Wilson Packer fühlte sich schon längst nicht mehr so wohl wie am Anfang. Es hatte an Irrsinn gegrenzt, sich überhaupt mit der Narranta einzulassen. Von Tag zu Tag lernte er sie besser kennen.
Oder hassen?
Heute hatte sie wieder einmal darauf bestanden, zum Fischen hinauszufahren. O ja. Sie war eine begeisterte Anglerin.
Und das Boot war kein sauberes Boot, nicht einmal nach mexikanischen Begriffen. Und der eingeborene Skipper murmelte nur irgendetwas vor sich hin, als sie an Bord kamen.
Packer sagte nichts. Es war ihm gänzlich einerlei, in welcher Stimmung sich der Besitzer dieses Schrotthaufens befand.
Er beobachtete den Gehilfen.
Der hatte ein von einem ungepflegten Bart bedecktes Leichengesicht. Normalerweise wäre er gegen anderthalb Meter groß gewesen, doch ein leichter Buckel, oder vielmehr ein Grat zwischen den Schultern, beugte ihn derart nieder, dass er kaum einen Meter zwanzig erreichte.
Sie fuhren am Homos vorbei, dem Strand, den die Acapulquenos bei Sonnenuntergang frequentierten, und Wilson erinnerte sich, wie er dort zum ersten Mal mit Dolores geschwommen war, als die flammend rote Sonne das Wasser ringsum mit kühlem Feuer anstrahlte und die Palmen hinter dem Strand als zauberhafte Silhouetten vor dem Purpurhimmel standen.
Hatte er Dolores da noch geliebt? Oder war er immer nur hörig gewesen?
Nun war er es nicht mehr.
Er schaute zu ihr hinüber, wie um das Trugbild, das er zu lieben geglaubt hatte, mit der jetzigen harten Wirklichkeit zu vergleichen, mit der Frau, die nun sorgfältig ihre Angelgeräte auspackte - die Hardy-Rolle, die sie irgendwann einmal aus England mitgebracht haben wollte, und die O'Brian-Angel, jene Angel, mit der sie Gelbschwänze vor Ensenada besiegt hatte, Thunfische bei den Guaymas, Marline in der Karibischen See und Torpone in den Wasserläufen der Mangrovensümpfe bei Key West. Mit fast allem, was sie besaß, ging Dolores Narranta reichlich sorglos um. Nur mit dieser Angel nicht.
Das Boot verlangsamte seine Fahrt, und Dolores steckte ihre Leine aus. Der Bucklige hatte eine Rute für Wilson Packer und schob den Griff der Angel in die Tülle seines Stuhls.
»Na, muchacho«, sagte sie. »Halt schon mal den großen Fischhaken bereit. Ich glaube, ich habe heute Glück.«
Als sich eine Zeitlang nichts ereignete, warf der Bucklige ein paar kleinere Fische als Köder für die größeren aus. Ein paar Minuten später erschien eine Seemöwe und tauchte im Kielwasser des Bootes nach den kleinen Fischen.
»Gaviota«, murmelte der Bucklige. »Verdammte gaviota.« Eine zweite Möwe kam und dann noch eine, und sie schwangen und segelten schwerelos über dem Heck. Es war eine kleine Art, sehr weiß, und Wilson erfreute sich an der Anmut der fliegenden Vögel.
»Verdammte gaviota«, murmelte der Bucklige wieder. Er griff in eine Tüte und holte einen kleinen Stein hervor - er musste die Steine für diesen Zweck mitgebracht haben - und warf sie nach den Vögeln. Er verfehlte sie knapp.
»Na los, muchacho«, sagte die Frau lachend. »Seit wann wirfst du denn so schlecht? «
Der Bucklige warf wieder, aber seine körperliche Missbildung behinderte ihn.
»Ich kriegen gaviota in Finger», sagte er in seinem gebrochenen Englisch, weil auch Dolores Englisch gesprochen hatte. Ich ...«
Statt einer Erklärung machte er ein hässliches knackendes Geräusch mit der Zunge und eine schnelle brechende Abwärtsbewegung mit beiden Fäusten.
