Der letzte Vorhang 23
Ein leichter Wind fuhr durch Rufus’ Fell. Der Kater lag wie hingegossen auf der schmalen Armlehne der Bank, sicherlich das unbequemste Bett, das er sich hatte aussuchen können– abgesehen vom Grill vielleicht. Die Luft flimmerte über dem Rost und das klapprige Gestell wackelte auf seinen Beinen, als Peter Maine die Chicken Wings umdrehte.
»Das gehört mir.« Stuart stupste den knusprigsten Flügel mit der Gabel an.
»Hände weg!«, sagte sein Vater. »Die sind alle schon reserviert.«
»Stuart, du verbrennst dich!«, warnte seine Mutter.
Schmollend trottete Stuart zu seinem Rollstuhl zurück. »Das ist ungerecht, wenn man der Jüngste ist. Immer muss man warten, bis man dran ist; ich wär viel lieber ein Einzelkind.« Er hielt entsetzt inne; plötzlich war alles still geworden. »Tut mir leid, ich hab’s nicht so… das war echt fies.«
»Ist schon gut«, sagte Tiffany. »Außerdem weiß ich ganz genau, wie du dich fühlst.«
Stuart wirkte erleichtert. Dann machte er ein finsteres Gesicht. »He! Jetzt bist du aber fies!«
Tiffany holte ihr Essen vom Grill. Ihr Vater küsste sie auf die Stirn, zum fünften Mal, seit er die Holzkohle angezündet hatte.
»Wir sind so froh, dass du wieder da bist, Truffle«, murmelte er, »und das weißt du.«
Tiffany wurde rot. »Dad! Nenn mich nicht so!« Sie schaute über die Schulter.
»Hotdog, Ben?« Ihr Dad grinste.
»Gern, danke!«
Tiffanys Augen sprühten Funken von der Wenn-du-mich-noch-einmal-vor-irgendjemandem-so-nennst-bist-du-tot-Art. Ben stopfte sich das Brötchen in die Backen, damit das Lachen drinblieb.
MrMaine blickte ihn ernst an. »Mr und MrsGallagher«, sagte er, »Ihr Sohn hat meiner Tochter höchstwahrscheinlich das Leben gerettet. Ich werde nie müde werden, das zu wiederholen. Sie sollten stolz auf ihn sein.«
»Sind wir auch«, sagte Bens Dad und nahm die Hand seiner Frau. »Nicht wahr?«
»Du hast dich ganz großartig verhalten, Ben.« Seine Mutter zog sacht ihre Hand zurück.
»Wenn du nicht die Nummer dieser Beratungsstelle angerufen hättest«, fuhr Peter Maine fort, »also… darüber will ich gar nicht nachdenken. Dir haben wir es zu verdanken, dass die Polizei sie gefunden hat.«
»Es spielt zwar jetzt keine Rolle mehr«, sagte Tiffanys Mutter, »aber woher hast du gewusst, wo sie ist?«
Ben kaute mit übertriebenen Kieferbewegungen.
»Wir hatten einen Tag zuvor darüber gesprochen«, antwortete Tiffany für ihn. »Eine Katze hat in der Nähe der alten Fabrik miaut und ich hab ihm gesagt, dass ich nachschauen wollte, ob sie in eine Falle geraten war.«
»Genau.« Ben nahm den Faden auf. »Ich hab mir gedacht, dass sie dort ist. Also hab ich die Beratungsstelle angerufen und es ihnen gesagt.«
»Gott sei Dank sind sie dem Hinweis nachgegangen«, sagte seine Mutter. »Mir hat die Polizei nie Glauben geschenkt, was, Ben?«
»Er hat den alten Gallagher-Charme spielen lassen.« Sein Vater knuffte sie in die Seite. Seine Mutter lächelte, ein wenig dünn, wie Ben fand, und schaute wieder zu den brutzelnden Würstchen hinüber.
