Wachmann schrie Zeter und Mordio.
»Ein Einbrecher im Zwinger! Alle Ausgänge sichern! Er hat ein Messer!«
Tiffany lief im Zickzack zwischen den Käfigen durch, angetrieben von einer Kraft, die mit Angst nichts mehr zu tun hatte. Diese Kraft rief nur immer: Raus hier, verschwinde, überlebe!
Sie brach durch den Vorhang genau an der Stelle, an der zwei grün uniformierte Wachmänner standen. Falls sie überrascht waren, weil der Einbrecher ein kostümiertes Schulmädchen war, ließen sie es sich nicht anmerken. Sie packten zu.
Wie eine Turnerin schlug Tiffany ein Rad und war außer Reichweite. Als sie sich aufrichtete, sah sie gerade noch, wie einer von Stanfords Furcht einflößenden Gorillas auf sie zugerannt kam. Es blieb nur noch Zeit, sich zu einem Ball zusammenzukrümmen und ihm vor die Füße zu rollen. Sie hatte das Gefühl, von einem Lastwagen angefahren worden zu sein, aber das Gebrüll, als der Mann der Länge nach zu Boden ging, sagte ihr, dass sie noch besser davongekommen war als er.
Tiffany sprang wieder auf, den ganzen Körper voller Prellungen, aber ansonsten heil, und rannte durch ein Labyrinth aus gelben Kisten. Ihr sank der Mut, als Schreie und Schritte von allen Seiten immer näher kamen. Der verstauchte Knöchel begann zu schmerzen.
Ich schaffe es nicht, dachte sie. Fast im selben Augenblick entgegnete eine Stimme, knapp und geschäftsmäßig: Doch, du schaffst es. Weil du musst.
Und dann wusste sie auch, wie. Hier irgendwo musste das Kabel sein, an dem sich MrsPowell heruntergelassen hatte. Innerhalb von Sekunden konnte sie daran hinaufklettern. Bis ihr jemand auf die Galerie und von dort auf den Steg gefolgt war, war sie bereits über alle Berge. Sie raste zwischen den Kisten durch, links, rechts, geradeaus. Ihre Katzensinne sagten ihr immer, wo ihre Verfolger waren, fast so, als hätte sie Radarschirme im Kopf. Nicht hier entlang. Nach links. Jetzt hier hinauf. Warte, bis er vorbei ist.
Dann stellte sich eine breite Gasse als Sackgasse heraus. Auf drei Seiten war sie von Kistenstapeln umgeben. Sie machte kehrt und sah Philip Cobb mit einem Gewehr vor sich stehen.
»Ich nehme an, du bist eine Freundin meiner Mutter«, sagte er trocken. »Wie kann man bloß so bescheuert sein.«
Er stützte das Gewehr mit dem verkümmerten linken Arm und hob es an die Schulter. Tiffany schrie. Und sprang. Doppelt so hoch, wie sie groß war, und senkrecht in die Luft, dann mit einem Salto rückwärts auf die obersten Kisten. Der Stapel kam in Bewegung und sie fiel nach hinten herunter, schlug erneut einen Salto und landete auf den Füßen, eine schwankende gelbe Wand zwischen sich und Cobb. Das Echo ihres Schreis war noch nicht einmal verklungen, da war sie schon weiter. Sie sprintete über offenes Gelände, rang ihrem Mau-Körper das Letzte an Geschwindigkeit ab, und nur ein Gepard hätte sie jetzt einholen können.
Das Kabel hing von der Beleuchtungsanlage herunter. Einer von Stanfords Gorillas kam auf sie zugewalzt, aber er war zu langsam. Sie packte das Kabel, schloss die Augen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen, und sah sich in einer lächerlichen Rückblende: beim Hinaufhangeln am Seil in Miss Fullers Turnstunde. Aber das war in einem ganz anderen Leben gewesen. Sie schwang wie ein Seemann bei schwerem Wetter hin und her, während sie sich Hand über Hand hinaufarbeitete.
Dann hörte sie einen Knall. Und hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand in die Seite getreten. Ihre Hand rutschte an dem Kabel ab und sie schaute nach unten. Ihre Hüfte war ein einziger brennender Schmerz. War auf sie geschossen worden? Hatte er tatsächlich auf sie geschossen?
Plötzlich war sie todmüde. Ein Nebel legte sich auf die Pfeiler, die über ihr aufragten. Bevor es dunkel um sie wurde, sah sie noch einen Pfeil mit roten Nylonfedern an ihrer Seite baumeln. Ein Beruhigungsmittel.
Das Kabel glitt durch ihre Finger und sie fiel auf den Beton.