Bount Reinigers Whisky-Vorrat war fast aufgebraucht, er selbst erledigt und June Marchs Notizblock voll, nachdem Contessa Theresa di Saglioni sich am späten Nachmittag verabschiedet und Bounts Büro trotz ihrer dürren Gestalt »rauschend« verlassen hatte.
»Was für eine gewaltige Frau!«, meinte auch das weizenblonde Minnesota-Girl nicht ohne innere Erschütterung. »Sie hat dich über den Haufen gefahren, Chef.«
»Und wem sagst du das?«, stöhnte Bount. »Glaubst du, das wüsste ich nicht?«
»Doch Ihr Scheck hat dir gefallen!« Die March gab sich eine Spur gelassener als ihr Chef.
Bount musste das zugeben. Spendabel war sie ja gewesen, die alte Dame. Geiz schien nicht zu ihren Eigentümlichkeiten zu gehören. Sie hatte ihn auf zehn Tage im Voraus bezahlt, und sein Tagessatz betrug immerhin 500 Dollar. Spesen kamen noch hinzu.
Doch inzwischen wusste er auch, dass sie seit Jahren stets dieselbe Suite im Waldorf Astoria bewohnte; auch nicht gerade die billigste Art, in New York die Nacht zu verbringen. Ihr Gräfinnentitel war echt und tatsächlich so alt, wie sie behauptete. June hatte inzwischen im europäischen Adelsalmanach nachgeschlagen. Theresa die Saglioni stammte sogar in direkter Linie von den Staufern ab. Friedrich II. gehörte noch zu ihren Vorfahren, ein paar Päpste zählten zu ihren ehemaligen Verwandten. Einst hatte ihrer Familie sogar ganz Susak gehört, und die Bewohner dort waren deren Leibeigene gewesen.
Eine Verbindung zur berühmten Giftmischerin Lucrezia Borgia, der leiblichen Tochter Papst Alexanders IV., gab es tatsächlich. Doch jene Dame hatte natürlich die Stadt Ferrara unsicher gemacht, während die Saglionis einem venezianischen Patriziergeschlecht entstammten.
Und ihr »Verbrechen« hatte darin bestanden, dass sie vor den Nazis ihr Vermögen zeitig genug in die Schweiz in Sicherheit brachte, und Titos frühe Vasallen hatten sie an die Wand stellen wollen, weil sie es auch ihnen nicht aushändigen wollte, damit sie sich auf Brioni oder sonst wo im Land hübsche, kapitalistische Villen bauen konnten.
So war es dieser agilen Lady gelungen, wegen ein und desselben Deliktes auf zweierlei Arten verurteilt zu werden: faschistisch und kommunistisch. Dass sie sich daraufhin zum Weltbürgertum bekannte, sich auf Reisen begab und jeden »Ismus« seither von Herzen verabscheute, war deshalb für Bount Reiniger nicht weiter verwunderlich.
Er hätte gern einen ähnlichen Lebensstil gepflegt, nur leider - er musste arbeiten.
June March, das weizenblonde Minnesota-Girl mit dem kornblumenblauen Unschuldsblick, verdiente bei ihm ein horrendes Gehalt. Und so ein Mercedes 500 SL Roadstar, wie Reiniger ihn fuhr, war ebenfalls nur 100.000 Dollar billig.
Er dachte manchmal ernsthaft daran, seinen Tagessatz auf 600 Bucks aufzustocken. Oder wenigstens nach Abu Dhabi umzusiedeln, wo es bekanntlich überhaupt keine Steuern gibt. Doch dort hätten ihm letztendlich vermutlich diese knallharten New Yorker Winter gefehlt.
