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Baff!

Das Nächste, an das Katie sich erinnert, ist ein Schlag, der ihren ganzen Körper erschüttert. Gleichzeitig wird es eiskalt. Erst ist um sie herum alles weiß, ein blendender Blitz. Dann wird es so dunkel, dass sie rein gar nichts mehr sehen kann.

Es dauert einen Moment, bis sie es begreift. Wasser.

Das ist Wasser. Ich bin unter Wasser. Ich werde sterben.

Der Gedanke ist erschreckend logisch: Jetzt ist es vorbei. Mein Leben ist zu Ende. Aber so einfach überlässt sie sich ihm nicht. Die alte Katie hätte vielleicht aufgegeben, aber nicht die neue. Die neue Katie ist da, weil sie leben will.

Sie rudert mit Armen und Beinen. Es geht von Anfang an unglaublich schwer. Es gibt keine trockene Stelle mehr an ihrem Körper – nein, sie ist triefnass und auf einen Schlag mindestens zehn Kilo schwerer.

Sie strampelt so heftig, dass ihre Muskeln verkrampfen. Sie reckt den Hals und streckt sich nach oben, als ob die Oberfläche, der Sauerstoff nur ein paar Zentimeter entfernt wären. Vielleicht kann sie es schaffen, wenn sie nur alles, was noch an Kraft und Bewegung in ihrem Körper ist, darauf verwendet, hochzukommen. Nach oben, nach oben!

In Panik kommt ihr der Gedanke, dass sie vielleicht in die falsche Richtung schwimmt. Woher weiß sie denn eigentlich, wo oben ist? Um sie herum ist alles pechschwarz! Schwimmt sie womöglich nach unten oder zur Seite? Vielleicht ist sie direkt unter der Oberfläche, schwimmt seitwärts den Fluss entlang und ertränkt sich selbst?

Aber nein. Da muss es nach oben gehen. Denn alles andere zieht sie in die entgegengesetzte Richtung. Wenn sie aufhört zu schwimmen, wird sie untergehen wie ein Stein. Also muss in diese Richtung unten sein, der Grund, wo der Tod auf sie wartet. Der Tod und die Fische und die Würmer.

Oder ist es nur die Strömung? Reißt die Strömung sie mit sich? Zerrt sie noch heftiger an ihr als die Tiefe? Dann macht sie es verkehrt, dann muss sie …

Ja! Sie hat das Gefühl, etwas zu sehen.

In ihr zieht sich alles zusammen. Bauch, Brust und Lungen schreien nach Sauerstoff.

Aber da ist doch was! Sie hat etwas gesehen, irgendwas kommt auf sie zu, und das ist stärker als die Dunkelheit. Es ist ein unbestimmter hellblauer Nebel, der ihr entgegenflimmert. Der durch das Wasser fällt und sie durch die Kälte und die Angst erreicht.

Und dann! Ihre Hand bekommt etwas zu fassen, das leichter als Wasser ist, das keinen Widerstand leistet.

Sie bekommt eine gigantische, eiskalte Ohrfeige, die wie die Hölle im Gesicht brennt. Aber niemand hat sie geschlagen. Nein, das war einfach nur die Luft, die ihr entgegenschlug – Luft. Wunderbare Luft!

Sie ringt japsend nach Atem und merkt, wie sich die Lungen füllen. Erst ein Mal, dann ein zweites Mal. Dann geht sie wieder unter und muss sich erneut nach oben kämpfen. Sie spuckt und hustet und hört sich „Scheiße, Scheiße“ sagen.

Aber um Hilfe ruft sie nicht. Sie denkt nicht mal dran. Es kommt einfach nicht infrage, denn sie ist plötzlich so wütend und selbstsicher.

Jetzt kann sie das Ufer sehen, beide Ufer. Das eine ist nur fünf oder sechs Meter entfernt. Sie hält darauf zu. Erst versucht sie, so zu schwimmen wie im Schwimmbad oder am Strand. Aber das klappt nicht. Ihre Kleider sind zu schwer und zu nass. Sie wird immer wieder nach unten gezogen. Um voranzukommen, muss sie strampeln und paddeln wie ein Hund. Sie bewegt sich unglaublich langsam. Trotzdem schafft sie es, Stück für Stück, näher ans Ufer heran. Endlich spürt sie einmal kurz etwas unter sich, dann wieder, und plötzlich kann sie runde, glitschige Steine unter ihren zitternden Füßen fühlen.

Sie watet aufs Ufer zu. Langsam lässt die Strömung sie los. Als das Wasser sie nicht mehr vollkommen umgibt, strauchelt sie. Auf dem Weg an Land fällt sie immer wieder hin.

Später stellt sie fest, dass sie am ganzen Körper blaue Flecken hat. Große dunkle Blutergüsse. Die schlimmsten sind an der Rückseite der Oberschenkel und am Hintern. Von den Kniekehlen bis zum Kreuz ist alles blau und wund. Aber gebrochen ist nichts. Keine kaputten Knochen. Ihr Körper schmerzt, aber er funktioniert.

Sie erreicht das Ufer und dreht sich um. Der Fluss hat sie ein ganzes Stück mitgenommen. In einiger Entfernung sieht sie das Stauwerk. Sieht, wie das Wasser unten an der Staumauer brodelt. Sie friert und fängt plötzlich an zu zittern.

Dann fällt ihr alles wieder ein. Nicholas, denkt sie. Er hat mich gerettet. In einem ersten Impuls will sie am Ufer zurücklaufen, nach Hause zu Nicholas, um ihm zu sagen, dass alles in Ordnung ist. Er darf nur niemandem erzählen, was mit dem Pflegevater passiert ist. Sie müssen so tun, als wäre nichts geschehen, als wüssten sie von nichts.

Niemand darf erfahren, was Nicholas getan hat!

Sie läuft los. Dann, nach zehn oder fünfzehn Metern, bleibt sie automatisch stehen. Ein Teil von ihr will weiter. Aber der andere Teil, der plötzlich viel stärker ist, sagt ihr, dass sie weglaufen sollte. Fort von der Vergangenheit. Weg von allem, das sie kaputt gemacht hat.

Vielleicht erfahren alle davon, was mir passiert ist, denkt sie. Vielleicht bin ich dann nur noch die, an der sich der Pflegevater vergriffen hat. Die, die die Hose runtergelassen hat. Damit er es tun konnte.

Die Bäume werfen lange, dunkle Schatten. Es riecht feucht. Vom Fluss, der schäumend vorbeirauscht, steigen winzige Tropfen in die Luft.

Es gibt einen Uferweg. Manchmal verschwindet er kurz im Wald, aber es ist leicht, ihm zu folgen. Er führt hinauf zur Straße am Stauwerk. Nichts hält sie auf. Es wäre ganz einfach, nach Hause zu gehen, ganz leicht, das alte Leben wieder aufzunehmen! Und doch völlig unmöglich.

In ihrem Kopf dreht sich alles immer schneller. Sie hört Stimmen, mindestens zwei. Was soll sie tun? Das eine oder das andere? Sie friert und schlingt sich die Arme um die Schultern.

Hau ab, sagt die neue Katie. Sieh zu, dass du diese Hölle, ja, sogar Nicholas hinter dir lässt. Aber die alte Katie, die noch immer ein kleines bisschen in ihr drin ist, sagt: Das kannst du nicht tun!

Sie kann doch nicht einfach weglaufen …