Die Frau musste lachen, als sie sah, welche Wildheit plötzlich aus diesem erbärmlichen kleinen Kerl hervorbrach. Wilson Packer jedoch fing an, sich unbehaglich zu fühlen.
Nach einer Weile spürte er einen Ruck an der Schnur, zog die Angel zurück, wie Dolores es ihm beigebracht hatte, und senkte sie dann, während er eindrehte.
»Du hast einen dran - sieht aber nicht aus wie ein Dicker«, sagte Dolores. Sie konnte es nicht leiden, wenn ein anderer den ersten Fisch fing.
Als aber das Ding, das er gefangen hatte, näher ans Boot herankam, durchbrach es die Wasseroberfläche und schlug wie wild mit den Flügeln und stieß schrille Schreie aus.
»Verdammte gaviota«, zischte der Bucklige. »Zieh ein, zieh ein.«
Packer spürte, wie der Vogel an der Schnur zerrte, als er im Kampf um sein Leben das Wasser mit den Schwingen schlug.
»Hier«, sagte er und gab die Angel schnell an den Buckligen. Er versuchte, nicht hinzusehen, als der Vogel ins Boot gezogen wurde. Aber er musste auf seine Schreie lauschen; und als sie plötzlich lauter und ängstlicher wurden, wusste er, dass die wilden, sonnengeschwärzten kleinen Hände des Buckligen ihn festhielten. Er stellte sich vor, was er mit ihm anstellen würde - den Hals umdrehen oder an die Bordwand schlagen -, da hörte er, was der Bucklige mit ihm anstellte. Es war das gleiche Geräusch, das er mit der Zunge an den Zähnen gemacht hatte, als er den Vorgang pantomimisch darstellte.
Wilson schaute nicht hin, bis er sicher war, dass es vorüber sein musste, und dann erst drehte er sich um - in dem Augenblick, da der schlaffe weiße Körper aufs Meer hinausgeworfen wurde.
Mit ausgebreiteten Schwingen trieb er auf dem Wasser, so, als fliege er. Dann sah Wilson, wie der Vogel sich plötzlich bewegte und krampfhaft versuchte, sich von der Wasseroberfläche zu erheben.
»Dolores, er lebt ja noch! Er lebt! Er hat ihn gar nicht totgemacht!«
»Wo bist du denn gewesen?«, fragte sie. »Er hat ihm doch bloß die Flügel gebrochen und ihn wieder reingeworfen.«
Packer sah zu, wie das Heck sich vom verkrüppelten Vogel entfernte, der im Kielwasser auf und nieder tanzte. Die Möwe war jetzt stumm. Ihr Schweigen kam Wilson schrecklicher vor als ihr Schreien.
»Warum tut er das? Muss er das tun?«
Dolores lachte.
»Er hasst die Dinger wie die Pest. Behauptet, das war ihnen ’ne Lehre.«
Der Bucklige warf die Angel wieder für Wilson aus. Jetzt waren vier oder fünf Möwen über dem Boot.
»Ich glaube, ich habe keine Lust mehr zum Fischen«, sagte er.
»Wozu hast du dann Lust?«, fragte die Frau vorwurfsvoll. »Dass der Kleine für dich fischt?«
Es war leichter, merkte er, einfach dazusitzen und die Leine zu halten, als sich die ganze Zeit von ihr runtermachen lassen zu müssen. Doch er bat bei sich inständig, dass nichts mehr an beißen möge. Ein zweites Mal würde er's wohl nicht ertragen.
Wilson Packer, von der falschen Liebe einer schönen Frau aufs Glatteis geführter Graveur aus Pittsburgh, konnte die Augen nicht mehr von dem weißen Fleck lösen, der in der Ferne auf und nieder hüpfte. Er konnte spüren, wie das Tier mit seinen gebrochenen Schwingen hilflos um das Hochkommen kämpfte.
