Kapitel 13

Der Wolkenbruch schwemmte die Reste der Party weg wie ein Februarregen den schmutzigen Schnee. Louis stand im fahlen Licht des anbrechenden Morgens oben an der Tür zur Terrasse des Schlosses und sah hinaus auf den kleinen See. Unten am Ufer, im strömenden Regen, standen mehrere Gestalten in Plastikumhängen. Die Tropfen klatschten auf die bleierne Oberfläche des Sees, der von zwei Schlauchbooten im Kreuzkurs abgesucht wurde. Zwei Taucher standen im Wasser, das ihnen höchstens bis an die Brust reichte, und gaben mit Neoprenanzügen, Taucherbrillen und Suchlampen ein groteskes Bild ab: Froschmänner in einem im englischen Landschaftsstil angelegten Kunstteich, deren Flossen hilflos wie gestrandete Fische in der Luft zappelten, wenn sie versuchten, abzutauchen.

Louis zog heftig an seiner Zigarette und feuerte sie dann müde in den wie eine Wunde nässenden Morgen.

»Ja, klasse«, schnauzte ihn ein wasserdicht verpackter Polizist an. »Das ist ein Tatort, Mann.«

Louis sah ihn mit leeren Augen an, zuckte mit den Schultern und ging ins Schloss.

Eines der Boote wendete und steuerte auf die Gruppe von Leuten am Ufer zu. Der Mann im Bug schwenkte einen Spazierstock über dem Kopf, den er aus dem Wasser gefischt hatte.

Als Anna und Rocco in der Nacht das Ufer erreicht hatten, waren sie schnurstracks zu Louis und Julia an die Bar geeilt. Ein heftiger Luftstoß hatte draußen einen Sektkühler von der Balustrade auf den Boden fallen lassen. Es war, als wäre der beginnende Sturm mit ihnen durch die Tür gekommen. Gardinen wirbelten, Kleider und Haare wehten im Wind, der durch die Tür drang. Zuerst stockten nur ein paar, dann immer mehr Tänzer. Wenig später folgten Rocco und Anna einigen uniformierten Polizisten, die sie per Handy angefordert hatten. Die Musik brach ab.

»Lohhausen ist oben«, hatte Louis gesagt und mit dem Daumen zur Treppe gedeutet. »Den Gang entlang und hinten links im Salon.«

»Und PP?«

»PP?«

»So ein großer, breiter Kerl, der humpelt.«

»Oh«, hatte Louis gesagt. »Der ist auch oben.«

»Wie geht’s dir?«, fragte Anna und sah Julia kritisch an.

Julia seufzte. »Okay«, brachte sie hervor, aber auf einmal würgte sie etwas in der Kehle und sie hatte Mühe, nicht laut aufzuschluchzen.

Anna und Rocco waren nach oben gerannt, trafen im Salon jedoch niemanden mehr an, außer Schimmler, der ihnen keinerlei klare Auskunft geben konnte.

»Alle weg«, sagte er mit verwaschener Artikulation. »Kommen aber wieder.«

Anna und Rocco hatten daraufhin die anderen Räume durchsucht. Sie trafen ein paar ältere Herren buchstäblich mit heruntergelassenen Hosen an und schickten sie nach Hause. Im Gang entdeckten sie die goldenen Schalen mit den Resten eines weißen Pulvers.

»Wenn gar nichts hilft, kriegen wir ihn wenigstens deswegen dran«, knurrte Anna. Rocco nickte. Wieder unten angekommen, warf er Louis einen vorwurfsvollen Blick zu. »Ich hoffe, die Sache mit dem Koks ist nicht auf deinem Mist gewachsen«, flüsterte er, sodass Anna es nicht hören konnte.

»Quatsch. Wo denkst du hin«, flüsterte Louis zurück. »Ich bin doch nicht blöd.«

»Hast du was genommen?«

»Nein.«

»Hm.«

Anna und Rocco waren wieder nach draußen geeilt. Zwei Gestalten standen dort neben der Bootsanlegestelle am Ufer: Garcia und McCarthy. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ein Blitz zerriss das Dunkelblau der Nacht. Anna sah, wie sich das Licht in Garcias Zähnen widerspiegelte. Er versuchte zu lachen. Dann dröhnte ein Schlag aus den Wolken und der Regen prasselte herunter.

