Am Samstagmorgen führte er, wohl wissend, dass er zu viele andere Dinge hatte schleifen lassen, eine ganze Reihe an Telefonaten.
Erst rief er das Krankenhaus an und bat um den Namen der Krankenschwester, die Lydia Jarmyn gebadet hatte. Man bat ihn zu warten, und einen Augenblick später sagte jemand: »Ella Voumard.« Kurz angebunden, atemlos, bekam wohl von der vielen Arbeit kein Bein auf den Boden.
»Irgendwelche Verwandtschaft mit Rolf?«, fragte Hirsch, nachdem er sich vorgestellt hatte.
»Mein Dad.«
»Er hat einen Einbruch bei einem Grundstück gemeldet, auf das er aufpasst.«
»Hat er erzählt.«
»Gab es noch andere Anzeichen, dass die Ayliffes dort gewesen sind?«
»Haben Sie deswegen angerufen?«
Knoten ins Taschentuch, dachte Hirsch. Hör auf, über die Ayliffes zu reden.
»Nein, nein, ich hab mich ablenken lassen. Ich rufe wegen Lydia Jarmyn an.«
Die Krankenschwester klang plötzlicher weniger kurz angebunden, und Hirsch erinnerte sich an sie an jenem Morgen im Krankenhausbadezimmer, wie ihre Gesichtszüge angesichts der Wunden, des Drecks, der Vernachlässigung weicher geworden waren.
»Geht es ihr gut?«
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir was sagen«, entgegnete er.
»Tut mir leid, kaum dass sie fit genug war, um zu reisen, haben sie sie einfach abgeholt.«
»Das Jugendamt?«
»Und Della, die Sozialarbeiterin, die wir hinzugezogen haben.«
Hirschs zweiter Anruf. Della Forster konnte ihm nicht viel sagen, nur Lydia Jarmyns Aufenthaltsort: in der Frauen- und Kinderklinik in Adelaide.
»Sie war massiv unterernährt. Wenn sich ihr Zustand bessert, wird sie in eine Pflegefamilie kommen.«
»Könnte ich sie sehen?«
Langes Schweigen. »Ein solches Kind wird sich entweder völlig verschließen und allen misstrauen, oder sie bindet sich an jeden, der freundlich zu ihr ist. Sie war am Boden zerstört, als sie sich von Ella in Redruth verabschieden musste, und Ella und Doktor Pillai zufolge war sie genauso getroffen, als Sie gehen mussten. Ich glaube nicht, dass Sie sie sehen sollten, tut mir leid. Das würde sie nur verwirren. In ein paar Monaten vielleicht, wenn sie zur Ruhe gekommen ist.«
»Aber soweit Sie wissen, geht es ihr gut.«
»Wächst und gedeiht, offenbar.«
»Und Mrs Jarmyn?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Wissen Sie, ob sie versucht hat, Lydia zu sehen?«
»Weiß ich nicht. Sie war nicht eben fürsorglich, oder?«
»Sie war nicht gerade die Mutter des Jahres«, sagte Hirsch, obwohl er sich daran erinnerte, dass sie ihrem eigenen Kind wohl durchaus eine gute Mutter war.
»Gut möglich, dass sie nach der psychologischen Beurteilung eingeliefert worden ist. Allerdings weiß ich nicht, wie Sie das herausfinden könnten.«
Hirsch versuchte es bei Comyn, der ihm nur zögerlich Adresse und Telefonnummer der Sozialarbeiterin gab, welche ihn zum Haus der Jarmyns begleitet hatte. »Was haben Sie vor?«
»Ich möchte nur die Einzelheiten festklopfen«, antwortete Hirsch.
Die Sozialarbeiterin hieß Lisa Sandford und war schlecht gelaunt. »Hören Sie, dies ist mein einziger freier Tag. Außerdem kann ich Ihnen diese Art von Informationen sowieso nicht geben.«
»Beobachten Sie sie?«
»Geht es hier um eine polizeiliche Ermittlung oder um eine Angelegenheit der Sozialdienste? Ich frage nur, weil es Leute wie ich sind, die das ausbaden müssen, egal was passiert.«
»Danke, dass Sie mit mir geredet haben«, sagte Hirsch und dachte betrübt darüber nach, dass eine Gesellschaft darauf angewiesen war, wie gut die verschiedenen Einrichtungen wie Polizei, Gerichtsbarkeit und Wohlfahrtseinrichtungen miteinander kooperierten. Doch leider verfolgten sie selten dieselben Ziele, tauschten nur knapp Informationen aus und sprachen auch nur gelegentlich miteinander. Nicht aus Sturheit – meistens jedenfalls –, sondern aus Ineffizienz und mangelnder Einbildungskraft. Zwar handelte es sich in allen Fällen um Bürokratie, doch hatten die einzelnen Systeme kaum Berührungspunkte.
Der Heizstrahler schmorte ihm die Hosenaufschläge an. Hirsch probierte es bei Diana Ayliffe.
»Gibt es was Neues?«
»Im Sinne von, verstecke ich einen oder zwei meiner Männer vor der Polizei? Nein.«
Na toll, Haus. Da stellst du mal eine unschuldige Frage, und schon kriegst du den Kopf abgebissen. »Ich habe Sie neulich im Fernsehen gesehen. Ich fand, das haben Sie gut hingekriegt.«
Diana Ayliffe hatte sich, flankiert von hochrangigen Polizeibeamten, an einem Medienkonferenztisch über ein Mikrofon gebeugt und öffentlich an ihren Mann appelliert. Klar, offen und wenig sichtbare Regung. Sie hatte Mann und Sohn gesagt, sie sollten sich stellen, bevor noch jemand verletzt würde – wobei sie indirekt ihrem Sohn bedeutete, er solle sich in Sicherheit bringen, bevor sein Vater ihn in Lebensgefahr bringen würde.
