Eine reinere Quelle 18

Zuerst war nur pures Nichts, schwärzer als Schlaf. Dann war sie eine Blase, die langsam durch Sirup nach oben stieg. Über ihr wölbten und dehnten sich Formen wie heißes Glas, wenn es geblasen wird, und der klebrige Sirup erstickte sie. Sie war gefangen, eine Fliege in Bernstein

Tiffany würgte und hustete sich ins Bewusstsein. Sie atmete in großen Zügen stinkende Luft ein. Ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie Disteln gegessen. Es war Durst, wie sie dann merkte, ein Durst so heftig, dass sie ihn kaum als solchen erkannte. Sie stöhnte und vernahm ein trockenes Rasseln.

Wo war sie? Ihr Gedächtnis war zerschlagen. Ihr kam ein schrecklicher Gedanke: Sie war im Krankenhaus. Sie hatte einen Unfall gehabt oder eine Krankheit bekommen, die noch schlimmer war als die von Stuart. Wenn Krankenhausbetten nur nicht so hart wären. Ihr Rücken musste voller blauer Flecken sein und ihre Hüfte war ein einziger stechender Schmerz. Aus dem grauen Dunst um sie herum tauchten Gitterstäbe auf. Sie lag in einem Käfig von der Größe eines Sarges in der Ecke eines Büros aus Pappkartons. Die Erkenntnis legte sich bleischwer auf sie. Nur ihr Durst, der schlimmer war als alles andere, verhinderte, dass sie davon erdrückt wurde.

»so viel zu Ihrer Theorie, dass sie niemand vermisst.«

»Haben Sie schlüssige Beweise, dass es sich um dasselbe Mädchen handelt?«

»Jetzt machen Sie sich nicht lächerlich, Cobb! Ein Mädchen taucht hier auf, Sie sperren es in einen Käfig, und sechsunddreißig Stunden später richten Eltern in den Mittagsnachrichten einen Appell an ihre vermisste Tochter. Ist das wissenschaftlich genug für sie?«

Tiffany blieb fast das Herz stehen. Eltern. Oh Gott. Mum und Dad. Wie lange wurde sie schon vermisst? Sechsunddreißig Stunden… Sie waren in den Nachrichten? Was hatten sie wohl… Wasser. Sie brauchte unbedingt Wasser.

»Wie Sie meinen. Nehmen wir mal an, dass Sie Recht haben.« Cobb, der ruhelos seinen Schreibtisch umkreiste, kam in Tiffanys Blickfeld. »Trotzdem wette ich mit Ihnen, dass die Eltern nichts über ihre Tochter wissen. Sie wissen nicht, wozu sie imstande ist. Und sie können sie nicht mit uns in Verbindung bringen.«

»Die Polizei wird nach ihr suchen.«

»Die Polizei findet doch ihren eigenen Gluteus maximus nicht, und wenn sie mit beiden Händen danach sucht.« Glucksend warf Cobb einen Blick auf den Käfig. »Still jetzt. Sie kommt zu sich.«

Er trat näher und beäugte Tiffany, als sei sie ein seltenes, möglicherweise gefährliches Insekt.

»Guten Tag«, sagte er. »Wie fühlst du dich?«

»W…« Tiffany versuchte zu sprechen. Ihr Mund war wie Gummi. »ser.«

»Wie bitte?«

Sie versuchte es noch einmal, nahm ihre ganze Kraft zusammen. »Wasser

»Pardon? Ah, natürlich. John, geben Sie mir doch bitte die Flasche dort.« Cobb nahm sie entgegen, ignorierte das Gemurmel des anderen Mannes und schob sie durch die Stäbe. Tiffany trank gierig, würgte und hustete, bis sie nur noch Luft schluckte. Das schreckliche Gefühl der Trockenheit war immer noch da, doch wenigstens konnte sie jetzt die Zunge bewegen.

»Es wird dir erst mal nicht so gut gehen«, sagte Cobb. »Du bist ruhiggestellt worden.«

Tiffany versuchte sich aufzusetzen und stieß mit dem Kopf an die Käfigdecke. Eine Welle der Übelkeit zwang sie wieder auf den Boden.

