Verloren 17
Ben tippte auf den rechten Knopf. Der Flipper balancierte die Kugel auf der Nasenspitze wie ein Delfin. Ein blitzschneller Schlag und der Delfin wurde zum Tennisprofi, der die Kugel über die Rampe ins Rattennest katapultierte. Rote Lichtfontänen ergossen sich über das Spielfeld und sein Punktestand schoss nach oben.
»Das ist unfair!«, rief Raymond Gallagher. »Du kannst mich nicht an meiner eigenen Maschine schlagen!«
Ben grinste. »Pass auf.« Er packte den Tisch an der Ecke, hob ihn etwas an und neigte das Spielfeld so, dass die Kugel direkt am Rand des Loches stehen blieb.
»Mum-my!« Sein Vater heulte wie ein kleines Kind. »Der schummelt! Sag ihm, dass er das nicht darf!«
Lucy Gallagher stellte den Fernseher lauter.
»Und ob ich das darf. Es steht so in den Regeln«, erwiderte Ben. Er hämmerte auf den Flipperknöpfen herum, bis seine Finger wund waren. Sein letzter Treffer landete genau in der Mitte eines Bullseye Targets.
»Okay, Sohnemann.« Sein Dad ließ die Knöchel knacken und schubste ihn beiseite. »Du hast es nicht anders gewollt. Jetzt ist Krieg!«
»Klar, versuch dein Glück.«
»Das werde ich. Geh auf dein Zimmer!«
»Was?«
»Du hast mich gehört, Ben. Auf dein Zimmer! Ha! Das heißt, ich gewinne automatisch.«
»Von wegen!« Ben lachte, bohrte dem Vater die Finger zwischen die Rippen und kitzelte ihn. »Du kannst nicht mit väterlicher Autorität daherkommen! Das gilt nicht!«
»Dann zeig mir, wo das in den Rattenfänger-Regeln steht. Ich hab sie aufgestellt und ich kann sie jederzeit ändern. So, und jetzt geh auf dein Zimmer.«
»Nein!«
»Geh auf dein Zimmer und bleib dort, das ist mein letztes Wort.«
Das Spiel artete zu einem Freistil-Ringkampf aus. Ben wurde hochgehoben und neben seine Mum aufs Sofa gepflanzt. Die zog unter lautem Protest in den Sessel um.
»Kleine Jungs und ihr Spielzeug.« Aber das Lächeln um ihren Mund konnte sie nicht ganz unterdrücken. Ben sah die glänzenden Augen seines Vaters und sein Herz schlug plötzlich unerwartet schneller.
»Ich weiß ja nicht, was ihr beiden Kriminellen zum Abendessen erwartet«, sagte Mum. »Ich kann euch höchstens Eis aus dem Gefrierfach kratzen– was anderes scheint es in deinem Kühlschrank nämlich nicht zu geben, Ray.«
Dad schaute auf seine Uhr.
»Ray? Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
Es klingelte und Dad lief zur Tür. Eine Minute später erschien er wieder mit einer großen Papiertüte, aus der es herrlich duftete.
»Hähnchen Tikka Masala für dich, Ben? Hähnchen Dhansak mit Linsen, jawohl… und einmal Lamm mit Knoblauch-Joghurt-Soße und Zitronenreis. Dein Lieblingsessen, Lucy, stimmt’s?«
»Ray!«, protestierte Bens Mutter. »Du lässt Essen kommen? Darf ich dich daran erinnern, dass wir am Existenzminimum leben und uns eigentlich von Wasser und Brot ernähren müssten?«
»Brot? Sicher doch, zwei Fladenbrote sind auch dabei. Wo ist das Problem?«
»Aber das können wir uns nicht leisten… Ich meine, ich kann es mir nicht… Du kannst doch nicht von mir erwarten…« Das Kopfschütteln seiner Mutter wurde immer schwächer, je mehr sich der Duft aus der Tüte im Zimmer ausbreitete. »Ah, vergiss es. Hauen wir rein.«
Es war Monate her, seit es Ben so gut geschmeckt hatte. Er benutzte Papadams als Löffel, futterte Limettenpickles, bis ihm das Wasser aus den Augen schoss, und hörte erst auf zu essen, als er nicht mehr aufrecht sitzen konnte. Aber das Essen war nicht der Grund, weshalb er die Mahlzeit so genoss. Der Grund war, dass seine Eltern miteinander redeten. Das Gespräch drehte sich um nichts Besonderes (ein alter Freund, der nach Neuseeland ausgewandert war, das Fernsehprogramm), aber in seinen Ohren waren es die bedeutungsvollsten Worte, die er je gehört hatte.
Danach holte Mum ihre Handtasche, um ihren Anteil an dem Essen zu bezahlen. Dad machte eine abwehrende Handbewegung, und so bestand Bens Mutter darauf, wenigstens den Abwasch zu machen. Und Ben bot an zu helfen, was nicht nur die Eltern, sondern auch ihn selbst überraschte.