June riss ihn feminin aus seinen machoheldischen Gedanken: »Schläfst du ein, Bount, oder können wir endlich weitermachen?«
»Mach Kaffee!«, brummte Reiniger unwirsch. »Dir kann er auch nicht schaden.«
Die March war nicht beleidigt. Sie konnte Bount dessen derzeitige Seelenlage sogar in gewissem Rahmen nachfühlen. Dieser arme Tropf, der sich als ihren Chef bezeichnete, hatte sich von einer verschrumpelten, uralten Lady von noch urälterem Adel in einen Auftrag scheuchen lassen, der hoffentlich nicht tödlich endete, aber ihm dennoch alles abverlangen würde. Bis hinein in die letzten Ressourcen seiner psychischen und physischen Substanz.
Ausnahmsweise wollte June diesmal nicht persönlich mitspielen. Denn normalerweise drängte sie sich durchaus auch mit an die vorderste Front.
Die March erhob sich mit knisternden Nylons: Immer wieder eine halb pornoide Veranstaltung, weil sie keine Miniröcke trug, sondern etwas zu breit geratene Minigürtel, aus den erlesensten Stoffen allerdings. Heute war es seidig glänzender Chintz, der Quadratmeter zu 300 Dollar.
Mehr als 100 Dollar hatte der Rock bestimmt nicht gekostet.
Bount schaute ihr nicht einmal nach, ignorierte sogar die charmant wiegenden Hüften, denn er hatte sich an diesem einzigen Nachmittag mindestens zwei Dutzend Probleme auf den Buckel geladen.
Ein gewisser Josip Pavlekovic hatte die Lady vor dem Erschießungspeleton der an die Macht geratenen ehemaligen Partisanen bewahrt. Gegen bare Münze zwar, wie Theresa heute behauptete, aber dennoch ebenfalls unter dem Einsatz seines eigenen Lebens. Und weil Theresa di Saglioni selbst so gern lebte - sie musste früher eine ziemliche Schönheit von lockerer Moral gewesen sein - hatte sie andererseits ihren früheren Retter nie ganz vergessen.
Reiniger nahm stark an, dass zwischen diesen beiden noch etwas mehr gewesen war als nur die Flucht und die Beihilfe dazu, doch das ging ihn schließlich nichts an.
Dann trennte sich Josip Broz, besser bekannt unter dem Namen Tito, schon im Jahre 48 von Stalin, weil er dessen Gräuelregime nicht mehr gutheißen mochte, und von da ab kehrten auch im brandneuen Jugoslawien zivilere Verhältnisse ein. Er gewöhnte seinen eigenen Genossen deren schnell erblühte Raubrittermentalität mit harter Faust wieder ab, rasch konfisziertes Eigentum wurde reprivatisiert. Freilich nicht alles.
So verlor Theresa di Saglioni ihre sämtlichen Landgüter und Fabriken, bekam ein paar zerschossene Paläste sowie einige renovierungsbedürftige Häuser zurück. Natürlich ließ sie sich dadurch trotzdem nicht verleiten, ins Land zurückzukehren.
An ihrer Stelle schickte sie dagegen eine Handvoll international renommierter Anwälte, die dann endgültig retteten, was an Immobilien noch zu retten war und bei dieser Gelegenheit auch gleich die Amnestie der flotten Theresa bewirkten, die Straffreiheit im Gefolge einer Aufhebung des damaligen Urteils, das noch von einem schnellentschlossenen Revolutionsgericht gefällt worden war.
Und immer noch blieb die Gräfin aus Ragusa beharrlich im Ausland. Keine zehn Pferde brachten sie vorerst zurück und auch keine zwanzig. Sie verscherbelte nur, was zu verscherbeln war, erreichte noch eine Entschädigungszahlung von beträchtlicher Höhe, hatte zu ihrem großen Leidwesen jedoch auf die Zahlung eines »Schmerzensgeldes« verzichten müssen, denn zum Zeitpunkt ihrer Festnahme und der Verurteilung war noch Krieg gewesen.
Dennoch hatte es noch viele, viele Jahre gedauert, bis Theresa di Saglioni wieder den Fuß in dieses hübsche Ländchen von den Ausmaßen Arizonas setzte, nachdem sie es erst einmal von ein paar Millionen europäischer Touristen auf dessen Sicherheit und Gefahrlosigkeit hatte testen lassen. Ein bisschen Altersheimweh wird wohl auch dabei gewesen sein. In diesem Punkt erging es ihr um keinen Deut besser als den Greisen von Susak.
