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Nora und Vilde kehrten ins Haus zurück und sahen vom Küchenfenster aus zu. Sie wussten beide, wer der Mann war. Er war bei den Vernehmungen dabei gewesen.
„Kruse“, sagte Vilde. Sein Name war nicht schwer zu behalten.
„Ja“, sagte Nora.
Bei der Party war die Luft raus. Irgendjemand stellte die Musik ab. Eine Weile schien niemand etwas anderes sagen zu können als „Hä?“, „Was?“ und „Echt? Nick?“
Vilde sagte gar nichts mehr. Sie machte Fotos durchs Fenster.
Kruse wartete mit Nick, der im Dreck lag, draußen in der Einfahrt, bis ein Streifenwagen kam. Dann durfte Nick aufstehen und wurde neben einen uniformierten Polizisten auf den Rücksitz verfrachtet.
Eine Polizistin blieb und befragte die Partygäste. Ob irgendwas Besonderes passiert sei, als Nick reinkam? War er gewalttätig geworden oder wirkte er besonders wütend? Warum war er hergekommen?
Sie bekam keine brauchbaren Antworten. Sie schrieb sich die Namen derer auf, die Nick im Haus gesehen hatten, dann schickte sie die Leute weg. „Am besten, ihr geht jetzt nach Hause.“ Sie sah Nora an, während sie das sagte, und Nora wusste, dass ihre Mutter längst über alles informiert war.
Zwei Minuten später rief sie auch schon auf Noras Handy an. „Hallo, Nora“, sagte sie.
„Was soll das alles?“, fragte Nora und lief schnell die Treppe in den ersten Stock hinauf. Sie wollte ungestört reden. „Was passiert mit Nick?“
„Na, Schatz“, sagte ihre Mutter. „Dein sozialer Umgang war wohl …“
„Mama!“
„ … ein voller Erfolg, wie ich höre!“
„Bitte!“
Ein paar Sekunden war es still.
„Okay“, sagte ihre Mutter. „Entschuldige.“
„Was ist mit Nick?“, fragte Nora.
Ihre Mutter schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Schön. Aber du darfst niemandem etwas sagen. Noch nicht!“
„Ich will wissen, was los ist!“
„Er wird des Mordes verdächtigt.“
„Nick?“
„Ja.“
„Mord?“
„Ja.“
„Aber … Nein.“
Darum war ihre Mutter so sehr an Nick interessiert gewesen. Sag mir Bescheid, wenn er dich anruft oder so. Dann kann ich den Pflegeeltern sagen, dass es ihm gut geht.
Von wegen Pflegeeltern! Er war Verdächtiger in einem Mordfall. Sie wollten ihn verfolgen, ihn ausspionieren. Ihre Mutter – ihre eigene Mutter! – hatte versucht, sie zu instrumentalisieren!
Noras Stimme wurde leise. „Das ist doch alles Scheiße. Er hat niemanden umgebracht. Du redest Scheiße. Weißt du das?“
„Nein, Nora. Es tut mir leid. Es besteht kein Zweifel. Wir wissen, dass er Synnøve Viksveen umgebracht hat. Wir haben ein Video gefunden, das es beweist. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Begreifst du, Nora? Das war unser Hauptjob heute. Ich habe hier in Oslo mit den Spezialisten gearbeitet, um herauszufinden, ob der Film manipuliert sein könnte. Aber das ist er nicht. Er ist echt. Wir sind sicher.“
„Ein Film?“, fragte Nora. „Was für ein Film?“ Und sie betete zum lieben Gott, dass die Mutter nicht alles wusste, nicht alles bis ins kleinste Detail. Nicht, dass Vilde in Synnøve Viksveens Haus gewesen war, als es passierte!
„Ein kurzer Clip“, sagte ihre Mutter. „Ein winziger Ausschnitt, nur ein paar Sekunden. Aber lang genug. Mehr als ausreichend. Es ist unverkennbar Nick. Er greift Synnøve Viksveen an, sie fällt und verletzt sich. Und stirbt.“
„Ah“, machte Nora. Sie umklammerte das Handy so fest, dass ihr die Finger wehtaten. Sie wussten also nichts von Vilde … Einen kurzen Moment war sie froh. Es rauschte in ihrem Kopf und im Körper.
Dann machte sich die Wirklichkeit wieder breit. Nick war verhaftet worden. Es würde einen Haufen Verhöre und ein großes Durcheinander geben. Und wenn er der Polizei von Vilde erzählte?
„Es kann nicht …“, fing sie an.
„Da ist noch mehr, Nora.“ Ihre Mutter wirkte ehrlich bedrückt. „Einiges deutet darauf hin, dass er am See gewesen ist. Und er ist abgehauen, kurz nachdem Wolff umgebracht wurde. Und dann ist da noch was … von früher … also, Dinge, die in seiner Vergangenheit passiert sind.“
„Du kannst mich mal“, flüsterte Nora.
Sie wusste nicht, woher das kam. Plötzlich waren ihre Lippen so schmal und hart, dass sie den Mund fast nicht mehr bewegen konnte. Sie war von innen heraus kalt, ihr Kopf fühlte sich zu klein an. Ihr Mund war trocken. Und sie war wütend auf sich selbst, so abartig wütend. Nick war für etwas verhaftet worden, das er nicht hatte tun wollen. Und den Rest hatte er ganz sicher nicht getan. Aber das Einzige, was sie im Kopf hatte, war, dass Vilde ungeschoren davonkam.
„Nora“, sagte ihre Mutter.
„Leck mich!“
„Nora. Bitte! Sei so lieb …“
„Nein“, rief Nora. „Ich bin nicht lieb. Hörst du? Ich bin nicht lieb! Ich werde nie wieder lieb sein!“