»Nimm besser ein frisches Geschirrtuch«, sagte seine Mum nach einer Weile. »Ich bin mir nicht sicher, ob Dad es in diesem Jahr schon mal gewechselt hat.«
Ben holte ein sauberes Tuch aus dem Schrank unter der Spüle.
»Danke.« Seine Mutter lächelte, noch etwas zögernd.
Ben merkte, dass er seit einer Minute einen Löffel abtrocknete.
»Mum, ich…«
»Ben, du weißt, dass ich…«, begannen sie beide gemeinsam.
Er beschloss es zu wagen. »Es… es tut mir leid wegen neulich.«
Seine Mum war so erleichtert, dass ihre Ellbogen im Seifenwasser versanken.
»Ich weiß. Du hast es nicht gewollt. Und ich auch nicht. Oh, Ben…« Sie nahm ihn in den Arm; Spülwasser tropfte ihm den Rücken hinunter. »Niemand sollte mitmachen müssen, was du mitgemacht hast. Ich habe so schreckliche Dinge gesagt. Es war zwar auch schlimm für mich, aber…«
»Ich weiß.« Ben schluckte. »Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid. Das war nicht ich. Und es wird… bestimmt nie mehr…«
Er erwiderte die Umarmung. Es würde alles gut werden. Sie würden das gemeinsam überstehen. Und wenn seine Mum ihm verzeihen konnte, konnte sie auch Dad verzeihen. Das würde sie wahrscheinlich gleich sagen. Dass sie Dad verziehen hatte. Und alles wieder so war wie vor vier Jahren. Er hielt sie fest und wartete. Er merkte, dass er dem leisen Brummen des Kühlschranks lauschte.
»Ben«, sagte sie.
Sie wusste, worauf er wartete. Und sie würde es nicht sagen. Zumindest nicht an diesem Abend. Sie lösten sich voneinander.
»Ich habe einer Freundin versprochen, dass ich sie anrufe«, sagte Ben und trat einen Schritt zurück. »Hast du was dagegen, wenn ich…«
»Nein. Mach nur.«
Er überließ ihr das Abwischen der Abtropffläche, setzte sich aufs Sofa und starrte das Telefon an. Auf dem Notizblock waren lauter durchgestrichene Nummern. Den ganzen Tag hatte er versucht, sich an Tiffanys Nummer zu erinnern. Er hatte sie nur einmal gewählt und dann gleich gespeichert– was ja auch praktisch war, es sei denn, man war so bescheuert und schmiss sein Handy in einen Schrottberg. Sie begann mit 07939…
Ben fühlte ich schlecht. Er hatte Tiffany im Stich gelassen. Vielleicht gab es ja tatsächlich keine Möglichkeit für sie, den armen Tieren zu helfen, aber sie hätten wenigstens darüber reden können. Tiffany hatte jemanden gebraucht und er hatte sie abgewiesen. Auch falls ihm ihre Nummer noch einfiel, würde er es ihr nicht übel nehmen, wenn sie nicht abhob.
Andererseits hatte sie vielleicht schon versucht, ihn auf seinem alten Handy anzurufen. Oder sie hatte ihn in seiner alten Wohnung, die es nicht mehr gab, gesucht. Es war ein Schock, als er feststellte, dass sie keine Möglichkeit hatte, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Er musste einfach auf ihre Telefonnummer kommen. Sie lautete 07939… 583… nein, 538. Dann eine Vier…
»Hey, Ben. Mach Platz, ich brauche das Sofa!«
Sein Dad stand mit einem Armvoll Decken und einem Kissen vor ihm.
Wenn das ein Traum war, war es einer ohne Bilder und Licht. Stimmen waberten durch die schwarze Tiefe.
…warum kriegen Sie das nicht in Ihren Kopf? Es ist aus und vorbei. Wir sind erledigt.
Ich weiß nicht, John, das ist Ansichtssache.
Vielleicht haben Sie Recht, was die alte Frau betrifft. Dass niemand sie vermisst. Aber das Mädchen… Man wird es suchen!
Ich habe den ganzen Tag Nachrichten gehört. Und von einem vermissten Kind war nie die Rede.
Noch nicht. Es ist erst vierundzwanzig Stunden her.
Die Stimmen gingen in einem Geräusch unter, das klang wie Wellen, die ans Ufer klatschen. Mit jeder Welle kamen pochende Schmerzen. Das Klatschen verebbte.
…braucht, glaube ich, bald wieder eine Spritze.
Das ist Kidnapping. Wir stecken bis zum Hals in der Scheiße.
Ach was. Das ist eine einzigartige Gelegenheit, John! Was wir hier haben, ist nichts anderes als eine menschliche Katze.