»Wie steht es mit Essen?«, erkundigte sich Cobb.

Kaum war der Durst einigermaßen gestillt, kam die Hungerattacke. Sie hatte darüber gelesen, hätte aber nie gedacht, dass sich Hunger richtig schmerzhaft anfühlen konnte. Es war, als würde sie innerlich bluten. Sie brachte ein Nicken zustande.

»Sehr gut.«

Etwas fiel klatschend auf den Boden ihres Käfigs. Tiffany starrte es an. Es war ein Klumpen Fleisch. Rohes Fleisch. Ihr wurde übel und sie schloss die Augen.

»Es ist ganz frisch«, hörte sie ihn sagen.

»Sie Idiot!« Das war Stanford. »Hören Sie auf mit diesen Spielchen.«

»Im Zuge meines Experiments…«

»Wie Sie das nennen, ist mir egal. Sie wird hier alles vollkotzen und dann muss es jemand aufwischen. Aber ich sage Ihnen gleich, dass ich nicht derjenige bin.«

Cobb lächelte dünn. »Sie kennen sich natürlich bestens aus, John. Geben Sie ihr, was Sie für angebracht halten.«

»Ich?« Stanford brachte den Mund nicht mehr zu.

Cobb ging bereits zu seinem Schreibtisch zurück. Stanford schaute Tiffany finster an, als wäre sie eine Beule in seinem neuen Wagen.

Sie blickte zu ihm auf. »Bitte«, flüsterte sie. »Helfen Sie mir!«

»Halt die Klappe.«

»Er ist verrückt«, fuhr sie flehend fort. »Sie wissen, dass er verrückt ist. Sie müssen mir helfen, hier rauszukommen.«

Stanford wandte sich ab. »Toby?«

»Ja, Sir?«

»Geh doch schnell mal zum Parkplatz und bring mir ein paar von den Sandwichs aus dem Wagen der Wachmänner.«

»Wird gemacht«, sagte Toby etwas verschnupft. Offensichtlich schien ihm der Auftrag unter seinem Niveau zu sein. »Was soll drauf sein?«

»Mir egal. Such du was aus.«

Toby schlappte davon.

»Und einen Saft oder so etwas!«, rief Stanford ihm nach.

»Jawohl, Sir. Drei Tüten.«

Tiffany wartete und kämpfte gegen die Ohnmacht an, bis ein in Frischhaltefolie eingepacktes, dreieckiges Päckchen durch die Gitterstäbe gedrückt wurde. Sie riss es auf und stopfte sich das matschige Weißbrot mit Fischpaste und wässrigem Kopfsalat in den Mund. Zwanzig Sekunden später, als sie aufgegessen hatte, saugte sie gierig die Safttüte leer, bis der kleine Tetrapak-Karton zusammenknickte. Erst dann warf sie angeekelt den Fleischklumpen aus dem Käfig.

Sie sah sich nach John Stanford um. Es war absurd, aber fast sehnte sie sich nach seiner Rückkehr. Jeder war besser als Philip Cobb.

Konnte sie um Hilfe rufen? Es waren jede Menge Leute in der Fabrik: Wachmänner, Techniker, geheimnisvolle Privatdetektive. Das konnten doch nicht alles herzlose Bestien sein. Dann dachte sie an die Tiere in ihren Käfigen. Ausgeschlossen, dass jemand hier arbeitete und nicht sah, in welchem Zustand sie waren. Und trotzdem ging ihr Leiden weiter. Vielleicht waren doch alle so herzlos wie Cobb. Jedenfalls unternahmen sie nichts, um ihm das Handwerk zu legen, und das war dann wohl dasselbe, oder?

Cobb widmete seinem Computer mehr Aufmerksamkeit als ihr. Sie musste fliehen. Nur wie? Sie fühlte sich unendlich schwach. Hungrig, durstig, zerschlagen und schwindelig und zu alledem musste sie auch noch dringend aufs Klo

»Hey«, rief sie mit schwacher Stimme. »Hey! Dr.Cobb! Lassen Sie mich raus!«

»Ich kann dich nicht gehen lassen«, murmelte er.

