Norman Mature sprang nicht gerade vor Freude an die Decke, als Bount Reiniger ihn aufsuchte. Das Büro des Rechtsanwalts war klein, mit Blick in einen düsteren Hinterhof. Auf allen Ablegemöglichkeiten lagen Akten. Es schien sich um eine organisch gewachsene Unordnung zu handeln, um ein Chaos mit System.
Mature rückte nervös seine Brille zurecht und wies auf den Besucherstuhl. Bount hatte ihm gesagt, was geschehen war, aber er hatte den Eindruck gehabt, dem Anwalt nichts Neues zu erzählen.
„Bitte nehmen Sie Platz, Mr. Reiniger“, sagte Mature ernst.
Bount setzte sich und sagte: „Sie sind beziehungsweise waren Milton Cootes Anwalt.“
„Das ist richtig“, bestätigte Mature. „Mr. Coote bat mich um Rechtsbeistand vor Gericht, und ich bereitete mich auf seine Verteidigung vor.“
„Hofften Sie auf einen Freispruch?“
„Ich bin kein Illusionist, Mr. Reiniger. Mir war von vornherein klar, dass es zu einer Verurteilung meines Mandanten kommen würde.“
„Haben Sie ihm das gesagt?“
„Selbstverständlich. Ich forderte ihn auf, ein Geständnis abzulegen, damit wir auf einer vernünftigen Basis operieren konnten. Doch davon wollte er nichts wissen.“
„Daraufhin legten Sie die Verteidigung nieder.“
„So ist es“, bestätigte er.
„Befürchteten Sie nicht, dass Ihnen Coote diesen Schritt übelnehmen könnte? Er hätte sich von Ihnen im Stich gelassen fühlen können.“
„Es war nicht meine Pflicht, den Mann zu verteidigen.“
„Ist es möglich, dass Coote sagte, wenn Sie ihm nicht aus dem Knast helfen könnten, würde es eben jemand anderer tun?“
Mature straffte seinen Rücken. Er blickte Bount abweisend an. „Mr. Coote hat nichts dergleichen gesagt.“
„Hat er sich nach seiner Flucht mit Ihnen in Verbindung gesetzt?“
„Nein.“
„Ihnen als Anwalt muss ich wohl nicht extra sagen, was Ihnen droht, wenn Sie diesen Verbrecher decken.“
Norman Mature riss sich die Brille von den Augen. „Was unterstellen Sie mir da, Mr. Reiniger?“
Bount lächelte ihn entwaffnend an. „Nichts, Mr. Mature. Ich unterstelle Ihnen gar nichts. Haben Sie irgendeine Idee, wer Coote zur Flucht verholfen haben könnte?“
Mature beruhigte sich und setzte die Brille wieder auf. „Nein, keine Ahnung.“
„Sie haben, genau wie ich, von Berufs wegen mit vielen Ganoven zu tun. Die Tatsache, dass Sie einigen von ihnen einen längeren Gefängnisaufenthalt ersparen können, heißt noch lange nicht, dass es sich um ehrenwerte Personen handelt. Helfen Sie mir mit ein paar Namen.“
„Tut mir leid, Ihnen nicht helfen zu können, Mr. Reiniger“, sagte Mature rau. „Aber als Rechtsanwalt fühle ich mich an die Schweigepflicht gebunden.“
„Dahinter kann man sich gut verstecken“, sagte Bount. „Aber sollte es nicht auch in Ihrem Interesse liegen, dass Milton Coote dorthin kommt, wohin er gehört? Wo kann er sich Ihrer Meinung nach versteckt haben?“
„Das weiß ich nicht.“
„Würden Sie es mir sagen, wenn Sie’s wüssten?“
„Nein, aber ich würde mich mit Mr. Coote in Verbindung setzen und ihm raten, sich zu stellen.“
„Er ist bewaffnet. Er hat einen Polizeibeamten niedergeschlagen. Noch hat er nicht geschossen, aber wenn man ihn in die Enge treibt, wird er's vielleicht tun. Könnten Sie das vor Ihrem Gewissen verantworten?“
„Hören Sie auf, mir unterstellen zu wollen, ich wüsste, wo Coote sich verborgen hält!“, brauste der Rechtsanwalt auf. „Ich habe keine Ahnung, das sage ich noch einmal, und ich bitte Sie, es zur Kenntnis zu nehmen!“ Bount stellte weitere Fragen, denn er spürte, dass Mature ihm nicht die ganze Wahrheit sagte. Er versuchte den Anwalt in die Enge zu treiben, doch in dieser Disziplin war Norman Mature zu gerissen. Er ließ sich nicht stellen.
Mature wusste mehr, als er zugab, das stand für Bount Reiniger fest. Doch es war ihm nicht möglich, das dem Anwalt zu beweisen und ihn festzunageln. Noch etwas erkannte Bount sehr deutlich: Norman Mature hatte Angst, und gegen diese Angst war Bount Reiniger machtlos, denn sie verschloss Mature den Mund.
Die Karte, die Bount daließ, damit ihn Mature anrief, falls sich irgendetwas Wissenswertes ergeben sollte, würde höchstwahrscheinlich im Papierkorb landen, sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Mature war die Erleichterung anzusehen, die er empfand, als sich Bount Reiniger verabschiedete. Einer, der Bount so gern gehen sah, konnte kein lupenreines Gewissen haben.
„Vielleicht sehen wir uns bald wieder“, bemerkte Bount, schon halb aus dem Büro, und Matures Blick sagte: Das möge der Himmel verhüten.