Reiniger hatte sich danach den Atlas vorgenommen und Puerto Ayacucho ohne Weiteres gefunden, wobei es bei ihm sofort geklingelt hatte, als wäre eben der Jackpot eines Geldautomaten in Las Vegas geknackt worden. Einer von jenen »One armed bandits«, die nur Dollarmünzen schluckten und so enorm widerwillig wieder ausspuckten.
Weil sich im Westen jener Stadt am Oberlauf des Orinoco jenes Sedimentgestein, von dem ihm schon der Geologe erzählt hatte, bis zu Höhen von zweieinhalbtausend Metern türmte. Das konnte kein Zufall sein.
Den Flug nach Caracas und in den Dschungel hatte Reiniger bereits hinter sich. Alle Knochen taten ihm weh, denn in einer uralten Fokker Friendship, mit der Aero Venezuela teilweise noch ihren Inlandsverkehr abwickelte, saß man nicht besonders komfortabel. Und Straßen dorthin gab es sowieso keine. Er war der einzige Weiße in der Maschine gewesen, wie die reinrassigen Europäer, meist spanischer oder italienischer Herkunft, und die wenigen Angelsachsen überhaupt nur fünfzehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten.
Steifbeinig und eine Segeltuchtasche in der Hand schwenkend, ging er über das Flugfeld auf die niedrigen Baracken zu. Früher waren sie vielleicht einmal richtig verputzt gewesen, doch jetzt lugten überall die sonnengebackenen Lehmziegel hervor. Der Tower ähnelte einem Hochsitz im Bayerischen Wald. Ausländische Gesellschaften flogen Puerto Ayacucho wohlweislich nicht an. Den Piloten, die es wagten, musste wohl eine Art Kamikaze-Mentalität zu eigen sein. Neben den Baracken dann noch verrostete Wellblechhangars mit einigen kleineren Maschinen drinnen. Die klobige Fokker hätte in keinen von ihnen gepasst.
Es war der Tag nach dem Zusammentreffen mit Stan Novid. Ein Feiertag offenbar, denn auf der Straße neben dem Flugplatz schlängelte sich ein Tatzelwurm von Prozession entlang. Der Priester saß in vollem Ornat auf einer von Indios getragenen Sänfte, die goldglänzende Monstranz mit dem Leib Christi, in Hostienform abgefüllt, vor sich her balancierend. Ein Dutzend weiterer Gläubiger mühte sich mit einer noch schwereren Madonnenfigur von besonderer Hässlichkeit ab. Alle sangen sie fromme Lieder, die sehr wehmütig, ja irgendwie vielleicht sogar enttäuscht klangen. Doch das konnte natürlich auch an den Eigenheiten der Musik in den Anden liegen.
Reiniger war stehen geblieben, schaute eine Weile zu, bis er bemerkte, dass ihm der Schweiß in Strömen über den Rücken rann. Als er sich wieder in Marsch setzte, wies ihm ein Reklameschild, auf dem eiskaltes Bier versprochen wurde, den für ihn zur Zeit allein richtigen Weg zur Glückseligkeit.
Es hing über einem der beiden Eingänge zu einem Schuppen, der sich großkotzig »Flughafenrestaurant« nannte. Es war später Vormittag, die Aeroporto-Kaschemme lediglich von einigen Leuten in Fliegerkombination und Springerstiefeln besetzt.
Bount bestellte eiskaltes Bier. Bis auf einen der Piloten waren alle Mestizen, und die Ausnahme war lang wie ein Leuchtturm, und feuerrot fackelte auch sein Haar. Mit seinem riesigen Adamsapfel und der langen schmalen Nase zwischen eng beieinanderstehenden Augen unter buschigen Brauen hielt Bount ihn für einen Engländer auf dem Abstellgleis vom Aussteigerbahnhof. Die Augen konnten es in puncto Bläue mit denen von June March aufnehmen. Nur war das gute Mädchen nie so besoffen. Der Griff, mit dem der Engländer sich an den Handlauf des Tresens krallte, ließ seine mageren Knöchel weiß unter der braunen, wettergegerbten Haut hervortreten. Dass hier Charterflüge angeboten wurden, hatte Reiniger auf ein paar weiteren Schildern gelesen.