Ben folgte Tiffany in die Ecke des Gartens, wo Rufus auf seiner Bank döste. Die laute Musik aus dem Küchenradio übertönte ihre Unterhaltung.
»Und wie geht’s so?«
Tiffany zuckte mit den Schultern. »Komisch.«
»Ja. Es ist verrückt. Was glauben deine Leute eigentlich, was passiert ist?«
»Fran hat ihnen was von rivalisierenden kriminellen Banden und Kidnapping erzählt. Fran ist die Beamtin, von der ich mich hab finden lassen«, berichtete Tiffany.
»Und die Polizei hat das geschluckt?«
»Sieht so aus. Selbst wenn John Stanford jetzt versucht, ihnen die Wahrheit zu sagen, glauben sie ihm nicht. Fran sagt, sein Vorstrafenregister sei so lang wie eine Autobahn. Vor zehn Jahren hat er als Jacques Saint-Claude den Leuten Schlösser in Frankreich verkauft, die ihm nicht gehört haben. Sie sind ziemlich sicher, dass sein richtiger Name Jürgen Straubhaar ist. Aber egal wie er nun heißt, wenn er aus dem Krankenhaus kommt, werden sich die deutsche, die französische und die britische Polizei um ihn streiten.«
»Und was ist mit…« Ben merkte, dass es ihm schwerfiel, den Namen auszusprechen.
»Sie haben Cobb gefunden.« Tiffany nagte an ihrem Hähnchenflügel. »Er hatte nicht den geringsten Kratzer. Die Tiere haben ihn nicht angerührt. Mit mir hat Fran nicht darüber geredet, aber ich habe mitbekommen, wie sie zu jemand gesagt hat, sie hätte noch nie einen Menschen gesehen, der tatsächlich einzig und allein vor Angst gestorben sei.«
Ben verschluckte sich fast an dem Radler, das sein Vater ihm gemischt hatte. Es war zu stark. Er hörte, wie Stuart um die Zahl der Hamburger feilschte, die er zwischen seine beiden Brötchenhälften haben wollte.
»Wenn du mich nur nicht weggeschickt hättest!«, sagte Ben. »Ich weiß ja, dass du alles geheim halten wolltest, aber… Ich hätte zu gern zugeschaut, wie die Polizei versucht, fünfzig Dschungelkatzen einzufangen. Wie haben sie das gemacht? Jemanden vom Londoner Zoo herbeordert?«
»Das hab ich sie auch gefragt.«
»Und?«
»Fran hat mich nur angeschaut, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Sie haben keine Raubkatzen da drin gefunden, Ben. Keine einzige.«
»Was?« Er sagte es zu laut. Cathy Maine drehte sich neugierig zu ihnen um. »Aber das kann doch nicht sein«, flüsterte er.
