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Der Bus hielt an der Landstraße. Von hier aus war es noch ein Stück zu gehen. Nick schob den Tragegurt seiner Tasche hoch auf die Schulter. Er war ganz steif vom langen Sitzen. Aber das ging schnell weg.

Es war schon spät und längst dunkel. Am Straßenrand standen Laternen, deren gelbes Licht ihm einen langen schwarzen Schatten verlieh.

Er sah sich um. All die Straßen und Häuser, die Gärten und Hecken gaben ihm das Gefühl, nicht dazuzugehören. Genau so war sein Leben: Während die anderen sich unterhielten, Fernsehen schauten, es sich gut gehen ließen und jemanden hatten, zu dem sie gehörten, wanderte er allein eine lange, kalte Straße entlang.

Gleichzeitig fühlte er sich hier und jetzt auf diesem Bürgersteig seltsam zu Hause. Er war auf dem Weg zu einem Traum. Einem Albtraum vielleicht. Das hatte er nicht in der Hand. Er spürte Ruhe in sich aufsteigen. Die Gleichgültigkeit verwandelte sich langsam in Sicherheit, Gewissheit.

„Ach, verdammt“, flüsterte er sich selbst zu. „Sei nicht blöd!“

Er hatte doch wirklich keine Ahnung. Gewissheit? Sicherheit? Das waren doch nur große Worte, sonst nichts. Große Worte.

Ihm fiel auf, dass er immer langsamer ging, je näher er dem Haus kam. Er dachte über Kleinigkeiten nach, die normalerweise in den Hintergrund traten, die man kaum bewusst wahrnahm. Flüchtige Bewegungen, Mienen, Blicke, die nur von Bedeutung waren, solange sie währten, die man nicht festhalten konnte. Jetzt war trotzdem alles wieder da. Im Gehen fiel ihm alles wieder ein und er war sich sicher: Er tat das Richtige. Genau das wollte er.

Er erreichte die Auffahrt zum Haus. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. Er stieg die Treppe hinauf. Klingelte. Niemand machte auf. Er klingelte noch einmal, war aber zu nervös, um abzuwarten. Er drückte vorsichtig die Klinke runter. Dann schob er die Haustür auf und ging hinein.

Im Flur herrschte Chaos. Überall lagen Sachen kreuz und quer verstreut. Mit einem großen Schritt stieg er darüber und bahnte sich einen Weg zum Wohnzimmer. Sie waren ziemlich erstaunt, als sie ihn sahen. Es war ihm egal. Er schaute sich um. Am liebsten hätte er ihren Namen gerufen. Aber das traute er sich nicht. Das wäre zu viel gewesen.

Er ging ins Wohnzimmer. Dort stapelten sich die Leute. Er schob und schubste sich voran, bis er plötzlich nicht mehr weiterkam.

Er blieb stehen und überlegte, was er sagen würde – wenn er sie doch bloß finden könnte. Dass er so alt war, viel, viel älter, als er aussah. Dass er müde war und nichts weiter wollte, als geliebt zu werden. Von jemandem, den er wiederlieben konnte. Und dieser Jemand, das war sie. Es gab niemand anderen, nicht für ihn. Es gab nur Nora. Er wollte bei ihr sein. Jetzt war er dazu bereit. Es gab nichts mehr, wovor er fliehen musste. Dies war seine letzte Reise, seine letzte Station.

Aber dann sah er sie.

Er stand in der Mitte des Raumes. Die Party um ihn herum war in vollem Gange. Vilde lehnte am Küchentürrahmen. Sie lächelte überrascht und winkte. Er nickte ihr zu. Sie hielt ihr Handy in die Höhe und machte ein Foto von ihm. Der Blitz blendete ihn. Kleine Leuchtpunkte hüpften und tanzten vor seinen Augen. Er rieb sich über die Lider und blinzelte. Die weißen Punkte wurden dunkler, grau, verschwanden schließlich. Er konnte wieder im Dunkeln sehen.

Und er sah sie. Nora.