Der Hund hat ihn gebissen, dachte Hirsch.
Das Tier lief auf und ab. Blieb stehen, hustete merkwürdig menschenähnlich, ging weiter. Wenn es Hirschs Blick bemerkte, knurrte es. Und es hatte so viel Verstand, sich meist an der offenen Tür aufzuhalten, wo es ab und zu frische Luft schöpfte.
Das Tier schien zu wissen, dass etwas nicht stimmte.
Hirsch schaute zu, wie es ein paarmal am Wagen entlangging, sich auf die Hinterbeine stellte und an Sophie Flynns Autoscheibe kratzte, bevor es wieder nach vorn ans Tor lief. Und stets kehrte es zu Hirsch zurück, blieb unten stehen und erinnerte ihn daran, dass er nur ein Kadaver in Wartestellung war.
Hirsch rief erneut bei Stolte an.
Stolte hörte sich an wie ein Mann, der zu viele Dinge gleichzeitig zu jonglieren versuchte. »Ja, Constable Hirschhausen?«
»Das Gespräch mit Cater: Haben Ihre Leute etwas über seine Erscheinung gesagt?«
»Das ist einer der Punkte, auf die wir achten, wie Sie wissen. Körpersprache. Warum fragen Sie?«
»Der anderen Kassiererin zufolge kehrte er humpelnd aus der Mittagspause zurück. Verbundene Hände. Ein anderer Anzug.«
Stolte blieb stumm. Das gibt ihm zu beißen, dachte Hirsch. Draußen hielt ein Fahrzeug, der jägergrüne Nissan Pick-up des Tiermedizinischen Dienstes Redruth. Zwei Frauen stiegen aus: Cathy Duigan und eine Kollegin. Hirsch winkte, doch die beiden konnten ihn auf der Werkbank in den dunklen Tiefen der Garage nicht sehen.
»Sie glauben also, dass er von dem Hund gebissen worden ist, der Sie aufhält?«, fragte Stolte.
Mit leicht spöttischem Unterton. Hirsch antwortete: »Sophie Flynn hat nichts veruntreut. Sie war diejenige, die bemerkt hatte, dass Geld auf Mrs Grootes Konto fehlte. Wenn Cater dahintersteckt, dann ist er vielleicht auf den Gedanken gekommen, Mrs Groote und Sophie zum Schweigen zu bringen – und Sophie gleichzeitig alles in die Schuhe zu schieben.«
»Ich kann im Augenblick niemanden entbehren, wir befragen noch immer Sylvia Fearn«, sagte Stolte, so als würde er laut denken und Prioritäten setzen. »Eine sonderbare, keineswegs nette Frau. Und das andere Team ist in Penhale.«
Wo es mit Maggie Grootes Nachbarn sprach, nahm Hirsch an. »Die Tierärztin ist gerade eingetroffen. Sobald der Hund weg ist, mache ich mich auf die Suche nach Cater.«
»Und?«
»Und verhafte ihn.«
»Aufgrund welcher Anklage? Welcher Beweise? Er könnte behaupten, ausgerutscht zu sein.«
»Na, wenigstens sollte ich mit ihm reden, Senior Sergeant«, protestierte Hirsch. »Und dürfte ich mit dem allergrößten Respekt vorschlagen, dass sich die Spurensicherung mal Sophie Flynn anschaut, ihren Wagen, ihr Haus – vor allem die Küche – und den Hund?«
»Den Hund«, sagte Stolte ausdruckslos.
»Um Spuren von menschlichem Blut zu finden«, sagte Hirsch, so geduldig er nur konnte. »Fasern. Vielleicht wird uns ja auch Caters Handy verraten, ob er gegen Mittag in Kooringa war.«
»Nicht so vorschnell. Suchen Sie Mr Cater und finden Sie heraus, was er zu seiner Verteidigung zu sagen hat. Sie müssen zugeben, dass die tote Frau uns eine plausible Erklärung liefert. Sie begeht Selbstmord und lässt zur Entschuldigung und Erklärung die Kontoauszüge neben sich liegen. Es ist ja nicht ungewöhnlich, dass die Leute einen Brief hinterlassen.«
»Ich verstehe, aber wenn – «
»Also schön vorsichtig, okay? Sobald ich kann, eise ich Leute aus meinem Team los. Ich schlage vor, Sie finden Mr Cater, nähern sich ihm aber nicht. Überlassen Sie das uns.«
»Senior Sergeant«, sagte Hirsch.
