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Bount fuhr die Serpentine durch den Fort Tryon Park und warf einen Blick auf die Armaturenbrettuhr. Wenn seine Zeitberechnung einigermaßen stimmte, durften sich die Gangster nicht mehr lange ihrer Freiheit erfreuen.
Er steuerte auf den Hudson River zu. Alte, schäbige Lagerhäuser tauchten vor ihm auf. Die meisten wurden nicht mehr benützt. Sämtliche Fensterscheiben waren eingeschlagen, die aufgebrochenen Tore ließen sich nicht mehr schließen. An den tristen Wänden hatten sich anonyme Künstler mit Spraydosen verewigt. Graffiti nannte man das.
Bount fuhr etwas schneller. Der Mercedes schlängelte sich zwischen den nutzlos gewordenen Gebäuden hindurch. Obwohl Bount nicht in Topform war, hatte er den Wagen besser unter Kontrolle als die Verfolger.
Er fuhr einen kleinen Vorsprung heraus und lenkte den Mercedes dann in ein großes Karree. Lagerhäuser an drei Seiten. Eine Durchfahrt war nicht möglich. Das war die Falle, in der sich die Gangster fangen sollten.
Bount stoppte den Silbernen in der Nähe eines Tors. Wie ein großes, weit aufgerissenes Maul gähnte es ihm entgegen. Als er ausstieg, spürte er, wie miserabel es ihm ging. Aber er biss die Zähne zusammen und ließ sich von den Schmerzen nicht unterkriegen.
Er zog die Automatic und verschwand im Lagerhaus. Dunkelheit umfing ihn. Es dauerte kurze Zeit, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten.
Bount kannte sich hier verhältnismäßig gut aus. Er hatte an dieser Stelle vor einem halben Jahr zwei Verbrecher in die Enge getrieben und zur Aufgabe gezwungen.
Er hoffte, dass sich dieser Erfolg in ähnlicher Form wiederholen ließ. Sehr schnell lief er nicht durch das leere Lagerhaus. Das war erstens nicht nötig, und zweitens durfte er sich nicht überfordern. Er musste darauf achten, dass er bei allem, was er tat, stets knapp unter seiner derzeitigen Leistungsgrenze blieb, sonst bewahrheitete sich das, was der Chefarzt gesagt hatte, dass ihn ein stärkerer Luftzug umwarf.
Das Knirschen von Autoreifen drang an sein Ohr. Er erreichte ein schmales Fenster und warf einen Blick hinaus. Die Gangster trafen ein.
Ihr Wagen hielt hinter dem Mercedes an, die Scheinwerfer erloschen, der Motor wurde abgestellt. Beinahe unnatürliche Stille lastete zwischen den Lagerhäusern.
Die Gangster stiegen nicht aus. Das machte nichts. Die Zeit arbeitete für Bount und gegen sie, aber das konnten sie nicht wissen. Je länger sie überlegten, desto besser wurde Bounts Chance, sie zu kriegen.
Endlich schwangen auf beiden Seiten die Türen auf. Die Männer sprangen aus dem Fahrzeug und hielten Schießeisen in den Fäusten. Hier konnten sie es sich erlauben, wild draufloszuballern. Niemand würde es hören.
Während der eine zu Bount Reinigers Wagen eilte und einen Blick hineinwarf, um sich zu vergewissern, dass sich der Gesuchte nicht darin befand, lief der andere auf das offene Tor zu.
Bount trat hinter eine Eisentreppe und beobachtete die schemenhafte Gestalt, die vorsichtig durch die Dunkelheit glitt. Es dauerte nur wenige Augenblicke, da tauchte auch der zweite Gangster auf. Bount richtete die Pistole auf die beiden.
„So, Freunde, und nun lasst mal schön die Waffen fallen und streckt die Hände hoch!“, rief er.