Plötzlich stieß Dolores Narranta einen Freudenschrei aus.
»Segelfisch!«
Das Boot erwachte zum Leben. Das Gesicht des Buckligen belebte sich mit einem satanischen Grinsen, und sogar die dunkle Indianermaske des Skippers leuchtete vor Freude und Hoffnung auf einen guten Fang.
»Ich hab ’nen guten!«, rief die Frau fröhlich und arbeitete mit der Angel.
Der Bucklige redete unverständlich auf Packer ein, und Dolores warf ihm mit vor Anstrengung rotem Gesicht einen bösen Blick zu.
»Dreh ein, verdammt! Dreh doch ein, zum Donnerwetter!«, rief sie.
Wilson hatte die ertrinkende Möwe beobachtet. Der Bucklige riss ihm die Rute aus der Hand und drillte wie wild, um die Schnur aus dem Weg zu bekommen.
Aber es war zu spät.
Der Segelfisch hatte Dolores’ Leine über die von Packer hinweg und dann unter ihr durchgezogen, und beide Schnüre gerieten nun hoffnungslos durcheinander.
Die Mexikanerin, die nun nicht mehr eindrehen konnte, ließ ihrer Wut freien Lauf. Wilson Packer bekam Wörter zu hören, wie er sie noch nie von einer Frau gehört hatte. Und am Schluss:
»Zum Donnerwetter! Wie oft hab ich dir das schon erklärt, du gottverdammter Blödkopf!«
Die verfilzten Leinen wurden schlaff, als ihr Segelfisch sich vom Haken löste.
»Ach, du gottverdammter Mist!«, fauchte die Narranta. »Der hätte mindestens sechzig Pfund gehabt.«
Beide Leinen lagen jetzt im Boot, und der Bucklige mühte sich angestrengt, die Verknotungen zu entwirren.
Es verging fast eine halbe Stunde, bis sie wieder fischen konnten. Die Sonne stand schon schräg und brannte trotzdem noch unbarmherzig nieder. Ein Dutzend Möwen folgte ihnen jetzt.
»Gaviota«, sagte der Bucklige. »Verdammte gaviota.«
In diesem Augenblick tauchten mehrere nach Dolores’ Haken, und ihre Angel zog scharf an.
»Blödes Biest! Jetzt hat bei mir auch noch eine angebissen.« Sie war so verärgert, dass sie nicht einmal eindrehen konnte. »Hier, muchacho. Mach du’s.«
Die Möwe, die angebissen hatte, schwang sich aus den Wellen und flog über das Boot und zog die Schnur im Schnabel mit. Wilson Packer sah sie genau über sich flattern und am Haken zerren und kreischen, als die Metallspitze sich ihr in die Kehle bohrte.
Sobald der Bucklige eindrehte, flog sie wild über ihren Köpfen umher. Bis der Bucklige mit einer geschickten Bewegung in die Höhe griff und den Vogel packte.
Bitte nicht«, flüsterte Wilson mehr bei sich. »Bitte nicht.«
»Augenblick«, sagte Dolores Narranta. »Gib mal her.»
Sie nahm den Vogel, wie der Bucklige es getan hatte, packte die Schwingen mit beiden Händen, knackte sie, und warf den Vogel ins Meer.
»Machst du's so, muchacho?«, fragte sie lachend.
Wilson sah zu, wie die Möwe auf dem Wasser lag und sich mit konvulsivischen Zuckungen zu erheben suchte.
Sie hatte es nicht einmal aus den gleichen Gründen wie der Bucklige getan: aus Hass auf alles, das perfekter war als er selbst. Es war ganz einfach etwas, das sie noch nie vorher getan hatte. Es war die Schlechtigkeit, die Bosheit, die wie ein Krebsgeschwür in ihr wucherte.
Wilson Packer legte die Hände an seinen Hals und spürte das Pochen. Er schloss die Augen vor dem harten, blendenden Glanz des Wassers.