»Es gibt vieles, was nicht sein kann«, erwiderte Tiffany. Ein seltsames Lächeln spielte um ihre Lippen. »Wie sind die Tiere zum Beispiel aus ihren Käfigen gekommen? Wer hat sie rausgelassen?«
»Aber…« Ben kam ins Schwimmen. »Du hast doch gesagt… Cobb hat sie erschossen. Du hast es gesehen! Du hast uns gesagt, MrsPowell sei tot!«
»Danach hab ich mich auch erkundigt.« Das Glitzern in Tiffanys Augen hörte nicht auf. »Ich habe die Polizei gebeten, in der Kühlkammer ganz hinten in der Fabrik nachzusehen. Ich hab sie regelrecht angebettelt. Fran hat gesagt, ich soll mich nicht aufregen. Alles, was sie in den Kühlfächern gefunden haben, waren Rinderteile, die langsam vergammelten. Jemand hatte den Stecker am Kühlaggregat rausgezogen.«
Ben hatte Mühe, all diese Neuigkeiten aufzunehmen. »Was man so sagt über Katzen und ihre sieben Leben… das stimmt doch nicht wirklich.«
»Nein. Aber sie können aus Hochhäusern fallen, versehentlich in eine Waschmaschine geraten und von einem Auto überfahren werden und sich von all dem wieder erholen.«
»Ja, schau mich an. Zusammengeschlagen, einen Aufzugsschacht hinuntergeworfen, vom Kran gefallen und nicht einmal am ersten Schultag durfte ich wegen Krankheit daheimbleiben.«
»Pech. Mir haben sie zwei Wochen freigegeben.«
Ben musste lachen. Er vergewisserte sich, dass niemand mithörte. »Dann lebt MrsPowell also?«
»Zumindest glaube ich es«, antwortete Tiffany. »Sie muss Purr eingesetzt haben. Ich habe es selbst versucht, als ich verletzt war, damit ich wieder zu Kräften komme. Sie kann es natürlich sehr viel besser. Vielleicht sogar so gut, dass sie das Verbluten verhindern konnte.« Sie kaute an ihrem Daumennagel. »Ich war in ihrer Wohnung, aber sie war nicht da. Jim allerdings auch nicht.«
»Vielleicht war er mal kurz draußen.«
»Nein. Sie hat ihn mitgenommen. Genauso wie die großen Katzen. Keine Ahnung, wie sie es gemacht hat, wie sie sie dazu gebracht hat, ihr zu folgen und nicht entdeckt zu werden… Aber ich glaube, sie konnte eine ganze Menge Sachen, von denen sie uns nie etwas erzählt hat.«
Ben schaute hinüber zu seinen Eltern. Sie saßen auf Gartenstühlen, die etwas voneinander abgerückt standen. »Nachdem sie uns in hunderttausend Schwierigkeiten gebracht hat, verschwindet sie einfach so in der Nacht und sagt nicht einmal, dass es ihr leidtut. Nett.«
Tiffany saugte an ihrem leeren Glas. »Sie wird mir fehlen.«
Sie würde auch Ben fehlen. Es tat plötzlich weh, daran zu denken, und er schob das Thema von sich.
»Noch etwas verstehe ich nicht. Dieses Panthacea.«
Tiffany nickte. »Ich weiß…«
»Wenn die Dinger nur Vitaminpillen waren mit neuem Etikett, wie kommt es dann, dass sie bei deinem Bruder gewirkt haben?«
»Vielleicht…« Tiffany hielt inne. »Vielleicht weil wir daran geglaubt haben. Vielleicht weil meine Eltern sich nicht mehr an Stuarts Bett gestritten haben. Weil wir zur Abwechslung mal alle glücklich waren. Deshalb ging es ihm besser. So merkwürdig ist das gar nicht, oder?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Er ist nicht geheilt«, fuhr Tiffany fort. »Selbst als er die Tabletten genommen hat, hatte er schlechte Tage. Sie haben ihm nur nicht mehr so viel ausgemacht.«
»Und was macht er jetzt? Kein Natur pur!– keine Wunderpillen mehr. Auch wenn es nie welche waren.«
»Ach, er wird das schon schaffen«, sagte Tiffany. »Die Welt ist nun mal nicht perfekt.«
Da hatte sie Recht. Seine Eltern plauderten immer noch mit Tiffanys Mum und Dad, aber untereinander hatten sie sich kaum etwas zu sagen. Ben war sich so sicher gewesen, dass sie wieder zusammenfinden würden. Eine Zeit lang hatte es wirklich danach ausgesehen. Aber es war nicht passiert. Der ganze Kummer, und sie waren immer noch so weit voneinander entfernt wie vorher.
