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Wie eine junge, straffe Mädchenbrust sieht der Popocatépetl nur von Weitem aus. Doch an seinen Hängen, in Höhen, in denen noch Bäume auf fruchtbarer Lava Asche wachsen, ist der Berg zerklüftet wie die grandios vergrößerte Haut eines hundertjährigen Lederapfels. Da gibt es Canyons und Arroyos, Höhlen, von den Maden der Zeit gefressen, die sich tief ins Basaltgestein bohren, und Verwerfungen, von unkalkulierbaren Strömen flüssigen Gesteins gegossen und wieder umgebildet von den zahllosen Erdbeben und dem ständigen Rumoren im Inneren des »Rauchenden Berges«.

Der Cadillac Fleetwood passierte eine Hazienda, die Pele Mirador selbst gehörte, und die auch bewirtschaftet war. Die angegliederte Taverne galt als Geheimtipp bei Mexico Citys Geld und Gourmet-Adel und hatte nur an vier Abenden in der Woche geöffnet.

Doch der pompöse Haziendero, Kneipier und Falschmünzer fuhr weiter, bis die asphaltierte Strecke vor einem Außenposten des landwirtschaftlichen Betriebs endete. Keinen Meter weiter hätte er seinen Cadillac gequält.

Auf Wilson Packer nahm er diese Rücksicht natürlich nicht. Er packte den hageren Mann robust am ausgekugelten Arm und riss ihn so heraus aus seiner chemischen Schläfrigkeit und unpersönlichen Agonie.

Packer schrie auf, doch hier durfte er schreien. Ganz kam er trotzdem nicht zu sich; nur halb.

Trotzdem kriegte er mit, dass er umgeladen wurde wie ein Sack Stroh, er wog auch nicht viel schwerer. Sie warfen ihn auf die Pritsche eines GM Pickup mit Vierradantrieb. Die Narranta hielt ihn an den Beinen.

»Kommst du jetzt alleine klar?«, fragte Onkel Pele, und sie nickte.

Dolores Narranta hatte die Haare wieder streng aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Der Mittelscheitel leuchtete weiß. Sie trug khakifarbene Breeches zu einem weiten, olivfarbenen Rangerhemd. Doch nicht einmal dessen großzügiger Schnitt konnte die Großzügigkeit ihrer Brüste verbergen.

Packer hatte kein Auge mehr dafür. Er wimmerte leise vor sich hin.

»Einen Arzt! Bitte einen Arzt!«

Wenigstens aus seiner Agonie war er inzwischen wieder erwacht.

»Du wirst es noch erwarten können«, sagte sie kalt und gefühllos. »Corto renkt dir alles mit einem Ruck wieder ein, du Waschlappen.«

Mehr gab es für sie nicht zu reden. Mirador stieg wieder in seinen Fleetwood, und die Narranta klemmte sich hinters Steuer des kräftigen Farmwagens. Sie brauchte keine Angst zu haben, dass Packer unterwegs abspringen würde mit seinem lahmen Flügel. Der kräftige Sechszylindermotor kam mit einem satten Röhren.

Nach diesem Außenposten gab es keine Straßen mehr und keine Wege. Anfangs holperte der Pickup noch mit zwei angetriebenen Rädern durch die Gegend, doch schon bald musste sie den Vierradantrieb zuschalten. Das Gelände wurde steiler, unübersichtlicher und steiniger. Ein Bachlauf querte die Strecke, und die Narranta folgte ihm von jetzt an. Wilde Bienen summten.

Ein enger Taleinschnitt tat sich nach einer Viertelstunde vor ihr auf, getarnt durch Akazien und niedrige, zähe Salbeibüsche, die sich nach der Durchfahrt wieder aufrichten und die Spur verdecken würden. Nicht einmal aus der Luft würde man ihren Weg verfolgen können.

Die weitverzweigte Grotte, die ihr Ziel war, hatte Dolores Narranta schon als Kind gekannt. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern - ihr Vater wurde wegen Mordes garrottiert, die Mutter starb aus Gram - war sie bei ihrem Onkel aufgewachsen.

Damals hatte er nur eine sehr kleine und bescheidene Hazienda besessen.

Bis er eben «seine« Marktlücke entdeckte.

Früher hatten mexikanische Automaten bis auf Hosenknöpfe beinahe alles geschluckt, was rund war. Doch die Automaten wurden besser, und Pele Miradors Wissen um die Falschmünzerei wuchs mit den neuen Anforderungen.

So hatte alles angefangen. Vor vielen, vielen Jahren.

Und nun schwang fast schon die Nichte allein das Zepter. Der Onkel hatte sie in eine gute Schule gesteckt und ihr sogar den Besuch eines Internats in Neuengland ermöglicht. Doch die junge Dolores, aufgewachsen wie ein Fohlen auf der Weide, hatte sich nie um Etikette und Benimm geschert, das lernte sie nur so nebenbei.

Dafür hatte sie ein neues Denken aus den Staaten mitgebracht. Sie dachte erstens an Expansion, zweitens an Expansion und drittens auch noch. Und so war sie eben darangegangen, den Kleinbetrieb Pele Miradors zielstrebig auszubauen und zu erweitern.