Und bei einem dieser Besuche hatte sie eben auch den Kontakt mit jenem Josip Pavlekovic wieder aufgenommen. Weil der Mann nie bei der Partei gewesen war, hatte er selbstverständlich auch kein Vermögen anhäufen können, sondern hauste immer noch in seiner kleinen Kate im Velebit, jenem gigantischen Steinhaufen hinter der Küste von Zadar, und hütete seine Ziegen, machte Käse aus ihrer Milch und verkaufte ihn an der Straße, wenn er Bargeld für Tabak und Zigarettenpapier brauchte. Während der Touristenmonate verdingte er sich als Gärtner an eines der zahllosen Hotels an der Küste und kam so einigermaßen, wenn auch nur mit Anstand, über die Runden.
»Als ich ihn zum ersten Mal wiedersah«, war die Prinzessin an dieser Stelle fortgefahren, »hatte er eine heruntergearbeitete, verhärmte Frau und eine kleine Tochter, ein hochintelligentes Mädchen ohne jede Bildung. Ich glaube, Marija hieß sie. Ja. Marija Tereza ...«
Und wie hatte die alte Dame bei der Nennung dieses Namens stolz gegrinst! Der Puder war ihr wie Neuschnee aus dem Gesicht auf das schwarze Kleid gerieselt ...
»Und Sie haben sich daraufhin entschlossen«, meinte Bount, »selbstlos wie Sie nun mal sind, die Sache ein wenig in die Hand zu nehmen und Schicksal zu spielen.«
»Verarschen Sie mich nicht, junger Mann!«, antwortete sie streng. »Die Leute haben mir leid getan. Das ist alles. Ganz besonders die Kleine. Sie hätte ohne meine Hilfe nie die Chance gehabt, aus dieser Einöde herauszukommen. Also drehte ich ein wenig an der Sache, erfand einen unbekannten Verwandten, der ihnen eines meiner Häuschen auf Susak und ein bescheidenes Vermögen in bar vermachte, von dessen Zinsen die Familie leben konnte. Allerdings enthielt dieses »Testament« die Auflage, dass Marija eine gediegene Ausbildung zuteil wird. Wie ich Josip kannte, würde er sich wortgetreu an diese Abmachung halten, und das geschah dann auch. Ich habe immer noch so meine Spione auf der Insel, wissen Sie?«
»Ich habe nichts anderes erwartet, Prinzessin.«
Sie fixierte ihn wie die Schlange das Karnickel. Nur mit weitaus größeren und schärferen Augen, den Mund noch mehr verkniffen, sodass Reiniger unwillkürlich an einen Hühnerpopo denken musste, ohne jedoch auch nur eine Sekunde lang den Respekt vor dieser Frau zu verlieren, die ihrem eigenen Moral- und Sittenkodex so streng gehorchte, so verworren und etwas schrullig der auch sein mochte.
Deshalb zuckte in Reinigers Zügen auch kein Muskel, als er weiterfragte: »Kam dieser Josip denn nie auf die Idee, Nachforschungen über die Herkunft dieser sogenannten Erbschaft anzustellen?«
»Natürlich nicht! Sonst hätte ich andere Mittel und Wege gefunden, ihm und seiner Tochter zu helfen. Aber er war von jeher ein hoffnungsloser Fatalist. Er nahm das Leben wie es eben kam und stellte keine Fragen. Ein Leben im Velebit ist der geistigen Entwicklung nicht gerade förderlich.«
»Und nun haben Sie auf Ihren privaten Kanälen erfahren, dass diese Marija verschwunden ist.«
»Da. Ja. Spurlos. - Aber nicht so spurlos, wie es sich dieser gottverdammte de Figuera erhoffte!«, fügte sie giftig hinzu.