»Was ich dir noch sagen wollte«, begann Tiffany, »wir fangen am Donnerstag wieder mit Pashki an. Die anderen können es kaum abwarten.«
»Wer unterrichtet? Du?«
»Wir beide könnten es versuchen. Für den Anfang. Im Internet finden wir bestimmt noch mehr darüber. Man muss echt suchen, aber es gibt Artikel dazu. Wir haben gerade mal an der Oberfläche gekratzt.«
»Hm.«
»Daniel hat gesagt, sein Dad würde vielleicht irgendwo einen Raum für uns mieten, wir müssen nur sagen, dass es ein Taekwondo-Kurs ist. Was hältst du davon?«
Ben setzte sich auf die Bank. Er war plötzlich müde.
»MrsPowell hat uns aus einem ganz bestimmten Grund ausgebildet«, fuhr Tiffany fort. »Sie würde wollen, dass wir weitermachen.«
»Aus einem bestimmten Grund. Klar.« Ben schaute zu seiner Mum hinüber, die mit Cathy Maine lachte und scherzte. Die Schramme auf ihrer Wange, die von ihm stammte, war nicht mehr zu erkennen, aber er sah sie immer noch. Er starrte auf eine halb verwelkte Pusteblume und wünschte für einen Augenblick, er hätte nie etwas von MrsPowell gehört.
Tiffany legte ihre Hand auf seine und er wusste, dass sie verstand. Ich habe auch Angst, sagte die Berührung. Mit der anderen Hand streichelte sie Rufus, es schien ihr Sicherheit zu geben.
Ben betrachtete die Katze auf ihrem unmöglich schmalen Bett, ein Bild des Glücks. Rauch hing in der Luft und dröhnende Musik, nebenan bellte ein Hund und Flöhe flitzten durch Rufus’ Fell, doch trotz alledem hatte der Kater den reinen Frieden des Augenblicks gefunden, bevor der nächste Regenschauer kam oder ein Rasenmäher ihn störte. Vielleicht war das genug. Vielleicht konnte man nicht mehr erhoffen.
»Ich glaube, dein Bruder fühlt sich als fünftes Rad am Wagen«, sagte Ben. Stuart saß ein wenig abseits und schaufelte heruntergefallene Zwiebeln zurück in seinen Hotdog.
»Ich esse, bis mir schlecht wird«, verkündete er, als sie zu ihm hinübergingen. »Und dann esse ich weiter. Da steht, man nimmt sie am besten mit den Mahlzeiten.«
Er steckte etwas in den Mund und spülte es mit Saft hinunter. Ben sah ein Pillendöschen neben ihm.
»Hey…« Tiffany trat ihm auf den Fuß. Ben schaute auf das Etikett und las: Paradies Nahrungsergänzungsmittel. Multikomplex-Produkt für den täglichen Bedarf.
»Es ist dasselbe wie Panthacea«, erklärte Stuart eifrig. »Tiffany hat rausgefunden, dass die Firma von einer anderen übernommen wurde, deshalb hat es jetzt einen neuen Namen. Aber es schmeckt immer noch grässlich.«
Ben schaute Tiffany an. Sie zuckte leicht mit den Schultern. Hatte sie das Richtige getan? Sie wusste es nicht und er genauso wenig. Im Grunde war es nach wie vor Betrug. Aber im Leben war nun mal nicht alles perfekt.
Ein gelb-brauner Blitz zuckte über den Rand seines Gesichtsfeldes. Rufus verschwand über den Zaun, auf dem Weg zu einer geheimnisvollen Mission, die nur der Kater selbst kannte.
Stuart wirkte müde; er drehte ein Päckchen seltsamer Spielkarten in den Händen.
»Was ist das für ein Spiel?«, fragte Ben.
»Superhelden-Trumpf«, murmelte Stuart. »Aber es macht keinen Spaß mehr, weil ich immer gewinne.« Ein Strahlen ging über sein Gesicht. »Oder wollt ihr zwei zufällig mit mir spielen?«
Tiffany lächelte und kniete sich vor ihm ins Gras und eine Sekunde lang sah sie dabei einer zufriedenen Katze verblüffend ähnlich.
»Wollen wir«, sagte sie.