Bount hatte sich den Reisestaub aus den Poren gewaschen und einen hellen Anzug angezogen. So steuerte er die Hotelbar im Erdgeschoss an. Der Tequila schmeckte nun mal in Mexiko am besten. Zu Hause trank er Scotch. Aber wenn er schon mal hier war?
Außerdem wollte er die Enttäuschung hinunterspülen. Die einstmals weiße Stadt der Azteken wurde von Besuch zu Besuch unerträglicher, jährlich wuchs sie um rund 600000 neue Einwohner, täglich um 1650, schon lebte fast ein Drittel aller Mexikaner hier. Wo gestern noch Brachland gewesen war, stand heute schon eine weitere Siedlung aus Pappkartons, Armut und Wellblech.
In der Bar war Reiniger trotz der Mittagsstunde nicht allein. Ein weiterer Amerikaner saß schon am Tresen. Er sah wie ein Geschäftsmann aus, weil er kein Hawaiihemd und Shorts, sondern einen dezenten grauen Anzug mit Binder trug. Auch er hatte ein Glas Tequila vor sich. Warum sich nicht ein wenig mit ihm unterhalten, um so vielleicht besser den Frust loszuwerden.
»Hello, Landsmann«, grüßte der Fremde jovial und wollte nicht länger fremd bleiben. Sofort streckte er die Hand aus und stellte sich vor. »Erfreut, Sie zu sehen. Ich heiße Sam Hester. Haben Sie auch geschäftlich in diesem traurigen Millionenkaff zu tun?« Bount nannte ebenfalls seinen Namen. »So könnte man's nennen«, sagte er und kletterte neben Sam Hester auf den Barhocker.
Der Amerikaner blieb beim Thema.
»Hübsch hässlich haben sie’s hier. Die Stadt versinkt um einen Fuß im Jahr. Wenn die Pumpen der Kläranlagen mal versagen, dann wird die ciudad gleich metertief unter ihrem Dreck liegen: Ein Ende wie aus Hollywood, Massensterben in der eigenen Scheiße. Montezumas ganz große Rache.«
Sam Hester lachte wie einer, der einen Witz schon sehr oft erzählt hat und sich seines Heiterkeitserfolgs sicher sein darf. Bount stimmte nur widerwillig ein, doch er wollte es sich mit dem Mann nicht verderben, denn er machte den Eindruck, als würde er sich hier auskennen. Besser als die Autoren der Reiseführer allemal.
Sie ließen sich dann gemeinsam noch über die Freuden aus, die einem diese Stadt bescherte, und kamen zu dem Ergebnis, dass New York City ein Luftkurort sei, Chicago ein grüner Friede und Tokio eine Zivilisationsoase. Langsam führte Bount das Gespräch zu jenen Fragen hin, die er beantwortet haben wollte.
»Das klingt alles, als seien Sie öfter hier«, sagte er. Sam Hester lachte wieder. Er lachte oft. Wie ein Vertreter. Und trank Tequila dazu. Etwas Salz auf den Handrücken gestreut, eine halbe Scheibe Zitrone in den Mund und den Schnaps hinterher.
»Das können Sie laut sagen«, meinte er. »Ich reise in Trikotagen, und die Leute hier halten doch ein sauberes Unterhemd schon für einen Sonntagsanzug.«
Lachen.
Bount konnte diesen Mann nicht so recht einordnen. Es war etwas an ihm, das ihn stutzig machte, er wusste nur nicht was. Der Bursche sah nicht übel aus. Leicht verfettet um die Hüften zwar, ein volles, aber freundliches Gesicht und sandfarbene Haare im Bürstenschnitt wie ein Staff-Sergeant bei der Army. Vielleicht war es das. Sam Hester hatte etwas schwer greifbar Militärisches an sich.