Mittlerweile hatte Bount die Generalstabskarte vom Oberlauf des Orinoco wie festgebrannt auf der Gehirnrinde im Kopf. Er hätte sie jederzeit nachzeichnen können.
Natürlich stammte sie nicht von der venezolanischen Regierung, sondern war nach Satelittenaufnahmen der NASA angefertigt und im monströsen, sechsstöckigen Buchladen von Doubledays an der 42. Straße, Ecke Fifth Avenue, frei verkäuflich. Bount Reiniger glaubte nicht, dass die hiesigen Volksvertreter das wussten.
Neben dem Engländer war noch Platz. Also stellte Bount sein Täschchen neben ihm ab und kletterte auf den Barhocker. Die Stühle an den drei Tischen sahen nicht danach aus, als ob sie das Gewicht eines ausgewachsenen Mannes tragen könnten.
»Hi«, grüßte Bount.
Er gab sich gar nicht erst die Mühe, den Amerikaner in sich zu verstecken. Das funktionierte nie. Nirgendwo auf der Welt funktionierte das. Vielleicht, weil fast alle seine Landsleute das Stigma der Prosperität wie ein Kainsmal auf ihrer Stirn trugen. Sie brauchten keine Fotoapparate mehr vor den Bäuchen, den Unterleib von knielangen kurzen Flatterhosen umhüllt und angetan mit schreiend bunten Hawaii-Hemden und möglicherweise noch einem Tropenhelm von Woolworth auf dem hamburger- und cheeseburgergenährten Schädel.
»Hi«, antwortete nach einer kurzen Weile auch der Engländer, ihn von oben bis unten musternd. »Haben Sie sich verflogen? Ich dachte, die USA lägen ein Stück weiter nördlich.«
»Dasselbe könnte ich Sie fragen«, konterte Bount Reiniger.
»Oder sollte ich mich so täuschen, und Queen Victorias Island liegt gleich um die nächste Ecke?«
Da grinste der Engländer, löste eine Hand vom Tresen und streckte sie Bount entgegen.
»Prew, mein Name. Den Rest hab’ ich vergessen.«
Auch Reiniger stellte sich vor. Seinen Beruf verriet er noch nicht.
»Wie ein Abenteurer sehen Sie eigentlich nicht aus«, meinte der baumlange Engländer in lupenreinem Cockney. Bount hatte Mühe, seinen Dialekt zu verstehen. Und nur selten hatte sich ein Mensch so von seinem trotz der mühseligen Reise noch gepflegten Äußeren täuschen lassen. Aber der Mann war ja auch nicht mehr nüchtern. Eher war er voll wie das Heidelberger Fass in dessen besten Tagen.
Doch immerhin stand ein guter Scotch vor ihm. Bount roch das mit derselben Unfehlbarkeit, mit der er Gangster aufspürte. Er reckte zwei Finger hoch, deutete dann auf den Tumbler des Londoners. Die Geste war nicht misszuverstehen:
Noch mal zwei. Einen für mich und einen für meinen Freund. Wenn's geht, ein bisschen dalli.
»Können wir uns irgendwo setzen?«, fragte Reiniger. »An einen der Tische vielleicht? Ich lade Sie zum Essen ein. Das könnte Ihnen nicht schaden, denke ich.«
»Wie sich der Mensch doch täuschen kann«, meinte »Prew« daraufhin. »Also doch ein Abenteurer. Sie werden sich Ihr Steißbein ausrenken. Oder haben Sie nicht bemerkt, was das für Stühle sind ...?«