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Normalerweise mied Bount Reiniger die 42. Straße. Der Kinderstrich rund um die Uhr, die Dealer an jeder Ecke und auch dort, wo keine Ecken waren, der Auswurf der Grand Central Station, der sich nur widerwillig in das übrige Midtown-Manhattan zu verteilen schien; wie klebrige Marmelade.

Doch er hatte in der Gegend zu tun gehabt und fasste nun den Entschluss, hier eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen.

Zwölf Uhr mittags.

Er hatte einen gemeinen Hunger, Sehnsucht nach einem mittelbürgerlichen, ausgewachsenen Steak. Möglichst, aus einem saftigen Stück Rindfleisch, angefressen in der Pampa von Argentinien.

Alle Himmel waren lieb mit Reiniger. Gerade als er sich frustriert in den Fußgängerstrom zum Times Square einordnen wollte, entdeckte er ein Reklameschild, das zum Besuch eines Restaurants mit dem hübschen Namen »El Ranchero«, einlud. Gleich in die nächste Seitengasse.

Bount ging wie auf Engelssohlen. Seit zwei Tagen hatte er nichts Richtiges mehr gegessen und praktisch nur von Sandwiches gelebt.

Das Leben war schon hart.

Selbst für einen Privatdetektiv der Spitzenklasse und einen Hoch bis Höchstverdiener dieser in den Staaten absolut nicht anrüchigen Branche. Um überhaupt eine Lizenz zu kriegen, musste einer eine ganze Strecke von Hürden nehmen, die jenen eines hoch dotierten Springreit-Derbys an Schwierigkeiten in nichts nachstand.

Fiel auch nur ein einziger Balken: Schluss. Aus. Amen.

Bount war schon seit Jahren im Geschäft. Presse und vor allem auch die Unterweltgrößen hatten ihm seinen ungeliebten Kampfnamen verpasst: Bount Reiniger.

Nun, damit konnte er leben.

Aber mit seinem Kohldampf nicht. Er hatte wieder mal einen Vormittag im Gerichtssaal hinter sich. Auch so ein Aspekt seines Berufs, der in den einschlägigen Fernsehserien hermetisch ausgeklammert wurde. Es sei denn, der Held hieß ausgerechnet Perry Mason.

Immerhin, das hatte auch sein Gutes: Weil er ständig Kopf und Leben für die verschiedenartigsten Klienten riskieren musste, waren seine Sinne geschärft wie das Skalpell eines Chirurgen.

Anders ist es nicht zu erklären, warum er sich ausgerechnet in jenem Moment umdrehte - trotz seiner Steak Lust -, als eine ältere Dame gerade hurtig an ihren mit geschmacklosen Papierblumen dekorierten voluminösen Hut griff, eine Art Stricknadel daraus hervorzog und nun damit genau auf Reinigers Augen zielte.

»Svinska majku!«, kreischte sie dazu in höchstem Damen-Falsett. Das hohe C verfehlte sie nur knapp.

Bount nahm an, dass das keine besonders schmeichelhafte Anrede war, und er hatte vollkommen recht damit. Doch diese gottverdammte Hutnadel störte ihn im Moment noch mehr.

Normalerweise hatte er mit alten Damen nicht viel im Sinn, es sei denn, sie fächelten ihm mit dicken Scheckbüchern Frischluft zu. Doch hier musste er wohl mal eine Ausnahme machen. Und das noch mitten auf einer der belebtesten Straßen Manhattans.

Gedankenschnell fuhr seine Linke hoch, blockte den Stich ab, und genauso gedankenschnell drehte er sich an die Seite der Frau und umfasste ihre Taille galant, soweit sie noch über eine verfügte. Reinigers erstem Eindruck nach musste die fremdsprachige Dame die Siebzig schon um einiges überschritten haben.

»Spielen Sie um Himmels willen nicht verrückt, Lady!«, raunte er dicht an ihrem Ohr, während die davongeflogene Hutnadel sich widerwillig klirrend in einen nahen Gulli begab.

Reiniger durfte dabei ziemlich laut raunen, denn der Lärm auf der 42sten war wie immer um die Mittagszeit mindestens ebenso mörderisch wie die Lady in Black.

Ja. Ein schwarzes Kleid trug sie unter ihrem schwarzen Mantel. Bunt war an ihr nur der Hut gewesen, und jetzt sah ihr Bount auch ins Gesicht. Die dicken Puderschichten füllten die tiefen Falten nur unvollkommen.

Und sie duftete nach Lavendel, ein Geruch, den Reiniger unter anderen Umständen durchaus schätzte.

Aber jetzt?

Er hatte sie ein wenig hochgehoben, eher versehentlich, denn sie war leicht wie eine Feder. Und ihre Gesichter waren sich ganz nah.

Sie starrte. Mit plötzlich riesengroßen Augen hinter einer leicht verschobenen, riesengroßen dickglasigen Brille, deren Dioptrien sich wohl auch in einem Mikroskop nicht schlecht ausgemacht hätten.

»Sie sind ja gar nicht der, den ich meinte!«

»Freut mich«, brummte Reiniger. »Das hatte ich von Anfang an angenommen. Und für wen hielten Sie mich nun?«

Die Lady stand wieder auf ihren eigenen Beinen. Bount hatte sie vorsichtig zurückgesetzt. Das Chaos der 42nd Street West flutete nach wie vor so uninteressiert an ihnen vorbei, als hätte dieser kleine Mordanschlag nie stattgefunden.

»Müssen wir das auf der Straße besprechen?«, fragte die dürre Lady flott dagegen. Auf einmal sprach sie ein recht gutturales, wenn auch durchaus verständliches Englisch. »Ich lade Sie ein, Mister, wer immer Sie auch sind. Ein paar Schritte weiter gibt es ein exzellentes argentinisches Restaurant mit den saftigsten T-Bone-Steaks von New York. Obrustite! Entschuldigung. Aber von hinten sahen Sie wirklich aus wie ein gewisser Vlatko de Figuera.«

»Muss ich mich jetzt bedanken?«

»Der Himmel bewahre Sie davor!«

»Danke, lieber Himmel«, murmelte Bount Reiniger ohne jede Andacht.

Da kam doch wieder mal etwas auf ihn zu! Irgendetwas markant Scheußliches wahrscheinlich.