Marija und Aja hatten den Rio Paru wieder erreicht. Das Indiomädchen fand sich im Dschungel mit traumwandlerischer Sicherheit zurecht. Ohne die Yoanama wäre das Girl aus Susak hoffnungslos aufgeschmissen gewesen. Und Marija hatte durchgesetzt, dass sie sich wieder dem Digger-Camp El Tapuka näherten. Natürlich bewahrten sie einen gewissen Abstand, doch gedachte die junge Jugoslawin notfalls Hühner zu klauen, nachdem sie mehr über die Ernährungsgewohnheiten der Eingeborenen erfahren hatte: Proteine bezogen sie in der Hauptsache von weißen Raupen, Regenwürmern, Käferlarven, Bienen und Schlangenragout. Ansonsten lebten sie von Bananenbrei und Maniokwurzeln.
Der Bananenbrei wurde bei besonders festlichen Gelegenheiten mit Knochenmehl vermischt. Und nun verstand Marija auch, was Aja mit jenem ominösen Satz: Niemand wird seine Asche essen, gemeint hatte - die Indios pflegten noch heute das seltsame Brauchtum des »Endokannibalismus«. Tote wurde in der Regel noch am Sterbetag in der Mitte ihres Runddorfes verbrannt, die verbliebenen Knochen sorgsam herausgepopelt und in einem Mörser zu grauem Mehl zerstampft. Das hoben sie dann in Kalebassen auf und mengten es ihrer Nahrung wie ein Gewürz bei. Das »grimmige Volk« versprach sich davon, dass es sich auf diese Weise die immateriellen Werte des Verstorbenen - es durfte auch ein ermordeter Feind sein - im Wortsinn einverleibt.
Marija war mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass der Velebit eine höchst zivilisierte Gegend sei, ein Epizentrum kultureller Entwicklung. Den großkalibrigen Revolver, einen Kamarow Z 57, schleppte jetzt sie. Die Waffe wog gut drei Pfund. Sie hatte die Sechsertrommel aufgefüllt.
Und sie hatte recht behalten. Vlatko de Figuera war zurück. Und auf der Plaza war die Hölle los. Der Portugal-Jugoslawe stellte gerade einen Suchtrupp zusammen. Verwegen aussehende Männer wurden mit Gewehren versehen. De Figueras Stimme klang etwas schrill.
Marija beobachtete die Szenerie von einem sicheren Versteck aus, denn gleich hinter dem Camp stand der Urwald wie eine grüne, von bunten Blumentupfern durchsetzte Wand. Unmöglich, sie zu entdecken.
Dachte sie.
Bis ein Mestize auftauchte mit zwei übel kläffenden Bullterriern an den straff gezerrten langen Leinen. Hunde mit tropfenden Lefzen, die Augen vor Gier gerötet. Kampfhunde. Killerhunde. Und zur Jagd abgerichtet. Auf die Menschenjagd.
Vlatko de Figuera wedelte mit etwas vor ihren Nasen herum, Aja schrak zusammen.
»Das von mir ist«, flüsterte sie mit rauer Kehle. »Mein zweiter Schurz.«
Das Indiomädchen trug auch jetzt nichts anderes: ein aus Bastfasern geflochtenes Etwas, das weniger irgendwelcher Schamhaftigkeiten dienen, sondern nur Ungeziefer von den Körperöffnungen fernhalten sollte. Und mit so einem »Etwas« konfrontierte Vlatko de Figuera gerade die Bluthunde, nahm es wieder weg. Die Spur war aufgenommen.
Doch die Terrier, weiß und kurzhaarige doggenähnliche Bestien mit Kobrazähnen, witterten nicht zum Boden hin, wie de Figuera das wohl erwartet hatte.
Nein.
Sie reckten vielmehr die unförmig wilden Mörderköpfe hoch, rissen die roten Mäuler auf, drehten sich wie Radarantennen und witterten auf Marijas und Ajas Versteck hin, begannen wild zu kläffen und an ihren Führleinen zu zerren. Staub stob unter ihren durchkratzenden Pfoten auf. Waffen waren sie. Tödliche Waffen. Normalerweise haben Hunde keine »Krallen«. Aber die beiden hier hatten welche.
Angezüchtet.
Spitz wie Nadeln waren sie, lang wie ein halber Finger, eine der zahllosen Menschensünden wider die Natur. Wilde, hungrige Wölfe waren noch vergleichsweise harmlos gegen diese vierbeinigen, pervertierten Hundemonster.