»Und ein zweites Mädchen ebenfalls.«
»Ja. Eine gewisse Jasna Bockai. Doch die geht mich nichts an. Nur Marija betrachte ich als mein Mündel. Finden Sie sie, und es soll Ihr Schaden nicht sein.«
Bount erwachte vom Duft des Kaffees aus seinen Gedanken. Der Saft war stark wie Herkules, auch wenn der Löffel nicht drin stecken blieb.
»Na?«, fragte die March. »Die Marschroute festgelegt?«
»Die Contessa ließ mir nicht viel Auswahl«, meinte Bount Reiniger. »Warum sollte jemand schon zwei Mädchen klauen? Um sie unter Glas aufzubewahren wie Schneewittchen? - Welche Verbindungen haben wir eigentlich nach Jugoslawien?«
»Überhaupt keine«, antwortete June. »Die sind noch nicht mal bei Interpol.«
»Aber die beiden wurden offiziell als vermisst gemeldet. Das bekam unsere Theresa noch heraus. Überhaupt ein außerordentliches altes Mädchen.«
»Wenn man bedenkt, dass sie erst neunundfünfzig ist«, bemerkte das Minnesota-Girl lakonisch. »Haben die Väter der Polizei Fotos überlassen?«
»Ja,«
Die March rieb sich nachdenklich die Nase. Ihr Blick bekam einen entrückten Ausdruck. Sie dachte nach. In ihrem hübschen Köpfchen tat sich was. Und Bount gehörte nicht zu jenen Trotteln, die in jeder schönen Blondine automatisch eine dumme Gans sahen. Wobei das eine das andere natürlich nicht ausschloss. Doch seine June gehörte keinesfalls in diese Kategorie. Das blonde Dummchen spielte sie nur manchmal und das sogar mit überragendem Erfolg; wenn sie es nur darauf anlegte.
Vor Bount brauchte sie sich natürlich nicht zu verstellen. Die beiden kannten einander in- und auswendig.
Deshalb schwieg Bount Reiniger auch, bis June mit dem Denken fertig war, und machte sich auf eine Überraschung gefasst.
Sie kam prompt.
»Viele Jugoslawen gehen illegal ins Ausland«, wusste sie. »Und zwar ausschließlich in Richtung Norden. Also nach Österreich, oder sie setzen sich über die slowenische Grenze nach Italien ab. Deshalb arbeiten die Yugo Cops mit den dortigen Grenzern zusammen. Und diese beiden Staaten wiederum gehören zur Interpol ...«
Bount ließ die Handfläche auf die Schreibtischplatte klatschen.
»Das ist es!«, rief er begeistert. »Das linke und das rechte Ei des Kolumbus gleichzeitig. Du meinst, dass die auch Funkbilder haben?«
»Anzunehmen.«
»Dann zapf doch mal bitte sofort unsere diesbezüglichen Quellen an. Ich brauche Bilder von den beiden.«
»Und was willst du damit anfangen? New York ist nicht gerade eine Kleinstadt. Und was bringt dich überhaupt auf die Idee, dass sie sich hier aufhalten könnten?«
»Little Susa«, antwortete Reiniger. »Es gibt drüben in Hoboken eine Art jugoslawische Enklave. Die heißt so. Auch das erzählte mir unsere teure Contessa. Ihr Vertrauensmann auf der Insel heißt Visoco. Er ist der Wirt einer Taverne und hat offenbar übergroße Ohren. Und es gibt dort irgendeinen ominösen Klub der Alten. Alles Rückkehrer aus unserem Little Susa. Und de Figuera hat sich nach einem von denen mehrmals erkundigt. Allerdings vergeblich. Und in jener Nacht, in der dieser Mensch verschwand, verschwanden auch Marija Pavlekovic und Jasna Bockai, nachdem sie alle drei vorher an einem Tisch zusammengesessen und allem Anschein nach kräftig gebechert haben. Die Spur muss nach Little Susa führen!«
»Und wenn nicht?«
»Dann bin ich aufgeschmissen, und die Contessa hat ihre fünftausend Dollar zum Fenster rausgeworfen.«