»Ich muss auf die Toilette«, beharrte sie. »Bitte!«

»Du hättest gehen sollen, bevor du hergekommen bist.«

»Sie haben gesagt, ich sei schon zwei Tage hier!«

Cobb hörte auf, auf der Maus herumzuklicken.

»Du da, Terry, nein, Toby! Bring sie zur Toilette! Und steh Wache!«

»Was bin ich heute eigentlich?«, moserte Toby, als Cobb den Käfig aufschloss und Tiffany herauszerrte. »Sandwichs, Toilettengang. Warum engagiert ihr nicht eine verdammte…«

»Person, der man die Zunge herausgeschnitten hat?«, fauchte Cobb so heftig, dass Toby erschrocken zurückwich. »Jetzt hör mir mal gut zu, du gehirnamputierter Yeti! Wenn du noch einmal auch nur eine Silbe von dem, was ich dir sage, infrage stellst, lass ich Shiva an dein Gesicht. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Jawohl, Sir. Tut mir leid, Sir«, murmelte Toby und schluckte. Er packte Tiffanys Oberarm, wobei Finger und Daumen seiner gewaltigen Pranke sich berührten. Schweiß hatte seinen rasierten Schädel zum Glänzen gebracht. Er konnte doch keine solche Angst vor Cobb haben, oder?

In einem der Flügel, die von der Haupthalle abgingen, stand ein blaues Miet-WC. Kaum war sie hineingeschoben und die Tür hinter ihr zugeschlagen worden, brach Tiffany weinend zusammen.

Noch nie hatte sie sich so unglücklich gefühlt, so vergiftet von Angst. Aber sie benutzte die Toilette und trocknete ihre Tränen. Sie hatte sich eine Chance erkämpft. Jetzt galt es, sie zu nutzen.

Für ausgeklügelte Pläne war keine Zeit. Schnelligkeit war ihre Waffe. Sie presste sich an das Plastikwaschbecken, um die Katapultwirkung zu erhöhen, dann schoss sie aus der Tür und unter Tobys schlägelnden Armen durch. Nach einem scharfen Haken nach links, dann nach rechts, rannte sie los. Ihr Mau-Körper erwachte widerwillig. Ich bin eine Katze, du musst mich schlafen lassen, schien er zu verlangen. Sie konzentrierte sich auf Parda, das goldene Katra und die Quelle der Kraft. Energie floss in ihre müden Glieder. Tobys Rufe schallten wie Donnerschläge durch die Halle.

Sie schlitterte um eine Ecke in eine Wand aus schnappenden Kiefern. Zwei schwarzbraune Bestien richteten sich bellend und geifernd vor ihr auf. Mit einem Aufschrei riss sie die Arme vors Gesicht, versuchte sich wegzurollen und wurde von einer Mauer gestoppt. Ein Entkommen war nicht möglich. Zu einer Kugel zusammengerollt wartete sie darauf, dass sie in Stücke gerissen wurde.

»Fred! Ginger! Zurück!«

Eine große Gestalt beugte sich über sie und verdeckte die oberen Fenster. Stanford pfiff und die beiden riesigen Dobermänner machten Sitz und grinsten wie Fangeisen. Kraftlos vor Angst wurde Tiffany auf die Füße gezerrt.

»Los, komm!«, knurrte Toby. »Und versuch das nicht noch mal.«

Er wich Stanfords eisigem Blick aus und trug sie zurück in den Käfig.

»Das nächste Mal machst du in ’nen Eimer«, höhnte Toby. »Das hätt mich mein’ Job kosten können.«

Tiffany lag reglos hinter den Gittern. Den Streit, der unter den Männern ausgebrochen war, bekam sie nur am Rande mit. Cobb sagte irgendetwas über Toby, und Stanford hielt mit an Cobb gerichteten Anschuldigungen dagegen. Tiffany war alles egal. Sie hatte ihre einzige Chance vertan. Sie war zu müde, zu schwach, zu verzweifelt. Und jetzt pochte auch noch ihr Knöchel. Selbst wenn sie noch einmal hier herauskam, würde sie nicht mehr richtig rennen können.