»Und wie steht es mit der Leihwagenfirma hier im Haus? Taugt sie was?«
»Sie wollen selbst fahren? Da werden Sie aber einer Menge Leute im Wege sein.«
»Kann ich auch nicht ändern. Aber ich will nach ...« Bount Reiniger musste den Zettel mit der genauen Anschrift Miguel Zapatas aus der Brieftasche nehmen. »... nach Nezahualcoyotl«, buchstabierte er mühsam. »Wissen Sie etwa, wo in der Stadt diese Unaussprechlichkeit liegt?«
»Im Norden«, antwortete Hester wie aus der Pistole geschossen. »Eine ciudad perdida, eine »verlorene Stadt». Mehrere Dutzend von ihnen umgeben die City wie Bettler den Reichen. Ich würde Ihnen nicht empfehlen, dorthin zu fahren, wenn Sie nicht unbedingt müssen.«
Doch gleichzeitig zog er bereitwillig einen Plan aus dem Jackett und breitete ihn auf dem Tresen aus, zeigte Bount die Route und das Ziel. Reiniger bedankte sich.
Er mietete dann einen Ford Galaxy mit ein paar Beulen rundherum und fuhr los.
»Paseo de la Reforma, eine der prächtigsten Straßen der Welt«, hatte Bount in einer der im Hotelzimmer ausliegenden Broschüren gelesen, die von einer ganz anderen Straße in einer ganz anderen Stadt zu berichten schienen.
Wo war die Pracht?
Traurig verstaubte Koniferen und Eukalyptusbäume sah er, Allerweltsfassaden mit Allerweltsmarkenzeichen, und er sah und roch schon wieder Tausende von Abgasschwaden, die aus schadhaft blubbernden Auspuffrohren von der chaotisch gestauten Avenue langsam in die Höhe stiegen, wo es irgendwo den blauen Himmel geben musste, den er vor wenigen Stunden vom Flugzeug aus noch gesehen hatte.
Es ging kaum voran, weil wiederum jeder unausgesetzt seinen Fahrstreifen wechselte, und wenn Bounts Volant-Nachbarn den Gringo in ihm erkannten, hatten sie allesamt den Ehrgeiz, sich hupend vor ihm einzureihen. Reiniger war wirklich - wie Hester gesagt hatte - einer Menge Leute im Weg.
Es war heiß, stickig und staubig. Durch die geöffneten Fenster kam der Dreck und legte sich lästig auf Lippen und Schleimhäute. Keine Rede von der schönen Luft, die in 2300 Metern Höhe eigentlich heimisch wäre. Zeitungsjungen turnten durch die Blechlawine und schrien gegen tausend Hupen an. Kleine Rotznasen mit Indianergesichtern putzten mit bespuckten Lappen Windschutzscheiben und reckten dann bettelnd erbärmlich dünne Arme ins Wageninnere, ehe sie mit grotesken Sprüngen vor der röhrenden Karawane flohen, wenn sie sich wieder in Bewegung setzte. Aber einige blieben tollkühn auf der Straße und hielten ihre Zeitungen hoch, Erfrischungstücher, Blumen, Kaugummi und geschmuggelte Zigaretten aus aller Herren Länder.
Irgendwo jaulte eine Polizeisirene hilflos, dann kam von irgendwo noch eine und wurde von der schon wieder stehenden und blökenden Automasse gestoppt, die aus jeder Nebenstraße hundertfachen Zuwachs erhielt.
Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis Bount Nezahualcoyotl erreichte. Nein, keine Aztekenstadt. Diese Leute hatten ihr »Tenochtitlan« und ihr »Tlatelolco«, die Residenzen, die bis zum Einbruch der Europäer und ihrer überlegenen Kultur hier gestanden hatten, noch sauber gehalten. Ein Nachbar, der einen anderen Nachbarn mit dem Rauch seines Herdfeuers störte, wurde zum Tode verurteilt. War ja auch nicht gerade das Gelbe vom Ei.
Und jetzt Blechhütten, Hütten aus Stein und aus Holz, noch längst nicht überall Elektrizität, ein Wasserhahn für 5000 Menschen.
Manchmal, wenn eine Windbö aufkam, verhüllte fliegender Sand das schlimme Bild. Aber dann war es wieder da, und die Figuren des Bildes lebten: gebeugte Alte mit leeren Augen in tief durchfurchten Gesichtern, teilnahmslos hockende Indios, kleine, schwangere Mädchen, fast haarlose, ruhelos schnüffelnde Hunde. Und Kinder, überall Kinder. Katholisch getaufte sowieso. Es war eine Gegend, in der alle Hoffnungen starben.
