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Ihr Vater verließ gerade das Haus, als Benedicte aus der Schule kam. Sie begegneten sich auf der Treppe. Lucas legte ihr den Arm um die Schulter, beugte sich zu ihr und drückte sie. Sie versteifte sich.
„Oh, Entschuldigung“, lachte er. „Bist du frisch geschminkt?“
„Nee.“ Sie lächelte schnell. „Aber ich …“
Er war zu sehr in Eile, um ihr zuzuhören. Dann schien ihm etwas einzufallen. „Ach ja“, sagte er und blieb am Auto stehen. „Sag mal, du hast nicht zufällig mein Hemd wiedergefunden?“
„Welches Hemd?“, fragte Benedicte.
„Das eine, das du neulich für mich gewaschen hast.“
„Aber ich habe das doch weggeschmissen.“
„Ach, richtig “, sagte ihr Vater.
Das weißt du ganz genau, dachte Benedicte. Du kannst mir nicht vormachen, dass du das einfach so vergessen hast.
Aber sie lächelte ebenso breit wie ihr Vater und sagte: „Das war doch total hinüber. Der Fleck war riesig. Der wäre niemals wieder rausgegangen.“
„Stimmt, stimmt“, sagte Lucas. „Draußen in die Tonne, ja? Und dann kam die Müllabfuhr und hat es mitgenommen?“
„Ja.“
„Na ja.“ Ihr Vater lächelte. „Dann ist es wohl ein für alle Mal weg.“
„Mm.“ Benedicte nickte.
„Im Nirwana“, sagte ihr Vater und wirkte richtig ausgelassen. Er freute sich wie ein kleines Kind über ein Überraschungsei.
„Im Nirwana?“, fragte Benedicte.
„Where all the good shirts go. Never to be found again.“
„Aber sonst geht’s dir gut, ja?“ Benedicte versuchte, unbeschwert und witzig zu klingen.
„Aber hallo!“ Ihr Vater öffnete die Autotür und stieg ein. Dann sagte er: „Ach übrigens, deine Mutter ist nicht da.“
„Was?“
Ihre Mutter war immer da. Entweder saß sie kerzengerade im Wohnzimmer oder in der Küche.
Oder sie lag im Bett und ruhte sich aus. Genauso kerzengerade und dünn wie eine Kerze.
„Sie, äh …“ Er warf einen Blick in den Spiegel und strich sich eine blonde Locke aus der Stirn. „Sie hatte Lust, sich mal was Gutes zu tun. Du weißt schon. Psychohygiene. Ein bisschen auf Vordermann kommen.“
Benedicte merkte, wie ihr die Kinnlade runterklappte. Wovon redete er? Psychohygiene? Ihre Mutter? Auf Vordermann kommen? Was sie brauchte, war eine Entziehungskur! Da half ja nun wirklich keine Psychohygiene mehr.
„Sie ist im Wellnesshotel“, sagte ihr Vater. „Weißt du nicht mehr? Eine Woche. Das tut ihr bestimmt gut. Es ist sowieso höchste Zeit, dass sie mal ein bisschen auf sich achtet.“
„Wie jetzt? Moment!“ Benedicte ging die Treppe hinunter. „In welchem Wellnesshotel? Wovon sprichst du eigentlich?“
„Das eine in Schweden, gleich hinter der Grenze. In der Nähe von Sunne. Ihr wart doch damals zusammen dort. Euer Mädels-Trip. Wart ihr da nicht auch drei oder vier Tage?“
„In der Nähe von Sunne? Dieses Gesundheitsding? Das ist mindestens drei Jahre her!“
„Aber du kannst dich noch dran erinnern. Da wollte sie jedenfalls hin.“
„Bleibt sie die ganze Woche weg?“
„Ich glaube, sechs Tage.“ Ihr Vater steckte den Zündschlüssel ins Schloss und packte den Türgriff, um zu signalisieren, dass er jetzt wirklich losmusste.