Eine Stunde verging, vielleicht zwei. Irgendwann wollte sie nicht mehr weinen. Sie stieß einen Seufzer aus und spürte ein Grollen im Hals. Mit dem Grollen kam ein Fünkchen Wärme. Das war Purr, die beruhigende Meditationstechnik der Katzen. Oft war das Purr-Grollen nur Ausdruck der Zufriedenheit, doch konnten Katzen es auch ganz bewusst einsetzen, um Schmerz und Erschöpfung in den Griff zu bekommen. Manche Leute behaupteten sogar, es könnte den Heilungsprozess beschleunigen.

Sie kauerte sich im Sphinx-Sitz hin und ließ das Grollen aus ihrem Kehlkopf kommen. Bald ging es automatisch. Einatmen, ausatmen. Das leise Schnurren sank tief in sie ein wie ein wattierter Bohrer, beruhigte ihre Nerven und ließ wieder klare Gedanken zu. Vielleicht kam doch noch einmal eine Chance zu fliehen. Falls sie kam, egal wann, war sie vorbereitet.

Dann war plötzlich Cobb da und beugte sich über sie. »Was tust du da?«

Sie hörte auf zu schnurren. »Nichts.«

»Du hast geschnurrt.« Er kauerte sich hin. »Ist das einer deiner Tricks? Wie wird es gemacht?«

Tiffany sagte nichts.

»Ich nehme nicht an, dass du schnurrst, weil du gerade so glücklich bist. Also, was bewirkt es?« Cobb hatte ein freundliches Lächeln aufgesetzt und tätschelte den Käfig. »Was hat diese Frau dir alles beigebracht?«

»Wenn Sie mich rauslassen, sage ich es Ihnen«, antwortete Tiffany. »Lassen Sie mich nach Hause zu meinen Eltern. Dann zeige ich Ihnen alles, was ich gelernt habe.« Sie war so verzweifelt, dass sie es fast selbst glaubte.

Cobb glaubte ihr dafür umso weniger. »Dieses Szenario sehe ich nicht so recht vor mir«, meinte er. »Außerdem will ich nicht über Dächer klettern. Mich interessiert lediglich das Wie. Wie kann ein ganz normales Mädchen physikalische Gesetze außer Kraft setzen?«

»Wie kann jemand seine eigene Mutter umbringen?«, schrie Tiffany ihn an. »Wie kann ein menschliches Wesen Tiere in winzigen Käfigen halten und ihnen Schläuche in die Eingeweide stecken?«

»Diese Tiere, die dir so am Herzen liegen, bringen oft ihre eigenen Verwandten um«, erwiderte Cobb. »Und was die Art und Weise angeht, wie ich sie behandle– du isst doch Fleisch, oder? Du nimmst Arzneimittel und trägst Make-up. Das alles wurde an Tieren getestet.«

»Aber, nein, hören Sie…« Tiffany suchte nach Worten. »Was Sie machen, ist…«

»Wir können diese sinnlose Diskussion stundenlang führen«, sagte Cobb. »Oder wir können darüber reden.« Er brachte ein Blatt Papier zum Vorschein. »Kommt dir der irgendwie bekannt vor?«

Tiffany hatte einen Kloß im Hals, als sie auf den Ausdruck einer BBC-Webseite schaute. Ein Foto von ihrem Dad, wie er in ein Mikrofon sprach. Neben ihm stand ihre Mum, deren dick aufgetragenes Augen-Make-up vom Weinen verlaufen war.

»Dann bist du das also«, stellte Cobb fest. Aus Tiffanys Mund kam ein Geräusch. Cobb lächelte. »Tiffany Maine. Und das sind deine Eltern, ja?« Er hielt das Blatt in seiner klauenähnlichen Hand und bewegte den Arm etwas weiter nach rechts. Ihr Blick folgte ihm wie hypnotisiert.