Diana Ayliffe war ein wenig besänftigt. »Die meinten, das könnte hilfreich sein.«
»Ich dachte, wenigstens Josh würde Sie anrufen.«
Die Stimme brach ihr. »Das dachte ich auch. Schätze, das bedeutet, dass sie wirklich weit draußen sind und weder ferngesehen noch Zeitung gelesen haben.«
Da war sich Hirsch nicht sicher, aber er sagte: »Ist es möglich, dass Josh hin- und hergerissen ist? Findet er sich in einer Lage, aus der er sich nicht selbst befreien kann?«
Sie klang verzweifelt. »Das würde ich gern glauben, denn Leon ist sehr herrisch, und wie Sie schon sagten, selbst wenn Josh wollte, käme er da nicht einfach so raus.«
Deprimiert verließ Hirsch das Polizeirevier, setzte den Toyota rückwärts raus und fuhr zum Haus der Jarmyns. Etwas an dem Ort zog ihn an. Etwas war da.
Das Tor war verschlossen. Hirsch kletterte über den Zaun und ging den Hügel hinauf; die Bäume an der Zufahrt bogen sich im eisigen Wind. Frische Reifenspuren dort, wo alte Schotterschichten seit ewig unter dem Schlamm lagen, weckten seine Aufmerksamkeit. Er kam zu dem Hof und besah sich das Haus, das stumm und bedrückt dalag, als würde es ihm Vorwürfe machen und als wäre er gekommen, um es zu strafen, wo es doch Trost suchte.
Kein Auto, kein qualmender Schornstein, aber das Dreirad stand im Carport. Dann erstarrte Hirsch: Der Hund war da. Er beobachtete ihn aus dem Zwinger heraus, die Wasserschüssel war gefüllt, ein halber Hundekeks lag neben der Futterschüssel im Staub.
Hirsch wurde mulmig zumute. Ein ordentlicher, aber trauriger Ort; nur zu gern hätte er eine Hundestaffel herbeordert.
Als er auf die Haustür zuging, bemerkte er kleine Flecken umgegrabener Erde in Abständen von jeweils zwei Metern entlang der vorderen Hauswand. Er drehte eine Runde: auch an den Seiten und der Rückwand Spuren. Viel zu klein, um jemanden zu verscharren. Gartenarbeit? Winterpflanzen?
Hirsch klopfte an; keine Reaktion.
Er schaute im Wohnwagen nach: leer. Diesmal suchte er tiefer im Schuppen und arbeitete sich zu einer Reihe von Schattenformen an der Rückwand vor. Ein leeres Benzinfass. Eine alte Holzgarderobe mit Gartenpfählen dort, wo früher die Kleider und Anzüge gehangen hatten; Maßband, Gartenschlaucharmaturen, Pinsel und Schmirgelpapier, säuberlich in Schubladen verstaut.
Daneben eine Betonbodenplatte. Sie sah alt und staubig aus und war ölfleckig. In einer Ecke waren vier Bolzen einbetoniert. Halterungen für einen Motor? Einen Generator? Hirsch wollte sie unbedingt ausbuddeln.
Er ging zum Toyota zurück und fuhr die Hawker Road entlang zu Jonas Henekers Haus. Die Szene vom letzten Mal wiederholte sich: Hirsch wurde von einer Geistererscheinung aus Barthaaren, einem langen Armeemantel, fadenscheiniger Hose und einer Axt begrüßt. Das war aber auch schon die einzige Ähnlichkeit: Dieser Jonas hier zitterte und hatte feuchte Augen. Nicht vom Wetter, erkannte Hirsch, sondern von Gefühlen. Was bedeutete …
»Geht es um Ivy?«
Jonas nickte. »Sie ist im Krankenhaus. Lungenentzündung.«
»Tut mir sehr leid, Jonas. Kommen Sie, ich hacke Ihnen ein wenig Holz.«
»Könnten Sie das für mich tun? Ich habe heute früh einfach keinen Mumm in den Knochen.«
Hirsch hackte; Jonas stapelte. »Gutes Holz.«
»Ich kaufe immer roten Eukalyptus«, sagte Jonas. »Eine Fuhre voll alle paar Wochen. Das Zeug hier in der Gegend«, und damit wies er zu den Hügeln hinüber, auf denen so gut wie keine Bäume mehr standen, »taugt nicht zum Heizen.«
Dann schwiegen die beiden, und Hirsch hackte Holz – mehr, als eigentlich nötig war. Völlig ermattet hörte er schließlich auf, lehnte die Axt gegen die Wand des Holzschuppens und fragte: »Fahren Sie später zu ihr?«
»Das mach ich, ja.«
»Und die Kinder?« Zwei Söhne: einer in Perth, der andere in Adelaide.
Jonas zuckte mit den Schultern. »Die wissen Bescheid.«
Diese Worte bekam Hirsch mindestens ein Mal die Woche zu hören. Ein Freund, ein Verwandter, ein geliebter Mensch wusste davon, hatte aber noch nicht entsprechend gehandelt. Wusste, würde aber wohl nicht entsprechend handeln. Wusste, kümmerte sich aber nicht darum.
Hirsch stieg wieder in den Wagen und sagte: »Wie ich sehe, ist Mrs Jarmyn wieder zurück.«
»Ich habe noch keine Spur von ihr gesehen«, entgegnete Jonas und drehte sich wieder zu seinem Brennholz und dem leeren Haus um.
Hirsch fuhr in den Ort zurück und dachte, dass zumindest er selbst ein paar warme Stunden vor sich hatte: Abendessen und eine Übernachtung in dem kleinen Haus an der Bitter Wash Road.