Manchmal klappte es, aber nicht immer. Es gab Verbrecher, die riskierten lieber nichts und ergaben sich in einer solchen Situation, doch zu der Sorte gehörten die beiden nicht.
Sie glaubten nicht, dass ihre Situation so schlecht war. Nicht, nachdem sie Bount Reiniger so schwer zusammengeschlagen hatten. Was konnte der Schnüffler denn jetzt noch zu bieten haben?
Sie jagten auseinander, ließen sich fallen und feuerten. Zwei grelle Mündungsblitze flammten auf. Fast im selben Moment knallten die Kugeln gegen die Eisentreppe, hinter der Bount Deckung gefunden hatte.
Bount drückte ebenfalls ab. Die 38er Automatic ruckte in seiner Hand, krachte, spie Feuer und Blei. Einer der beiden Gangster stieß einen kurzen, abgehackten Schrei aus. Dann robbten sie davon. Der eine verschwand hinter einem kantigen Betonsockel, der andere hinter einer zur Hälfte eingestürzten Ziegelmauer.
„Du bist fällig, Reiniger!“, brüllte einer der Verbrecher. „Aus diesem Lagerhaus kommst du nicht lebend raus!“
„Ich wette dagegen!“, gab Bount zurück.
„Von dir nehmen wir keine Wetten an, denn du wirst keine Möglichkeit haben, die Schuld zu begleichen!“
Während der eine Gangster mit Bount redete, versuchte sich der andere heimlich an den Detektiv heranzupirschen. Bount sah ihn schon, als er hinter der Ziegelmauer hervortrat.
Ein Schuss genügte, und der Mann verschwand sofort wieder von der Bildfläche.
„Du bist schwer angeschlagen, Reiniger! Was glaubst du, wie lange du noch durchhältst?“
„Ich bin besser in Form, als ihr denkt.“
Jetzt versuchte der andere sein Glück. Schießend schnellte er hinter dem Sockel hervor. Sein Komplize gab ihm Feuerschutz. Bount war gezwungen, in Deckung zu bleiben. Er zog sich zurück, sorgte aber dafür, dass die Treppe stets zwischen ihm und den Verbrechern blieb.
Eine offene Tür. Normalerweise wäre Bount mit einem mächtigen Satz hindurchgesprungen, doch heute erlaubte er sich nur einen großen Schritt.
Auch das genügte. Sobald er den Türrahmen passiert hatte, drehte er sich um - und im richtigen Moment donnerte wieder die Automatic in seiner Faust.
Der Gangster stolperte und fiel. „Ben!“, brüllte sofort der andere. „Ben, bist du okay?“
„Verdammt, Rudy, mich hat’s erwischt!“
„Wo?“
„Im Bein.“
„Komm zurück, Ben.“
„Ich kann nicht, du musst mir helfen, Rudy!“
„Reiniger, du Aas! Freu dich nicht zu früh! Du gehst trotzdem heute Nacht drauf!“, brüllte Rudy.
Sirenengeheul gellte durch die Nacht. Da waren sie endlich, die Streifenwagen, die Toby Rogers zu schicken versprochen hatte. Zuckende Rotlichter erschienen in dem Karree. Autotüren wurden aufgestoßen, und Polizeistiefel knirschten über den Boden.
„Verdammt! Bullen!“, schrie Rudy. „Seid ihr immer noch davon überzeugt, dass ich fällig bin?“, fragte Bount.
„Er hat das gewusst!“, schrie Ben. „Er hat uns in eine Falle gelockt!“ „Wir müssen abhauen!“, brüllte Rudy.
„Ich kann nicht allein“, erwiderte Ben, doch Rudy kümmerte sich nicht mehr um ihn. Jeder ist sich selbst der Nächste! Nach diesem Motto handelte Rudy. Er flitzte durch die Dunkelheit, während sich draußen die Polizisten verteilten.
„Rudy, du kannst mich hier doch nicht liegen lassen!“, brüllte Ben. Sein Komplize erreichte das Tor. Vier Suchscheinwerfer flammten auf und pendelten sich auf ihn ein.
