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Etwa um dieselbe Zeit, nur ein paar tausend Meilen weiter südlich, hatten auch Marija und Aja ihre Probleme. Nur waren die ihren ungleich größer.

Es drang kaum Sonne durch das dichte Blätterdach. Sie waren die halbe Nacht durch den Dschungel gestolpert, bis die junge Jugoslawin erschöpft zusammenbrach.

Als sie die Augen wieder aufschlug, brannte ein kleines Feuer. Das Indiomädchen kauerte daran mit angezogenen Beinen. Marija war unklar, wie sie es entfacht hatte, und sie fragte auch nicht danach. An zwei schräg in die Erde gesteckten Ästen waren Fische aufgespießt. Zwischen Farnen sprudelte ein Bach. Es duftete verlockend, und das Mädchen aus Susak spürte, welch enormen Hunger es hatte. Doch sie hielt sich zurück. Vorher gab es noch andere, wichtigere Bedürfnisse zu stillen. Die des Verstandes.

Natürlich begann sie mit der Gretchenfrage aller Gretchenfragen: »Wo sind wir?»

Aja zuckte mit den Schultern; eine offenbar schon in den Genen verankerte Geste des Nichtwissens und auch der Entschuldigung. Doch sie streckte den Arm lang aus, wies in eine Richtung und sagte: »Rio Paru.«

Dieser Zufluss zum Orinoco war nun freilich wieder auf den Karten vermerkt, wenigstens auf den guten. Marija Pavlekovic konnte trotzdem nichts damit anfangen.

»Und wie heißt die nächste größere Stadt?«

»Puerto Ayacucho«, antwortete das Indiomädchen prompt. Es musste diesen Namen wohl irgendwann einmal in El Tapuka aufgeschnappt haben.

»Wie weit ist das von hier?»

Doch damit war Aja auch schon wieder weit überfordert. Weil in der Arithmetik der Waika, die sich selbst wiederum in zahllose Sippen mit verschiedenen Namen unterteilten, die sich untereinander aufs heftigste bekriegen, die Zahlenreihe bei zwei aufhört. Alles, was darüber liegt, heißt »fast viele«, und sie meinen »einige« damit. Und dann gibt es noch die Bezeichnung »viele«. Das reicht dann hoch bis zu fünfhundert, und darüber hinaus gibt es für jene Stämme ohnehin nichts mehr.

Deshalb war wieder mal ein hilfloses Schulterzucken fällig.

Marija seufzte. Nicht weil sie sich leid getan hätte, sondern weil sie ihre eigene Dummheit bedauerte. Die Dummheit, sich zu Hause gegen ihr Gefühl zu jenem Fremden mit an einen Tisch gesetzt zu haben. Marija Pavlekovic neigte nicht zur Hysterie.

Wenn sie hier jemals wieder rauskommen wollte, überlegte sie messerscharf, dann eben über dieses gottverdammte El Tapuka. Eine andere Möglichkeit gab es nicht, und es konnten dort, zum Teufel, nicht nur ausschließlich Verbrecher vom Schlage eines Vlatko de Figuera oder eines Luis Caminho leben. Die Metapher vom schwarzen Schaf unter den weißen galt auch umgekehrt.

»Aber du weißt, wo El Tapuka liegt? Du würdest das Camp wiederfinden?«

Aja nickte eifrig und ängstlich zugleich. »Si, si.«

»Hast du Freunde dort?»

Das Indiomädchen schüttelte den Kopf. »Nix Freunde.«

»Freundinnen?»

»Puff, Puff. Eingesperrt.«

Das sagte der Jugoslawin genug. Und genug hatte sie fürs Erste ja auch erfahren. Es waren keine Nachrichten gewesen, die zu irgendwelchen Hoffnungen Anlass gaben. Dass sie trotzdem nicht die Flinte ins Korn warf, sprach für ihre eiserne Natur. Nicht einmal die unbekannten Laute des Dschungels konnten sie schrecken, auch wenn sie sich in ihren Ohren anhörten wie die Geräuschkulisse in einer Geisterbahn.

Schließlich forderte der Magen sein Recht, und auch Aja griff beherzt zu. Tran tropfte ihnen von den Fingern und aus den Mundwinkeln. Längst hätte Marija ihre Bluse wegwerfen und wie ihre Verlegenheitsfreundin herumlaufen können. Der Stoff, oder vielmehr das, was von ihm übrig geblieben war, verdeckte keine Blößen mehr. Sie behielt die verdreckten Fetzen aus nackter Gewohnheit am Leib.

Und während dieser Mahlzeit unter Blättern erfuhr die junge Jugoslawin noch so manches.

Zwar konnte das Indiomädchen wegen der Eigenheiten waikaischer Rechenkünste ihr Alter nicht angeben, doch inzwischen schätzte Marija sie auf höchstens fünfzehn; eher lag sie noch darunter. Sie war als kleines Mädchen, also noch vor ihrer ersten Menstruation, denn dann hätte sie bereits als Frau gegolten, gegen zwei Macheten an Abgesandte von Luis Caminha ausgetauscht, also verkauft worden. Ihre Sippe nannte sich »Schamatari« und gehörte den »Yoanama« an, was in etwa »das grimmige Volk« bedeutete.

Und grimmig waren sie wohl, die Yoanama, obwohl die Männer kaum mehr als einen Meter fünfundsechzig erreichten.

Denn nicht einmal Blutsverwandtschaft hinderte sie daran, wie Kampfhähne aufeinander loszugehen. Brüder kämpften gegen Brüder, Familien gegen Familien und Dörfer gegen Dörfer. Sie töteten aus dem Hinterhalt, in offener Schlacht und auch beim Gastmahl. Oft genug töteten sie auch ihre eigenen weiblichen Babys, weil sie glaubten, den Anteil der Krieger in ihrer Bevölkerung erhöhen zu müssen.

So kam es zu der grotesken Situation, dass es bis zu fünfzig Prozent mehr Männer als Frauen gab  ein weiterer hochwillkommener Anlass zum ständigen Kriegführen: der Frauenraub.

In ihr Dorf, in ihr »Shabona«, konnte Aja nicht mehr zurück. Man hätte sie den Krokodilen zum Fraß vorgeworfen, weil sie durch den Kontakt mit Fremden kein »wahrer Mensch« mehr war, was Waika wiederum bedeutete. Ungeachtet der Tatsache, dass man sie einst gegen zwei schäbige Buschmesser selbst an sie verhökerte.

All das erfuhr das Mädchen aus Susak so nach und nach. Und sie erkannte auch, dass aus Leidens- nun Schicksalsgenossinnen geworden waren. Zwei entwurzelte Pflänzchen versuchten auf fremdem Boden zu überleben.

Es mochte gegen Mittag sein, als Marija Pavlekovic hoch über sich und durch das Blätterdach gedämpft das unverkennbare Brummen eines Flugzeugmotors hörte.

Vlatko de Figuera kehrte nach El Tapuka zurück.