Als Nächstes rief er Tim Medlin an und befahl ihm, in die Bank zu gehen. »Schauen Sie, ob die Kassiererin zusperren kann. Sie bleiben dort und lassen Cater nicht hinein. Niemand darf irgendwelche Unterlagen vernichten.«
»Ich weiß ja nicht, ob mir irgendjemand zuhört, wenn ich …«
»Tim«, unterbrach ihn Hirsch mit fester Stimme.
In der Zwischenzeit hatten die Tierärztinnen ihre Strategie geplant. Sie standen im Garagentor – Cathy Duigan winkte ihm lässig – und stellten einen an einer Seite offenen Drahtkäfig auf. Der Hund duckte sich mit gesträubtem Nackenfell, und Cathy wedelte mit einer Decke herum wie ein Matador. Der Hund sprang – und zuckte erstickt zurück, denn die andere Tierärztin war von hinten gekommen und hatte ihm eine Schlinge um den Hals gelegt. Cathy eilte heran, warf dem Hund die Decke über, und gemeinsam schafften sie ihn in den Käfig. Der Hund jaulte und knurrte vor Zorn.
Hirsch stieg von der Werkbank, rief Jean an, um ihr zu sagen, dass sie aus dem Haus kommen könne, und verließ die Garage.
»Ich hab Sie da oben hocken sehen«, sagte Duigan.
»Ein Höhepunkt meiner Karriere«, meinte Hirsch. »Hören Sie, es ist kompliziert, aber am Hund könnten sich wichtige Beweise finden, Blut und Fasern.«
Sie betrachtete ihn ernst. Sie wusste, worum er sie bat. »Ich möchte ihn nicht betäuben, so lange es nicht unbedingt notwendig ist.« Sie deutete auf den Käfig. »Er kann jetzt niemandem mehr was tun.«
Hirsch wies in die Garage. »Sophie Flynn ist dort drin. Sie ist tot. Ich halte das für einen vorgetäuschten Selbstmord. Ich glaube, dass der Mann, der sie umgebracht hat, von dem Hund angegriffen wurde.«
Nach einem längeren Augenblick sagte Duigan: »Okay. Wie geht es Hilary?«
Duigan und Brandl gingen häufig zusammen joggen. »Sie ist schon ein paarmal zur Arbeit gekommen. Aber sie muss sich noch schonen.«
»Sagen Sie ihr, ich schau mal bei ihr vorbei«, sagte Duigan und zog eine Spritze auf.
Während sie den Hund betäubte, holte Hirsch Beweisbeutel aus dem Polizeiauto. Dann nahm Duigan, mit Hirsch, der zweiten Tierärztin und Landy als Zeugen der Beweiskette, Abstriche von der Schnauze, den Zähnen, von Hals und Halsband des Hundes. Schließlich nahm sie das Halsband ab und steckte es in einen separaten Beutel, signierte und datierte ihn.
Jean Landy beugte sich vor. »Schauen Sie mal.«
An der Schnalle hatten sich ein paar Fasern verhakt. »Caters Anzug?«
»Finden wir den Anzug«, antwortete Hirsch. »Finden wir den Mann. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.«
Dann rief er bei Tim Medlin an. »Gibts was Neues?«
»Mucksmäuschenstill.«
»Ist die Bank offen oder geschlossen?«
»Noch immer offen.«
»Geben Sie mir Tina Russo«, sagte Hirsch.
Russo nannte ihm Caters Anschrift. Er übertrug Jean Landy die Verantwortung und fuhr zu einem Haus an einer steilen Seitenstraße neben vier dazugehörigen Landhäusern namens Tiver Row. Caters Heim war aus dem örtlichen Gestein errichtet worden: breit und geräumig, eine tiefe Veranda, darüber ein verblichenes rotes Dach. Kein Volvo in der Einfahrt oder im Carport oder auf der Straße.
Hirsch stieg aus, stand eine Weile da und betrachtete mit in die Hüften gestützten Händen das Haus, als eine Stimme fragte: »Wollen Sie ein Angebot machen?«
Hirsch sah sich um; es dauerte eine Weile. In der dunklen Tiefe der Veranda eines identischen Hauses nebenan saß ein älterer Mann auf einem voluminösen hölzernen Stuhl mit hoher Rückenlehne, eine Decke über den Knien. Er trug Mantel und Schal, Fäustlinge und eine Kappe mit Schaffellschützern über den Ohren. Neben ihm zischte ein Wärmepilz, wie Hirsch ihn von den Straßencafés in der City kannte.