„Also echt“, sagte Benedicte. „Und das erzählst du mir so nebenbei?“
„Du, meine Süße …“
„Was ist eigentlich los, Papa?“
„Nichts. Nichts ist los, Schätzchen … Ich …“
„Was geht hier ab?! Ich merke doch, dass irgendwas nicht stimmt!“
„Ich dachte, du würdest dich freuen. Ich meine, ehrlich, ich weiß ja, dass du es nicht so leicht hast mit deiner Mutter.“
„Ehrlich?“ Benedicte stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn an.
Du und ehrlich?, dachte sie. Du kommst mit einem blutigen Hemd nach Hause und erzählst mir, du hättest dir ein kleines bisschen wehgetan! Du fickst Vildes Mutter! Fahr zur Hölle mit deinem EHRLICH.
Ihr Vater schlug die Autotür zu. Er drückte auf einen Knopf und die Seitenscheibe glitt hinunter. Er war noch immer gut gelaunt. „Ich glaube, das tut euch gut. Dir und Mama. Es sind doch nur sechs Tage.“
„Aber was ist mit essen und so?“, fragte Benedicte und zeigte mit dem Daumen hinter sich aufs Haus.
„Kannst du dir nicht was bestellen? Pizza? Oder was vom Chinesen? Bei mir wird es heute bestimmt spät. Bestell auf meine Rechnung bei Peppes.“
Er gab Gas, drehte sich um und fuhr rückwärts die Einfahrt hinunter.
„Ich bin heute Abend nicht da!“, rief Benedicte.
Er winkte mit einer Hand aus dem Fenster. „Dann viel Spaß!“
Er ließ die Kupplung kommen, und der Kies spritzte unter den Rädern auf, als er davonfuhr. An der Straße hielt er an, schaltete in den ersten Gang, dann verschwand er mit einem Lächeln und erneutem Winken.
Benedicte sah ihm nach. Ihr Rucksack rutschte langsam von der Schulter und landete auf der Erde. Was war das denn? Nie im Leben hatte ihre Mutter heute Morgen die Augen aufgemacht und gedacht: Ach, heute würde ich gerne mal zum Wellnessmachen nach Schweden fahren … Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Das war doch total absurd! Ausgerechnet ihre Mutter, die nie irgendwas unternahm, sollte so was tun? Sie schaffte es ja kaum in den Laden!
Benedicte stieg die Treppe zum Haus hoch und betrat den Flur. Sie kickte sich die Schuhe von den Füßen, knallte ihren Rucksack in die Ecke und ging ins Wohnzimmer. Sie hatte Vilde und Nora versprochen, etwas zum Trinken mitzubringen, also inspizierte sie erst mal die Hausbar ihres Vaters.
Die war wie immer gut bestückt. Er trank eigentlich nicht besonders viel, und ihre Mutter hatte ja meistens schon mit den Tabletten genug, aber trotzdem sorgte ihr Vater immer dafür, dass die Bar ausreichend gefüllt war. Und er hatte noch nie ein Wort darüber verloren, dass Benedicte sich manchmal bediente. Obwohl er es bei den Mengen, die ab und zu verschwanden, bestimmt merkte.
Im Unterschrank bewahrte er noch ein paar Extraflaschen auf. Benedicte suchte von dort und aus der Glasvitrine drei Flaschen von einem Rotwein aus, den sie mochte.
Sie stellte sie in der Küche auf die Anrichte. Gedankenverloren spielte sie am Hals einer der Flaschen herum. Sie riss die Aluminiumkapsel ab und drückte sie zu einer kleinen Kugel zusammen. Sie hatte Lust auf eine Zigarette, obwohl sie sonst nie allein rauchte. Eigentlich rauchte sie nur auf Partys oder wenn sie irgendwo bei Leuten zu Besuch war und es eben passte. Sie warf die kleine Kugel in hohem Bogen in die bronzefarbene Metalltonne, in der sie das Feuerholz aufbewahrten.
Dann ging sie in den Flur und holte sich das schnurlose Telefon. Sie rief auf dem Handy ihrer Mutter an. Es tutete einmal, zweimal, dreimal, viermal. Keine Antwort. Sie ließ es klingeln, bis das Besetztzeichen ertönte, bevor sie auf den Knopf mit dem roten Hörer drückte. Mit dem Telefon in der Hand stand sie da und dachte nach.
Es war merkwürdig. So sehr hatte sie ihre Mutter noch nie vermisst.