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Bisher hatten sich die Jungs nicht sonderlich für Nora interessiert. Eigentlich so gut wie gar nicht. Aber jetzt war irgendwas passiert. Etwas hatte sich geändert – jedenfalls ein bisschen.

Sie standen nicht gerade Schlange, um mit ihr zu reden. Sie glotzten sie auch nicht so an, wie sie Benedicte anglotzten: mit der Zunge bis zu den Kniekehlen und den Händen gaaaanz tief in den Hosentaschen. Aber trotzdem … Jetzt guckten sie ab und zu auch zu ihr rüber.

Manchmal sah Nora auf und blickte plötzlich irgendeinem Jungen in die Augen, der dann nervös grinste und sich schnell abwandte. Fast als ob nichts wäre. Aber eben nur fast. So was war ihr früher nie passiert.

Aber sie wusste, woran das lag. Sie war ja nicht dumm. Sie war mit Nick zusammen gewesen. Und Nick war cool. Wenn einer wie Nick sich mit ihr verabredete, musste irgendwas an ihr dran sein. Vielleicht war sie viel spannender, als sie aussah? Keiner der Jungs hatte sich bisher die Mühe gemacht, irgendwas über sie rauszufinden. In ihr konnte ja … alles Mögliche stecken. Nora fand den Gedanken, dass alles Mögliche in ihr stecken konnte, ja, dass sie vielleicht sogar spannend, gefährlich und geil war, aufregend.

Eines Tages, als sie im Klassenraum saß und dem Lehrer zuhörte, sah sie sich heimlich um und dachte: Ich kann das auch! Ich kann genauso gut einen Typen anbaggern wie Benedicte und die anderen. Ich meine, warum auch nicht? Immerhin war ich mit einem der coolsten Typen der ganzen Schule zusammen!

Besonders realistisch war es aber trotzdem nicht. Irgendwie konnte sie es sich nicht richtig vorstellen, wie sie mit einem Jungen flirtete und ihn verführte. Wie sie ihn mit in ihr Zimmer nahm und ihm ihre Hand auf den Schritt legte. Merkte, wie er steif wurde, und dann zu ihm sagte: Willst du mich? Traust du dich, mich zu nehmen?

„… ja, nicht wahr, Nora?“

„Wie bitte?“ Sie hob den Kopf.

Der Lehrer sah sie mit einem leichten Lächeln auf den Lippen an. Es war schwer zu sagen, ob er amüsiert oder ungeduldig war.

„Hier. Ich wüsste gern etwas über diese Satzstellung.“ Der Lehrer klopfte an die Tafel, wie man an eine Tür klopfte, mit dem Knöchel seines Zeigefingers. „Meinst du, es gibt einen bestimmten Grund, warum der Autor diesen Satz ausgerechnet so formuliert hat?“

„Ach so“, sagte Nora. „Tja, also … bestimmt gibt es einen Grund, ja.“

Um sie herum breitete sich Gekicher aus. Der Lehrer grinste ebenfalls. „Ja“, sagte er. „Ich glaube auch, dass es einen Grund gibt.“

„Aber welchen?“, fragte Nora.

„Tja, das ist die Frage“, sagte der Lehrer.

„Sie wissen das doch bestimmt“, sagte Nora.

Da lachte die ganze Klasse laut. Zu jedem anderen Zeitpunkt in ihrem bisherigen Leben hätte Nora sich für immer und ewig ganz weit weg gewünscht. Aber jetzt gefiel es ihr seltsamerweise, im Mittelpunkt zu stehen. Sie hatte diese Bemerkung gemacht, damit die anderen lachten. Und sie hatte Erfolg gehabt. Sie hatte sie auf Kurs gebracht. Oder … ja, verdammt, sie hatte die anderen gesteuert. Die anderen hatten getan, was sie wollte!

„Klar“, sagte der Lehrer. „Ich weiß, was der Autor damit erreichen wollte. Ehrlich gesagt stehe ich seit fünf Minuten hier und erkläre genau das. Lustigerweise hast du genau diese fünf Minuten damit verbracht, aus dem Fenster zu gucken.“

„Aha“, sagte Nora.

„Ja“, sagte der Lehrer, „aha.“

„Okay“, sagte Nora und ihr Widerstand schrumpfte.

„Ich weiß, dass heute Freitag ist“, sagte der Lehrer. „Aber bleib trotzdem mal ein bisschen bei der Sache. Es gibt so was wie mündliche Noten.“

„Sorry“, murmelte Nora.

„Pass einfach ein bisschen besser auf “, sagte der Lehrer.

„Ist gut.“ Nora senkte den Kopf und starrte auf ihr Pult. Plötzlich war es nicht mehr ganz so lustig, im Mittelpunkt zu stehen. Und die anderen lachten auch nicht mehr. Der Moment war vorbei, von einer Sekunde auf die andere verbraucht.

So ist es, dachte Nora. Alles wird immer sofort irgendwie blöd.