»Hey«, rief Garcia. »Wir haben was gefunden.« Er winkte sie mit langsamen, algenähnlichen Bewegungen zu sich.

Binnen Sekunden waren Anna und Rocco bis auf die Haut durchnässt, aber die Tropfen waren nicht kalt. Garcia stand im Regen wie ein Baum, ab und zu erleuchteten Blitze die zerfurchten Rinnen seines Gesichts. Er sah aus wie ein Eingeborener vom Pascagoula River, von den Schlangen im Sumpf abstammend, dem ungewissen Element zwischen fest und flüssig entschlüpft. Die dünnen Haare lagen wie Wasserfälle an seinen Schultern. Die Tropfen perlten von ihm ab wie von geharztem Holz. Vielleicht, weil er sich nie wäscht, überlegte Anna. McCarthy neben ihm sah aus wie ein großer, fetter Milchtropfen, der gerade dabei war, ein Hawaii-Hemd von innen zu durchnässen.

»Was gibt’s denn?«, rief Rocco und versuchte, einen gewaltigen Donnerschlag und das Rauschen des Regens zu übertönen.

»Da hinten«, sagte McCarthy und zeigte hinter sich. »Da hinten am anderen Ufer.«

»Was ist da?«, fragte Rocco ungeduldig.

»Da liegt jemand im Wasser.«

Anna sah Rocco an. Von dort waren sie doch gekommen. Sollte einem der Jugendlichen etwas passiert sein?

Sie hasteten durch den strömenden Regen am See entlang. Immer wieder erhellten Blitze die umstehenden Bäume, deren Kronen vom Wind in wilden Zuckungen durch die Luft geworfen wurden. Ein paar Ruderboote hatten sich losgerissen und tanzten herrenlos auf den schmalen Wellen, mehr vom Wind als von den Wellen getrieben. Das Wasser war schwarz wie Öl.

Als sie eine Weile den nassen, schlammigen Weg am Ufer entlang gestolpert waren, sahen sie eine Gestalt im Gras liegen. Sie rührte sich nicht.

»Da«, sagte Garcia, der ihnen nur mit Mühe gefolgt war, und streckte seinen wurzelholzartigen Arm aus. McCarthy schwankte irgendwo hinter ihnen in der Dunkelheit.

Rocco war als Erster dort. Er drehte den Mann um und sah in das verzerrte Gesicht von PP. Rocco fühlte seinen Puls. Nichts. Er war tot.

»Komm, Anna, wir müssen es versuchen«, sagte er. Sie legten PP auf den Rücken und versuchten es mit Herzmassage und Beatmung.

»Er ist tot«, sagte McCarthy, inzwischen herangekommen, und tippte mit dem Fuß leicht an den Körper. »Wir haben es schon versucht.«

»Hey, lassen Sie das.« Anna stieß seinen Fuß grob zur Seite.

Schließlich gaben sie auf. Es war nichts zu machen. Rocco angelte sein Handy aus der Tasche und rief die Spurensicherung an. Dann gab er eine Fahndung nach Lohhausen, Mindy Schneider und dem Franzosen heraus. Möglicherweise, hoffte er, waren sie ja zu Hause.

»Sagt mal«, sagte Rocco zu Garcia und McCarthy, nachdem er seine Anrufe erledigt hatte. »Wie kommt ihr eigentlich hierher?«

»Du weißt doch«, sagte McCarthy. »Wir haben diese Kugel …«

»Erzähl mir doch keinen Scheiß«, fuhr Rocco ihn an. »Was hattet ihr hier zu suchen? Immer wenn in dieser Stadt jemand stirbt oder verunglückt, seid ihr in der Nähe. Das ist doch nicht normal.«

»Es ist der Pilz«, flüsterte Garcia. Sturzbäche flossen von seinem Schnurrbart zu Boden, als er sich vornüber zu Anna und Rocco beugte und in die Hocke ging. »Der Pilz ist hier.«

»Genau.« McCarthy zog die Augenbrauen hoch.

