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Vilde ging nach Hause. Am liebsten wäre sie gerannt. Aber sie hatte einen ekligen, schalen Geschmack im Mund und es kratze ganz unten am Rücken, am Steißbein. Sie dachte: nicht rennen, überhaupt nichts Auffälliges tun. Die Leute sollen dich nicht ansehen. Niemand soll dich bemerken.

Es bestand die Möglichkeit, dass Nick sie verriet. Ja, das würde er tun! Warum sollte er es für sich behalten? Sie war die Einzige, die ihm helfen konnte. Sie war die Einzige, die dabei gewesen war. Die Einzige, die wusste, dass Viksveens Tod ein Unfall gewesen war. Er würde erzählen, dass sie auch dort gewesen war, und das würde ihr Leben für immer verändern.

Aber wenn es gar nicht um die Viksveen geht? Wenn die Polizei ihn wegen etwas anderem festgenommen hat?

Fast wäre sie stehen geblieben. Was, wenn nicht Viksveen, konnte der Grund sein? War es möglich, dass Nick eins der anderen Verbrechen begangen hatte? Die Sache mit Wolff? Trine?

Nein!

Vilde lief leicht vornübergebeugt. Sie hörte ihren eigenen keuchenden Atem. Sie musste so schnell wie möglich nach Hause. Sie wusste nicht, was mit ihr passierte. Sie fühlte sich, als würde sie sich auflösen.

In nur zwei Minuten war sie daheim. Auf der Treppe wühlte sie nach dem richtigen Schlüssel.

Charlene öffnete die Tür, noch ehe sie den passenden Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte. „There you are.“

„Yes“, sagte Vilde und quetschte sich durch die Tür. „Wo ist Mama?“

„Went out. Gonna be late, she said.“

„Dann ist sie mit ihm zusammen. Benedictes Vater. Dieser Lucas.“

„Maybe.“ Charlene machte die Tür zu und schloss sie ab. „I saw a policecar.“

„Yes.“ Vilde holte ihr Handy aus der Tasche und hielt es ihr hin. „Ich habe Fotos gemacht.“

„Fotos?“ Charlene legte den Kopf schräg.

„Ja, hier!“ Vildes Stimme überschlug sich. Die Hand, in der sie das Telefon hielt, zitterte.

Charlene fasste sie vorsichtig am Arm. „Honey …“

„Ich habe Fotos gemacht. Von der Polizei und Nick und allem!“

„That’s not making any sense. Please, Vilde. Please.“

Vilde lehnte sich an Charlene. Sie spürte ihre weichen Brüste an sich. Wundervolle Charlene. Schöne, gute, scharfe Charlene. Ihre Lippen berührten flüchtig Vildes Wangen und ihre Hand strich wieder und wieder über ihren Rücken. „It’s okay. It’s okay.“

Eine Weile blieben sie so stehen. Es war schön.

Dann räusperte sich Vilde. „Die Polizei hat Nick verhaftet. Auf der Party.“ Widerwillig zog sie sich zurück. Sie klickte sich durch die Fotos. „Sie glauben, er war es. Sie verdächtigen ihn, dass er jemanden umgebracht hat.“

Charlene hob eine Hand und strich ihr über die Wange. „Oh no, oh honey. I’m sorry. I’m so sorry.“

Vilde streckte ihr das Gesicht entgegen. Charlene war ein Stück größer. Sie küssten sich vorsichtig. Ihre Lippen berührten sich kaum.

Vilde dachte, dass es genau darum ging. Sie lebte jetzt. Es war egal, was morgen geschah.