»Könnte ich mir bei meinem Gehalt nicht leisten«, antwortete Hirsch, ging das kurze Stück den Bürgersteig entlang und durch das vordere Tor des alten Mannes.
»Gehört eh der Bank«, sagte der Mann und betrachtete ihn ironisch. Er hatte eine papierne Haut, wässrige Augen, ein leichtes Zittern der Hand, trotz der Fäustlinge. »Da wohnen die Direktoren.«
»Nette Gegend«, sagte Hirsch.
Der alte Mann ging nicht darauf ein. »Wollen Sie Malcolm vielleicht wegen Unterschlagung verhaften?«
Hirsch erstarrte. Dann sah er, dass der alte Knacker nur Witze machte, und hätte beinah laut geantwortet: Unter anderem, Sir.
Stattdessen sagte er: »Haben Sie Mr Cater heute gesehen? Seine Frau? Kinder?«
»Junggeselle«, sagte der alte Mann. »Aber ich habe ihn vor einer Stunde gesehen. Zwei vielleicht. Er hat Müll verbrannt.«
Erst jetzt bemerkte Hirsch den beißenden Geruch. Er sah zu Caters Haus hinüber.
»Nicht da drüben. Hier, in meinem Hinterhof«, sagte der alte Mann.
Als er Hirschs Verwirrung sah, fügte er hinzu: »Verbrennungsanlage. Ein altes Ölfass. Hab ich schon seit ewig.«
Cater hat den Anzug verbrannt, dachte Hirsch. »Würde es Ihnen was ausmachen, wenn ich mal nachschaue?«
Der Mann stand auf, zwinkerte ihn an, zog einen Fäustling aus und streckte ihm die knorrige Hand hin. »Sie können nachschauen, wenn Sie kein Fremder mehr sind. Des Mannion.«
Peinlich berührt, schüttelte Hirsch die Hand und stellte sich vor; gleichzeitig klingelte es bei ihm: Auch die Post für einen gewissen Desmond Mannion war in die Rhynie Road umgeleitet worden. »Haben Sie ein Konto bei Mid-North, Mr Mannion?«
Mannion schnappte sich einen Gehstock. »Nicht mehr so agil wie früher. Ja, habe ich. Malcolm hat mich überzeugt. Gibt es einen Grund für Ihre Frage?«
Mannion drehte sich um und ging zur Haustür voran, und Hirsch erklärte: »Wir haben Meldungen bekommen, dass Kontoauszüge an die falsche Anschrift zugestellt worden sind. Eingriffe in die Privatsphäre. Ist Ihnen zufällig aufgefallen, dass Kontoauszüge fehlen?«
»Da sollte ich wohl besser mal nachschauen, hm?«, meinte Mannion. »Jetzt mach ich mir schon Gedanken.«
Er schlurfte einen dunklen Flur entlang, Hirsch folgte ihm.
Die Dielen knarrten. Das Haus war voller dunkler Möbel und Schatten. Das einzig moderne waren die Heizkörper: Warmwasser. Die Luft war stickig. Es ging eine Stufe hinunter in die Küche, dann über einen abgewetzten Linoleumboden und hinaus auf den Hinterhof. Hier war es wie auf jedem anderen Hinterhof auch. Rasen, Beete, feuchter kleiner Schuppen, Wäschespinne; am hinteren Zaun war eine Schubkarre angelehnt. Die Verbrennungsanlage bestand aus einem rostigen Ölfass, Rauch stieg auf.
Daneben stand ein Wagenschuppen, aber merkwürdig ausgerichtet, zum Hinterzaun, nicht zur Einfahrt. In dem Schuppen stand ein schwarzer Volvo.