»Wenn du willst, dass sie dich heil und gesund wiedersehen«, fuhr Cobb in einem freundlicheren Tonfall fort, »brauchst du nur…«

Am Rand ihres Gesichtsfeldes bewegte sich etwas. Sie fuhr herum. Cobb schob mit der rechten Hand eine Spritze durch die Gitterstäbe.

»Nein! Nein!« Während sie danach griff, fuhr die Nadel in ihre Schulter. Sie wehrte sich, halb verrückt vor Angst, und drückte sich an die Gitterstäbe. Ihr Kampf dauerte nur wenige Sekunden, dann löste sich der Schmerz in einer Wolke auf, die alle Geräusche dämpfte und das Licht schwarz färbte.

Bens Hände zitterten so sehr, dass er drei Anläufe brauchte, bis er die richtige Nummer gewählt hatte.

»Hallo, hier ist die anonyme Beratungsstelle.«

»H-hallo. Ich heiße Ben…«

»Du brauchst deinen Namen nicht zu nennen, wenn du nicht möchtest. Hier kann jeder anonym bleiben«, sagte die beruhigende weibliche Stimme.

»Ich bin Ben Gallagher. Ich bin ein Freund von Tiffany Maine. Das Mädchen, das vermisst wird. Im Fernsehen.«

»Oh…« Es wurde kurz still in der Leitung. »Gut, Ben. Was möchtest du mir sagen?«

»Ich glaube, ich weiß, wo sie sein könnte.«

Glauben? Er wusste es. Wusste es mit schrecklicher Gewissheit. Als er nicht bereit gewesen war, ihr zu helfen, hatte Tiffany die Sache einfach ohne ihn in Angriff genommen.

»Weiter, Ben.«

»Ich glaube, sie wurde…« Er kam sich selbst blöd vor, als er es sagte: »Gekidnappt.«

Sie war in die Fabrik zurückgegangen. Sie hatte versucht, die Tiere im Alleingang zu befreien. Und war gescheitert, was unvermeidlich war. Wie hatte er zulassen können, dass es so weit kam?

»Wo bist du im Augenblick, Ben?«

»In einer Telefonzelle.«

»Und woher weißt du das mit Tiffany?«

»Ich bin ihr Freund.«

»Ist sie jetzt bei dir?«

»Nein!«, blaffte er. »Ich habe es Ihnen doch gesagt. Ich glaube, ein paar Männer haben sie… entführt. Sie sind in der alten Fabrik in Stoke Newington.«

»Okay, Ben. Bleib ruhig. Ich muss wissen, woher du das weißt.« Nicht einmal eine Bombe hätte diese Frau aus der Ruhe bringen können. »Kannst du noch etwas mehr dazu sagen? Wenn wir die Polizei alarmieren, müssen wir sie davon überzeugen, dass man uns keinen Bären aufgebunden hat.«

»Ich denke mir das doch nicht aus!«, rief Ben. »Hören Sie, wenn ich lüge, können Sie mich festnehmen. Ich heiße Ben Gallagher und wohne in Defoe Court Nummer zwölf, Apartment 1. Sie können vorbeikommen und das überprüfen, ja?«

»Danke, Ben.« Die Frau beendete das Gespräch ohne Umschweife. »Wir kümmern uns darum. Pass auf dich auf.«

Ben legte den Hörer auf. Die Erleichterung dauerte keine Sekunde. Zu spät fiel ihm ein, dass das Apartment 1 in Defoe Court Nr.12 nicht mehr existierte. Er schlug mit der Faust auf das Telefon, saugte an seinen verschrammten Knöcheln und versuchte nachzudenken. Wer würde ihm jetzt noch glauben? Wer? Kein vernünftiger Mensch würde auch nur einen weiteren Gedanken an ihn

Kein vernünftiger Mensch. Natürlich!

Er stürmte aus der Telefonzelle und die dunkler werdende Straße hinunter.

Die zähe Schwärze begann sich zu kräuseln. Tiffany schwamm gegen die Bewusstlosigkeit an, die wie eine große Welle über ihr zusammenschlagen wollte, dorthin, wo das Echo von Stimmen widerhallte wie plätscherndes Wasser in einer Höhle. Sie musste alle Kraft zusammennehmen, um die Augen zu öffnen.