Er schien auf einer Bühne zu stehen, angestrahlt von Spotlights, aber es war keine Bühne, sondern ein Präsentierteller, auf dem er sich befand.
„Werfen Sie die Waffe weg und ergeben Sie sich! Hier ist die Polizei!“
Laut dröhnte ihm die Lautsprecherstimme entgegen.
Aber Rudy war verrückt vor Wut darüber, dass er in eine Falle geraten war, und Verrückte sind unberechenbar. Obwohl ihn die Suchscheinwerfer blendeten, fing er an zu schießen. Damit löste er ein blitzendes und krachendes Kugelgewitter aus, das er nicht überlebte. Er zuckte zusammen, drehte sich um die eigene Achse, verlor die Waffe und vollführte einige Sekunden lang einen grotesken Tanz, ehe er zusammenbrach und reglos liegenblieb.
„Das hat das Schwein davon!“, schrie Ben. „Er wollte mich im Stich lassen!“
Bount wagte sich aus der Deckung hervor. Bis Ben ihn kommen hörte, war Bount schon bei ihm. Er setzte ihm die Automatic an den Kopf und nahm ihm den Revolver ab. Dann rief er den Beamten zu, dass er die Situation entschärft habe.
Sie stürmten trotzdem nicht sofort in das Lagerhaus, denn es musste nicht stimmen, was Bount gesagt hatte. Sie ließen es nicht an Vorsicht mangeln. Damit es zu keinen Missverständnissen kommen konnte, steckte Bount die Pistole ein, bevor der erste Cop das Lagerhaus betrat.
Eine Ambulanz traf ein. Rudy blieb für den Leichenwagen liegen, Ben wurde abtransportiert. Man sagte Bount, dass sich Toby Rogers auf dem Weg hierher befand. Er wartete auf den Freund. Der Captain kam nach dem Totenwagen. Er sah sich Rudy an, bevor die Männer ihn in den Sarg legten.
„Kennst du ihn?“, fragte Bount den Captain.
„Nie gesehen. Ein fremdes Gesicht“, antwortete Toby. Er musterte Bount. „Wie war's?“
„Ich hatte mit den Streifenwagen etwas früher gerechnet.“
„Tut mir leid, aber sie standen nicht gleich hier um die Ecke. Sie kamen, so schnell sie konnten. Dir macht man wohl nie etwas recht“
„Ich bin ja schon still“, sagte Bount. „Wenn es uns jetzt gelingt zu beweisen, dass diese Männer für Mike McLammon arbeiten, ist er dran“, sagte Toby.
„Ich werde versuchen, dich bei deinen Bemühungen zu unterstützen“, versprach Bount. „Aber nicht heute. Jetzt brauche ich erst mal ein paar Stunden Schlaf.“
„Komisch, du siehst nicht so aus, als wärst du durch den Fleischwolf gedreht worden.“
„Wenn du meine Beschwerden hättest, würdest du wochenlang jammern und wehklagen.“
„Ich weiß. Supermann und du, ihr seid die Besten,“
Bount fuhr nach Hause, und diesmal wurde er erfreulicherweise nicht erwartet. Eine angenehme, wohltuende Stille empfing ihn in seinem Büro-Apartment. Auf June Marchs gläsernem Schreibtisch herrschte wie stets peinliche Ordnung. Er durchschritt das Vorzimmer, und jetzt erst spürte er, wie fertig er war. Nahezu jeder einzelne Knochen tat ihm jetzt, da die nervliche Anspannung vorüber war, weh. Er schleppte sich in sein Apartment und kroch wenig später ins Bett. Auf den Schlaf brauchte er nicht lange zu warten. Er fiel wie ein schwarzes Ungeheuer über ihn her und glich einer tiefen Ohnmacht. Manche Fälle haben es ganz schön in sich, dachte er noch, dann war er weg.