»Ihr Wagen, Mr Mannion?«
»Malcolms. Er hatte ein Problem mit verschmutztem Diesel, also hat er sich meinen Wagen ausgeliehen«, antwortete Mannion mit einem Schulterzucken. »Ist mir ganz gleich. Ich hab mir letztes Jahr ein neues Auto gekauft, und seitdem habe ich zwei Hüftprothesen bekommen, ich werde also nicht demnächst den Birdsville Track rauf- und runterbrettern.«
»Eine Schande. Was für ein Auto?«
»Ein Passat. Tolles Auto. Der reinste Luxus.«
»Ein Passat«, sagte Hirsch. »Silber? Ich glaube, den hab ich im Ort gesehen.«
Mannion war schlau. »Nicht allzu oft, würde ich meinen. Außer die paar Mal, wo Malcolm ihn sich geliehen hat.«
»Heute auch?«
»Heute Morgen.«
»Hat er einen Schlüssel?«
»Dann muss er nicht andauernd bei mir anklopfen. Worum geht es eigentlich?«
»Ich will Sie nicht anlügen, Mr Mannion. Wir müssen mit Mr Cater sprechen. Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie mich anrufen, falls er wieder auftaucht, entweder um Müll zu verbrennen oder Ihren Wagen zurückzubringen.«
Sie waren am Fass angekommen. Hirsch schaute hinein. Das meiste war Asche: schwarz, ölig, klumpig. Wenn man darin herumstochert, findet man geschmolzene Knöpfe, nahm er an. Und einen Reißverschluss. Alle Spuren von Hund und Mensch waren verbrannt.
Er schaute zu Caters Volvo hinüber. »Gibt es einen Grund, warum Mr Cater seinen Wagen in Ihrem Schuppen abstellt?«
»Damit er nicht im Regen steht. Er hat keinen eigenen Schuppen.«
»Er ist also fahrbereit?«
»Er sagte was von schmutzigem Diesel. Er läuft, aber er will sich nicht darauf verlassen. Zum Beispiel, wenn er nach Adelaide muss.«
»Und er hat Ihnen nicht zufällig einen Schlüssel dagelassen? Falls Sie ihn mal bewegen müssen?«
Mannion sah Hirsch an, und sein Blick verriet Abwägen. »Warten Sie hier«, sagte er und ging ins Haus. Einen Augenblick später kam er zurück. »Bedienen Sie sich«, sagte er und warf Hirsch den Schlüssel zu.
Hirsch bedankte sich, schloss den Volvo auf, öffnete die Motorhaube, löste ein paar Kabelverbindungen und drückte sich die Daumen. Der Motor sprang nicht an, als er es versuchte, also musste er wohl etwas richtig gemacht haben.
Sie gingen zum Haus zurück. »Wenn ich es mir recht überlege«, sagte Hirsch, »gibt es vielleicht jemanden, wo Sie für ein paar Stunden bleiben können, Mr Mannion?«
Der alte Mann antwortete sofort: »Bei meiner Tochter, im Krankenhaus.«
Die Direktorin, wie sich herausstellte. Hirsch fuhr hin, stellte den Wagen ab, und die beiden suchten nach der Tochter. Sie saß in ihrem Büro, linste kurzsichtig in ihren Computer und kam an die Tür geeilt, als sie ihren Vater mit Hirsch sah. Sie grinste und fragte: »Was hat er denn jetzt schon wieder angestellt?«
»Hab die Bank ausgeraubt«, antwortete Mannion.
»Ich konnte ihn erst nach einer äußerst gefährlichen Verfolgungsjagd schnappen«, ergänzte Hirsch.
»In deinen kühnsten Träumen, Dad«, meinte die Tochter.
»Dieser Jungspund hier will, dass ich mich für ein paar Stunden verstecke.«
Die Frau hörte aufmerksam zu, als Hirsch ihr die Lage erklärte, und sagte: »Ich stopfe ihn zu all den anderen alten Knackern hier drin.«
»Wie langweilig«, entgegnete Mannion. »Die sind doch alle senil.«
»Dann hast du Gelegenheit, zu prahlen und zu flunkern, ohne dass es auffällt«, meinte seine Tochter.
Hirsch verabschiedete sich, kehrte zu seinem HiLux zurück, warf den Bordcomputer an und gab die Fahndung nach Mannions Passat heraus. Kaum hatte er alle Informationen eingegeben, klingelte sein Handy.
Eleanor Quinlan war dran. Sie klang angespannt. »Adrian?«
»Ähm, Sie haben aus Versehen – «
»Adrian, Schätzchen«, unterbrach sie ihn, »ich möchte, dass du sofort nach Hause kommst, okay? So schnell du kannst.«