»Wenn es nach Ihnen gegangen wäre«, knurrte jemand, »säße das Mädchen jetzt auf einer Polizeistation und würde alles erzählen.«

»Es war Ihr Schläger, der sie fast entkommen ließ.«

»Toby ist der Chef meines Sicherheitsdienstes. Sie sollten dankbar sein, dass ich ihn mitgebracht habe.«

»Und die Hunde? Ich mag keine Hunde. Sie haben mir nie etwas davon gesagt, dass Sie Hunde mitbringen würden.«

Mit unendlicher Mühe öffnete Tiffany die Augen. Sie lag im Käfig auf dem Rücken. Oh nein– hatte sie wieder eine Beruhigungsspritze bekommen? Ihr war noch schlechter als vorher. Stanford und Cobb standen als verschwommener Fleck nicht weit entfernt und redeten miteinander.

»Ich werde nicht zulassen, dass Fred und Ginger Ihnen etwas tun.« Stanford schnalzte mit der Zunge. Seine beiden riesigen Dobermänner sprangen auf. Die Zungen hingen ihnen aus dem Maul. »Aber falls eine von Ihren Monsterkatzen freikommt, will ich nicht ohne Schutz dastehen.«

»Ach.« Cobb legte die Fingerspitzen aneinander. »Einmal angenommen, ein Tiger wie Shiva würde entkommen. Dann hätten ihre Kampfhunde eine Lebenserwartung von, na ja, ungefähr drei Sekunden jeder.«

Stanford straffte die Schultern. »Sie würden sich wundern, wie weit ich in sechs Sekunden rennen kann.« Er hakte einen Finger in das Halsband eines der Hunde. »Wo wir gerade dabei sind– Ihre Katzen hatten etwas zu erledigen, Cobb. Haben sie es bereits getan? Haben Sie es getan?«

Tiffanys Herz krampfte sich zusammen. Den grässlichen Plan, wie die beiden sich der Leiche von MrsPowell entledigen wollten, hatte sie schon wieder vergessen. Ihre ganze Verzweiflung kehrte zurück und frische Tränen rollten ihr über die Wangen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder und wieder vor sich, wie Felicity Powell fiel, getroffen von einer Kugel, die direkt unter dem rechten Schulterblatt eingedrungen war.

Cobb zögerte. »Ich erledige das schon. Bald. Keine Sorge. Niemand wird merken, ob ein Kadaver mehr oder weniger in der Futterkammer ist. Jetzt muss ich mich erst mal um andere Dinge kümmern.«

Er näherte sich dem Käfig. Tiffany wollte zurückweichen, hatte jedoch das Gefühl, mit Pflastersteinen beschwert zu sein. Sie konnte lediglich den Kopf drehen und beobachten, wie der Wissenschaftler herankam.

»John, mein Freund, ich möchte meine Aufregung mit Ihnen teilen!« Cobbs Augen glänzten wie Eis. »Wir könnten zu einem anderen Herstellungsprozess übergehen. Panthacea wird aus Katzengalle gewonnen. Überlegen Sie, wie viel Zeit und Geld wir sparen würden, wenn wir es aus einer reineren Quelle schöpfen könnten.«

»Einer reineren…«

»Dasselbe Grundprodukt, nur bereits kompatibel mit dem menschlichen Körper. Hier ist die Antwort, die uns auf dem Silbertablett serviert wurde.«

»Das ist nicht Ihr Ernst.«

»Noch ist es eine Theorie«, gab Cobb zu. »Ich sollte sie überprüfen.«

Er zog eine Spritze aus seiner Manteltasche, die groß genug schien, um ein Nashorn einzuschläfern. Dann riss er eine Papierhülle auf, holte eine saubere Nadel heraus und steckte sie auf.

Panik schnürte Tiffany den Hals zu. Spritzen waren ihr noch nie geheuer gewesen, und diese hier war praktisch ein Bajonett.