Straßenschilder gab es keine. Reiniger stellte den Ford Galaxy vor einem riesigen Kino ab. Es hatte kein Dach, nur Stacheldrahtpalisaden mit Stofffetzen dazwischen und eine Kasse. Vor der Witterung geschützt stand nur der Projektor in einem Holzverhau. Zurzeit lief der Film »Die oberen Zehntausend«. Bount kam sich trotzdem vor wie ein Mann von einem anderen Stern.
Und hier die Adresse eines Miguel Zapata finden?
»Ausgeschlossen«, murmelte er.
Sein Blick glitt in die Runde. Denn aufgeben, nur weil er vor unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten stand, wollte er natürlich auch nicht.
Das hatte er noch nie gewollt.
Er sah eine Open-Air-Bar gegenüber, eine recht hochtrabende Bezeichnung für jenes Freiluft-Etablissement, dass nur zwei Ziegelmauern im Winkel zueinander hatte, einen Kühlschrank in der zwangsläufig einzigen Ecke und eine Bastmatte über zwei langen Klapptischen und Klappbänken. Den Tresen bildeten übereinandergestapelte und zusammengenagelte Obstkisten. Auf dem Kühlschrank quäkte ein Transistorradio von der Liebe und einer rosaroten Zukunft. Sänger, Texter und Komponist wohnten vermutlich weit außerhalb von Mexico City.
Bount ging hinüber. Den Tequila konnten sie nirgendwo verderben. Nicht einmal diese triste Umgebung schaffte das.
Reiniger fühlte sich falsch angezogen. In Sack und Asche hätte er kommen sollen, und nicht in einem weißen, knitterfreien Anzug. Auch seine Schuhe passten nicht, denn sie hatten bei Macy’s an der 5th Avenue in Manhattan hundertzwanzig Dollar gekostet.
Trotzdem stellte er den linken Ellbogen auf die Obstkistentheke und ließ die Rechte locker baumeln, um im Bedarfsfall schneller nach seiner 38er Smith & Wesson greifen zu können. Bei der mexikanischen Zollabfertigung nahmen sie es nicht so genau.
Wenn eine Zehn-Dollar-Note im Pass steckte.
Bount hatte zwanzig Bucks gelöhnt.
Doch die Automatik bewahrte ihn jetzt nicht vor Blicken des Neids und der Begehrlichkeit. Düster glimmende Augenpaare starrten ihn an, das Dominospiel ruhte. Mit ihm und dem Keeper, er hatte nur einen Arm, waren sie zu sechst im Lokal«.
In dieser Situation entschloss sich Reiniger zu einem Akt der Vorwärtsverteidigung. Er kramte seine Spanischkenntnisse zusammen und fragte die Anwesenden mit aller ihm zur Verfügung stehenden Grandezza, ob sie geneigt seien, einen Drink auf seine Kosten mit ihm einzunehmen, es dürften auch zwei sein. Weil Reiniger ein fast perfektes, wenn auch leicht schulmäßiges Spanisch sprach und sie einem furchtbaren Dialekt huldigten, fanden sie den Gringo lustig.
Damit brach der Bann, die Männer begannen zu lächeln. Die Einladung nahmen sie an, baten Bount sogar an ihren Tisch. Das Dominospiel war vergessen. Sie prosteten sich zu, während Bount sich überlegte, wie er denn nun zur Sache kommen sollte.
Er wählte eine halb direkte Methode, erzählte, dass er drüben in den Staaten kürzlich einen gewissen Miguel Zapata kennengelernt, sich mit ihm gut verstanden und deshalb von ihm eine Adresse hier in Nezahualcoyotl erhalten habe.
Und wie er sich jetzt darüber wundere.
Denn das sei wohl nicht ganz die Umgebung, in der er ihn vermutet hatte.
Bount musste dabei in seiner Wortwahl ungeheuer vorsichtig sein, denn »muy macho« waren sie auch hier.
Aber er schaffte diese Hürde. Die Männer begannen, für jede Abwechslung in ihrem tristen Arbeitslosenalltag dankbar, miteinander zu diskutieren.
Und kamen wider Erwarten zu einem Ergebnis.
Einer wollte Miguel Zapata sogar persönlich gekannt haben. Der Mann war auf einem Auge blind, die Pocken hatten sein Gesicht zerfressen.
Doch er half Reiniger weiter.