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Der Zeitunterschied zwischen der amerikanischen Ostküste und Mexiko beträgt vier Stunden. Als Bount Reiniger in Pittsburgh zu Bett ging, war es in Acapulco schon weit nach Mitternacht. Wilson Packer konnte nicht schlafen. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Sein hagerer Körper war schweißgebadet, obwohl alle Fenster offen standen. Das Hotelgelände des Las Brisas wurde ebenso gut bewacht wie ein Gefängnis.

Der Vergleich hinkte nicht einmal. Die Touristen lebten hier in einem Ghetto, wenn auch in einem überaus feudalen. Aber das Land blieb ausgesperrt.

Dolores schlief schon seit ein paar Tagen nicht mehr mit ihm, und Packer vermisste diesen wilden Sex nicht. Er war verrückt gewesen! Wahnsinnig! Sich in eine Hure zu verlieben! Wo hatte er denn seinen Verstand gelassen, als er sie kennenlernte?

Inzwischen hatte selbst der Dümmste geahnt, dass er nur ein kleiner Faktor in einer großen Rechnung mit vielen Unbekannten war, doch dumm war Packer nur vor zwei, drei Wochen gewesen. Leidenschaft ade. Er war in der Stimmung, sich das Gehirn anzubohren, um endlich auch noch den letzten Rest von Dummheit und Scham hinauszulassen.

Dolores schlief in einem anderen Zimmer. Ihm war das nur recht so. Seine Liebe, oder auch seine Gier, oder wie auch immer man jenen Zustand bezeichnen mochte, dem er verfallen gewesen war wie einer schlimmen Krankheit - jetzt fühlte er sich davon befreit.

Dieser Nachmittag auf dem Meer hatte ihm die Augen endgültig noch viel weiter geöffnet, als ihm lieb war. Dolores Narranta, die Schakalin. Dolores Narranta, ein weiblicher Vampir, der einem das Blut aus den Adern saugte und mit ihm jeden Stolz. Wilson Packer schämte sich wie noch nie vorher in seinem kleinen Leben ohne Höhen und Tiefen. Dem Abenteuer war er erlegen, den Träumen, die jeder unscheinbare Mann hat und wohl auch jeder andere. Und da war eines Abends dieser Traum Wirklichkeit für ihn geworden. Eine Frau wie Dolores war in sein kleines Leben getreten.

Sie hatte ihn nicht angemacht wie eine Nutte. Gewiss nicht. Sie wusste sogar sehr intelligent zu plaudern, war belesen und hatte eine Ausstrahlung, die nur schwer in Worte zu fassen war. Deshalb hatte er das auch nie versucht. Willig wie ein Hund, der seine Duftspur verfolgt, war er seinen Illusionen aufgesessen, hatte als intelligenter Mensch tatsächlich einige Zeit lang geglaubt, das große Los gezogen zu haben.

Wer nichts wagt, der nichts gewinnt.

Und er hatte es gewagt.

Und alles verloren. Seine Illusionen, seine Träume. Immer wieder hörte er dieses grässliche Knacken, sah diesen weißen, armseligen Fleck auf dem Wasser schwimmen, und ihm ging auf, dass er selbst eine gaviota war. Nach einem Höhenflug abgestürzt, mit gebrochenen Flügeln, hilflos auf den Wellen treibend, den Wellen seines eigenen Lebensozeans.

Doch war er wirklich schon verloren? Ganz verloren? Steckte nicht auch in ihm noch ein letzter Rest von Selbstachtung? Musste er sich das alles wirklich gefallen lassen, oder gab es doch noch einen Ausweg für ihn? Ein Wunder vielleicht, das seine Flügel wieder heilte?

Er merkte, dass er im Begriff war, in seine alten Träumereien zurückzufallen, in denen er der Ritter war, der siegreiche Gladiator in der römischen Arena. Das war einmal die Welt eines einsamen, hässlichen Jungen in einem Waisenhaus gewesen. Eines Jungen, den niemand haben wollte, und den die anderen Jungen nach Lust und Laune prügelten und demütigten.

Und dennoch hatte er sich aufgeschwungen; wie eine Möwe, getragen von einem Talent, wie es nur wenigen geschenkt war. Und dann hatte er jene Köderfische gesehen, diese Lockung, und er war hinabgestoßen in ein Element, das nicht das seine war. Der Haken stach in seine Kehle. Mein Gott, tat das weh!

Wilson Packer schrie auf. Langgezogen. Gequält. In Todesnot.

Er saß aufrecht in seinem Bett, das Laken zerwühlt, als habe er mit den Armen um sich geschlagen wie mit Flügeln. Er musste kurz eingeschlafen und wieder aufgewacht sein von seinem Grauen und einem Entsetzen, das keinen Namen kannte.

Das Licht flammte auf. Dolores Narranta stand in der Tür, lehnte sich an, hatte eine Schachtel Zigaretten in der Hand und zündete sich eine an.

»Hast du nun vollkommen den Verstand verloren, mein armer Liebling?«

Der nackte Hohn. Die vollen Lippen in Ironie gekräuselt und Kälte im schwarzen Blick stand sie da, die schwarzen Haare aufgelöst und in weichen Wellen weit über die Schultern schwingend.

Gaviota ...

Packers Stimme überschlug sich in einem Möwenkreischen, als er aus dem Bett stürzte, mit nach vorn gestreckten Armen, um dieser Frau die Flügel zu brechen. Wie irrsinnig schnalzte er mit der Zunge gegen die Zähne. Knack. Knack. Knack. »Schwimm! Schwimm! Schwimm!«

Wilson Packer lief ins Leere. Die Frau war blitzartig zur Seite getreten, und er stürzte weiter in ihr dunkles Zimmer und auf ihr warmes Bett. Seine Hände zuckten im Handgelenk, aus seinem Mund floss Geifer.

»Schwimm! Schwimm! Schwimm!«

Er sah nicht, wie die Narranta mit einem Ausdruck des Ekels hinter ihn trat.

»Schwächling«, sagte sie, und es lag nicht die Spur des Bedauerns in ihrer Stimme, als sie Wilson Packer einen Handkantenschlag in den Nacken setzte.