Dann wandten sich auch die Köpfe der Männer ihnen zu, es mochten rund ein Dutzend sein. Vlatko de Figuera schloss die Augen zu schmalen Schlitzen, bellte einen Befehl in einer Sprache, die Marija nicht verstand. Neben ihr zitterte das Indiomädchen, klammerte sich an den Arm, der die Kamarow Z 57 hielt. Die schmutzigen Nägel gruben sich ins Fleisch der Jugoslawin. Aja stieß einen leisen, erstickten Schrei aus. Vermutlich kannte sie auch ein paar Brocken Spanisch.
Marija brauchte diese Kenntnisse nicht. Sie sah auch so, dass der Hundeführer die Leinen plötzlich losließ. Die Bestien hetzten auf, gierig hechelnd, blutunterlaufen die runden, bösartigen Knopfaugen. Das Weiße in ihnen schimmerte wie Perlmutt.
Das Mädchen aus Susak schüttelte die Yoanama ab. »Lass das!«
An Flucht dachte sie nicht. Sie wäre ohnehin vergebens gewesen. Die Entfernung zur Mitte der Plaza betrug keine hundert Yards. Rasend schnell kamen die Tiere näher, die klobigen Köpfe weit nach vom gereckt, die Mäuler mit dem Raubtiergebiss sperrangelweit offen, die bulligen, muskulösen Körper in rhythmischer Bewegung.
Marija blieb kalt. Auch wenn ihr Herz sich wie ein Vorschlaghammer gebärdete - ihre Hand war ruhig, als sie den rechten Arm ausstreckte und mit dem linken stützte, wie ihr Vater es sie einst gelehrt hatte.
Dann anvisiert und Schuss!
Der Revolver dröhnte, der Rückstoß kugelte ihr beinahe das Schultergelenk aus, doch eine der beiden Bestien war tödlich getroffen. Es gab sie nicht mehr von einer Sekunde auf die andere.
Der andere Terrier rannte unbeirrt weiter.
Ihn ereilte das Schicksal in einem Moment, als Marija schon sein mordhungriges Hecheln zu hören glaubte. Natürlich täuschte sie sich, denn die Detonation hatte sie taub gemacht. Die zweite verschlimmerte ihre Taubheit noch. Die Jugoslawin war nicht nur in Mathematik Klassenbeste gewesen, sondern auch im Schießen im Sportclub ihrer Schule.
Fleisch fetzte, Blut sprühte hellrot nach allen Seiten.
Durch den Pulverdampf sah sie die Männer. Wie die Ölgötzen standen sie da, unfähig sich zu bewegen. Auch Vlatko de Figuera machte da keine Ausnahme. Er hatte sein stetes Grinsen und die sympathischen Grübchen verloren.
Marija legte auch auf ihn an. Erst im letzten Augenblick senkte sie den Lauf, von einem inneren Zwang getrieben. Sie brachte es nicht fertig, auf einen Menschen zu schießen. Das gigantische 11mm-Geschoss bohrte sich kurz vor der Gruppe in die Erde, warf Dreck hoch und kleine Steine, stäubte die Mestizen und den Portugal-Jugoslawen ein mit braunem Puder. Danach warfen sich die Männer nieder. Wie auf Kommando, ohne jedoch ein Kommando benötigt zu haben. Marijas Lippen hatten sich zu einem harten Lächeln verzerrt, sie wusste es nicht. Ihr Gesicht war eine Maske, das lächelnde Gesicht einer antiken Göttin aus Stein.
»Shiobwa! Shiobwa!« Aja hatte wieder nach ihrem Arm gefasst. Shiobwa hieß »Schwester«. Das Indiomädchen sprach sie schon seit Stunden nicht mehr anders an. »Weg! Weg!«
Marija sah das ein. »Da, da. Schon klar.« Unbewusst antwortete sie auf kroatisch. »Ich will mich doch mit diesen Bastarden nicht auf eine Stufe stellen.«
Noch ein letzter Blick auf diesen Haufen menschlichen Unrats. Dabei verlor sich auch dieses steinerne Lächeln wie weggewischt. Doch eine Maske blieb Marijas Gesicht auch jetzt noch.
In so verdammt wenigen Stunden war sie so verdammt erwachsen geworden.
Nie mehr würde sie so wie früher sein.
Sekunden später verschluckte der Dschungel die beiden Mädchen.