Herzlichen Glückwunsch, ich kann Ihnen nicht folgen.
Ein katzenartiges Wesen, wie meine liebe, dahingeschiedene Mutter. Wenn Sie glauben, Panthacea sei eine aufregende Erfindung, dann warten Sie, bis ich erst dieses Exemplar hier untersucht habe.
Um Himmels willen, sie geht doch noch zur Schule…
Für uns könnte sie Millionen wert sein, John. Ah, sie kommt zu sich.
Das Rauschen kam zurück.
Cobb, sie kann hier nicht bleiben.
Was für eine Art Traum war das?
Es hatte eine Stunde gedauert, bis Ben beide Teile seines zerbrochenen Handys auf Hamishs Autofriedhof wiedergefunden hatte, und es dauerte noch länger, bis sein Dad dem Ding mit einem Lötkolben und jeder Menge Flüchen wieder Leben eingehaucht hatte. Endlich erschien Tiffanys Nummer schwach auf dem Display und Ben, der auf der sicheren Seite bleiben wollte, schrieb sie auf, bevor er sie vom Festnetz aus anwählte.
Er landete sofort auf der Mailbox. Sie musste ihr Handy ausgeschaltet haben. Er hinterließ eine Nachricht mit einer unbeholfenen Entschuldigung und sagte noch, er hoffe, dass sie bald miteinander reden könnten. Dann legte er auf. Wahrscheinlich würde sie nie zurückrufen.
Das Hintergrundgebrabbel vom Fernseher erinnerte ihn daran, dass die Eastenders bald anfingen. Ben freute sich, als er seine Mum und seinen Dad nebeneinander auf dem Sofa sitzen sah. Er ließ sich in den Sessel fallen und blätterte die Fernsehzeitung durch, während im Hintergrund die Lokalnachrichten liefen. »Cool, nachher kommen zwei James-Bond-Filme hintereinander.« Ein Wink mit dem Zaunpfahl.
»Hm. In solchen Fällen ist fast immer der Vater der Täter«, sagte sein Vater, der mit gerunzelter Stirn den ernst dreinschauenden Nachrichtensprecher auf dem Bildschirm beobachtete.
»So etwas zu sagen ist fies.« Seine Mutter rückte ein Stück zur Seite.
»Es ist aber so. Ein Typ tut vor der Fernsehkamera total besorgt, während er ganz genau weiß, dass die Leiche irgendwo in einem Kanal liegt. Aber«, fügte Bens Dad rasch hinzu, »es ist normalerweise der Stiefvater, nicht der richtige.«
»Wovon redet ihr?« Ben blätterte weiter das Programm durch.
Seine Mum machte Pst! und stellte lauter.
»…ihre Eltern fürchten, dass möglicherweise ein Familienstreit der Grund dafür war, dass sie von daheim weglief«, sagte ein Reporter in die Kamera. »Die große Hoffnung ist nun, dass sie sich meldet, entweder zu Hause oder bei der anonymen Beratungsstelle, deren Nummer wir unten einblenden.«
Eine kostenlose Telefonnummer leuchtete auf.
»Heute Nachmittag bat Peter Maine in einem emotionalen Appell um ihre gesunde Rückkehr.«
Ein großer Mann erschien auf dem Bildschirm. Er trug ein Hemd mit offenem Kragen, das nicht zur Hose passte, so als hätte er nicht darauf geachtet, was er anzog. Neben ihm stand eine Frau, deren Gesicht man als schön hätte bezeichnen können, wären da nicht die tiefen Falten gewesen, die von Schlafmangel herrührten. Der Mann sprach in ein Mikrofon.
»Wir sind dir nicht böse, Truffle.« Seine Stimme war fest, als konzentrierte er sich bewusst darauf, dass sie auch so blieb. »Wir wollen doch nur wissen, ob es dir gut geht, Liebes.«
Ben legte die Programmzeitschrift weg.
»Wenn du uns irgendwo hören kannst, bitte ruf an. Du musst nicht mit uns reden, ruf, wenn es dir lieber ist, die andere Nummer an. Sag einfach, dass alles in Ordnung ist. Wir lieben dich, Tiffany. Bitte komm nach Hause.«
Bens Finger krallten sich in die Sessellehnen. Er konnte sich nicht rühren. Ein Foto füllte den Bildschirm aus. Tiffany, ein oder zwei Jahre jünger, lächelnd in ihrer Schuluniform.
»Die Polizei bittet um Zeugen, die Tiffany möglicherweise am Sonntagnachmittag gesehen haben.«
»’tschuldigung.« Ben stolperte auf dem Weg nach draußen über die Füße seines Dads. Er stürzte in sein neues Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Eine lähmende Schwäche überkam ihn und er sank am Fußende des Bettes zitternd auf die Knie, als hätte er Schüttelfrost.