»Ein bisschen Galle, eine kleine Probe, mehr brauche ich nicht«, sagte Cobb. »Meine Analysen werden zeigen, ob der Körper dieses Mädchens die richtigen felinen Stoffe produziert.«

Er kniete sich neben den Käfig. Tiffany zog die Luft in hektischen Zügen ein. Weg hier!, schrie es in ihrem Kopf. Es hatte keinen Zweck. Ihre Glieder gehorchten ihr nicht, leblos lagen sie da wie die einer Puppe.

Stanford räusperte sich. »Halten Sie das wirklich für eine gute Idee?«

Cobb steckte die riesige Nadel zwischen den Stäben durch. »Das Schwierigste ist, die richtige Stelle zu finden. Mein Wissen über die menschliche Physiologie ist etwas eingerostet.«

Tiffany biss sich fest auf die Lippen, ein Versuch, ihren Körper durch Schmerz wieder zum Funktionieren zu bringen. Wegrollen, sie musste sich unbedingt wegrollen. Katras. Wo waren ihre Katras, wenn sie sie brauchte? Sie schwebten irgendwo außer Reichweite, kaum zu erkennen und kalt wie entfernte Planeten.

»Ruhig jetzt.« Cobb hielt die Nadel über ihrer linken Seite. »Der Gallengang sollte irgendwo hier sein…«

»Cobb!«

Philip Cobb fuhr mit einem Ruck nach hinten. Die Nadel fiel ihm aus der Hand. Stanford hatte ihn am Kragen zurückgerissen. Mit einem Plumps landete er auf dem Hintern. Vollkommen verblüfft schaute er seinen Kompagnon an.

»Nein!«, sagte Stanford. »Wenn etwas schiefgeht mit dieser Elefantenspritze, was dann? Rufen wir dann den Notarzt? Warum können Sie es nicht einfach mal gut sein lassen?«

Cobb stand auf. Er strich die Falten in seinem Mantel glatt, hob die Nadel auf und steckte sie in die Tasche. Dann brachte er sein Gesicht dicht an das von Stanford und sagte: »Fassen Sie mich nie wieder an.«

Tiffany lag reglos da; ihr Herz hämmerte wie wild. Cobb setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und drehte ihn so, dass er ihnen den Rücken zukehrte.

»Hören Sie«, sagte Stanford, »dieses Mädchen. Es ist keines aus den Slums. Es wird gesucht. Wir können es nicht hier behalten!«

Cobb antwortete nicht. Er schien den Beleidigten zu spielen.

»Es geht nicht!« Stanford beharrte darauf.

»Aber einfach gehen lassen können wir sie auch nicht.« Cobb drehte sich nicht um. »Sie hat uns gesehen. Sie kennt unsere Namen.«

»Ja, dank Ihnen. Was schlagen Sie vor?»

»Sie sind der Stratege, John. Sagen Sie es mir.«

»Wir müssen das Land verlassen.« Stanford seufzte. »Diesen ganzen Schlamassel hier abschreiben, solange wir es noch können. Uns eine Weile in Osteuropa verstecken und irgendwann ganz neu anfangen, wenn sich die Situation etwas beruhigt hat.«

»Reizende Aussichten.«

»Das weiß ich selbst!« Speichel spritzte aus Stanfords Mund.

»Beruhigen Sie sich, John. Sie vergessen, dass wir eine Alternative haben.«

»Welche Alternative denn?« Stanford senkte die Stimme und entfernte sich vom Käfig.

Tiffany schaltete ihr Katzengehör ein und es gelang ihr, die geflüsterten Worte zu verstehen.

»Die andere Möglichkeit liegt darin«, sagte Cobb leise, »sicherzustellen, dass uns keiner jemals etwas nachweisen kann.«

»Und wie stellen Sie sich das vor?«

»Sie wissen es, John.«

Stille trat ein, sodass Tiffany einen Augenblick lang fürchtete, ihre Kräfte hätten sie im Stich gelassen.

»John? Ich möchte, dass Sie es aussprechen.«

»Ja, ich weiß es«, flüsterte Stanford. »Indem wir die Beweismittel vernichten. Wie wir es mit der anderen machen. Die einzige Alternative ist, sie zu töten und an die Katzen zu verfüttern.«