Die Schlucht wurde enger. Kahle Felswände ragten auf. Nur ab und zu klammerte sich noch ein Busch, ein Strauch in die Ritzen. Die Sonnenstrahlen erreichten den Talgrund nur in einer kurzen Mittagsstunde, doch die war bereits vorüber. Es wurde kühl wie in einem guten Keller. Die Frau fuhr jetzt sehr langsam, kam nur mehr schrittweise vorwärts. Hinten auf der Pritsche schüttelte es Wilson Packer durch wie auf einem Rüttelsieb.

Er war wieder in Ohnmacht gefallen, doch die Narranta schaute sich kein einziges Mal zu ihm um. Corto würde den Mann schon wieder hochpäppeln. Damit er seine Arbeit tun konnte; den letzten Auftrag seines Lebens erfüllen.

Nur noch zweihundert, dreihundert Meter, noch zwei scharfe Krümmungen. Der Bach war zu einem dünnen Rinnsal verkommen, doch er versiegte auch in den heißesten Monaten nie. Und Wasser brauchten sie hier für ihr Vorhaben.

Schließlich öffnete sich der schmale Arroyo zu einem kleinen Kessel, gerade groß genug, dass der Farmwagen mit einiger Mühe und vielem Rangieren wenden konnte.

Die Narranta ließ ihn stehen. Corto Ivanez sollte das erledigen.

Und dann tauchte der Mann auch schon auf aus einem tropfenförmigen Riss in der Felswand. In der Armbeuge hielt er ein Enfield-Schnellfeuergewehr. Teile der mexikanischen Armee waren damit ausgerüstet, und immer wieder mal gingen Waffen »verloren«.

Ivanez wusste bereits, dass sie kam. Onkel Pele musste sie inzwischen über ein Walkie-Talkie angekündigt haben, das aus derselben Quelle stammte wie die Enfield. Nur die normale, gummibeschichtete Antenne tat es hier bei diesen Geländeverhältnissen natürlich nicht. Ein feiner Kupferdraht führte hinauf zum nächsten Bergkamm und endete bei einer Antenne, wie man sie auch bei Fernsehportables kennt und benützt, und die in jedem Warenhaus zu kaufen waren.

Corto rührte sich nicht. Sein Gesicht blieb maskenhaft starr. Es war das Gesicht eines Indios mit hart hervorspringenden Wangenknochen und so eng geschlitzten Augen, dass man die Pupillen dahinter nur ahnen konnte. Seine blauschwarzen Haare sahen aus, als hätte er sich einen Topf auf den Kopf gesetzt und selbst drum herumgeschnitten. Vorn hingen ihm die glatten Fransen tief in die Stirn. Corto Ivanez trug Ohrringe aus Messing, ein T-Shirt aus Wildleder und verwaschene Jeans. Seine Schuhe hätten aus der Sandalenfabrik in Nezahualcoyotl stammen können.

Er sagte auch nichts. Er gehorchte nur.

Dolores Narranta bellte ihm ein paar Befehle in seinem eigenen Dialekt zu. Danach stellte der Halbmestize - in seinen Adern kreiste hauptsächlich indianisches Blut mit nur einem winzigen Schuss »weißem« - das Gewehr sorgfältig neben den Höhleneingang und lud sich den Bewusstlosen auf die Schulter. Packers Gewicht schien er nicht zu spüren.

Die Frau ging schon voraus.

Rechts blakte eine Öllampe auf einem roh zusammengezimmerten Tisch und beleuchtete ausschließlich den nächsten Umkreis. Nur das Echo von Dolores’ Schritten ließ erahnen, wie groß die Höhle wirklich war.

Tausendfach verästelt führte sie tief in den Berg hinein. Es gab Säle, Kammern und Korridore in mehreren Etagen. Das Ganze erinnerte ein wenig an die Felsenstädte der vorgeschichtlichen Stämme in New Mexico, Arizona und Nevada.

Und tatsächlich gab es Spuren früherer Bearbeitung auch hier.

Der Boden des bei Licht besehen domartigen Gewölbes war glatt geschliffen. Im Hintergrund führten Treppen nach oben zu einer Art Galerie mit mannshohen Löchern darinnen. Die Frau hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, ob das vielleicht einmal die Kultstätte eines ausgestorbenen Volkes gewesen sein könnte. Ihre Interessen waren allein gegenwärtiger Natur.

Deshalb standen auch keine antiken Altäre herum, um darauf eventuell ein paar Menschenopfer für einen vergessenen Gott zu zerstückeln, sondern eine hochmoderne Druckmaschine aus Heidelberg, die Einrichtung eines Labors, wie ein Galvanisierbetrieb es braucht, ein moderner Japan-Kopierer, Reißbrett, sowie eine Vielzahl von Kisten. Es war noch nicht alles ausgepackt.

Alles Altäre allein für Gott Mammon.

Und selbstverständlich fehlte auch ein leistungsfähiger Generator nicht. Er stand in einer Nebenkammer und wartete auf seinen Einsatz. Er verwandelte Dieselkraftstoff in Wechselstrom.

Hier in der Grotte war es deutlich wärmer als draußen am Grund der Schlucht. Ab und zu tönte ein fernes Grummeln. Dort schlug das heiße Herz des Popocatépetl.