Anna schüttelte es auf einmal vor Kälte. Sie bekam eine Gänsehaut. Wie eine Erleuchtung sah sie die Szene vor sich, die sich hier gerade abspielte. Sie stand im Gewitter bei strömendem Regen mit den zwei irrsten Typen, die sie jemals kennen gelernt hatte, und ihrem Kollegen, dem zweitirrsten Typen, den sie kannte, neben einer Leiche, deren – das konnte man sehen, wenn ein Blitz die Umgebung kurz erleuchtete – bleichen Lippen ein dünnes Rinnsal Wasser entschlüpfte. PPs Haare waren nach hinten gewaschen, Regen klatschte ihm ins verzerrte Gesicht, ein Auge war zur blinden Steinmurmel erstarrt, das andere geschlossen. Sie ertappte sich dabei, dass sie beobachtete, ob er nicht vielleicht doch noch zuckte, wenn ein Tropfen in sein geöffnetes Auge fiel. Nichts. Er hatte es hinter sich. Aber was, verdammt noch mal, hatte sie hier zu suchen? Das war definitiv der falsche Ort, an dem sie sich befand. Das wurde ihr schlagartig klar. Sie hatte schließlich genug eigene Leichen im Keller …

Rocco schüttelte sie.

»Anna? Alles klar?«

Sie sah ihn an, als würde sie aus einer verschlungenen, lichtlosen Höhle zurück an die Oberfläche kommen. Langsam strich sie sich ihre nassen Strähnen aus dem Gesicht.

»Ja, ja. Aber ich möchte endlich mal wissen, was das für ein verdammter Pilz sein soll.«

Die Männer im Boot, die im Morgengrauen den See absuchten, brachten PPs Stock an Land. Sie hatten weder Papiere noch Geld oder sonst etwas Persönliches bei ihm gefunden und waren jetzt auf der Suche danach. Allerdings hatte die Spurensicherung oben im Salon unter dem Sofa eine Pistole entdeckt. Schimmler wisse nicht, wem sie gehörte, und beteuerte, seine sei es nicht.

Anna und Rocco standen am Ufer und sahen dem Boot entgegen. Sie hatten sich halbwegs abgetrocknet und durchsichtige Regencapes bekommen, über die unstet der Regen glitt. Neben ihnen standen ein paar Leute von der Spurensicherung, die den Stock entgegennahmen, und Dr. Mahler. Auch sie hatte ein durchsichtiges Regencape an, unter dem es in fleischlichen, ungesunden Farben schillerte. Ihr Leichenparfumgeruch hielt sich heute in Grenzen, wurde in Schach gehalten von dem Cape, dem Tiefdruckgebiet und dem Regen, die eine Diffusion der Geruchspartikel verhinderten. Ein großer Tropfen hatte ihre Wimperntusche getroffen und einen schwarzen Strich entlang ihrer Wange fast bis zum Mundwinkel gezeichnet. Dr. Mahler war schlecht gelaunt.

»Ich hasse es, bei diesem Wetter aus dem Haus zu gehen«, sagte sie. »Ich hasse es, bei diesem Wetter überhaupt etwas tun zu müssen. Können diese Leute nicht an einem anderen Tag sterben?«

Rocco zuckte mit den Schultern. Er war müde. Dr. Mahler hatte ihnen erklärt, dass es beinahe unmöglich sei, festzustellen, an was PP letztendlich gestorben sei. Dazu hatte er viel zu viele Verletzungen. Einige davon machten zwar den Eindruck, versorgt worden zu sein – an dieser Stelle nickte Rocco, was Dr. Mahler geflissentlich ignorierte –, wohingegen andere definitiv neu waren. Wahrscheinlich sei er ertrunken, aber ob das unter Gewalteinwirkung geschah, könne sie erst klären, wenn sie ihn auf dem Tisch habe.

Auf dem Tisch, dachte Rocco.

»So. Wenn Ihre Kollegen dann so weit sind, kann ich den Jungen einpacken lassen, ja?« Dr. Mahler verzog die Lippen zur Grimasse eines Lächelns.

»Ja«, sagte Rocco und fragte sich, warum eigentlich immer er mit Dr. Mahler sprechen musste. Nächstes Mal würde er Anna dazu verdonnern. Schließlich war er ihr Chef.

»Sie haben Lohhausen aufgegriffen.« Rocco verstand nicht gleich, aber Anna machte keine Anstalten, ihren Satz zu wiederholen. Der Regen prasselte in steter Gleichmäßigkeit auf seine durchsichtige Plastikkapuze. Er kam sich vor wie in einem Zelt, abgeschottet von der nassen Außenwelt.

»Er hat in seinem Büro übernachtet, behauptet er. Sie haben ihn mit aufs Präsidium genommen.«

»Wen?«

»Lohhausen.« Anna verzog keine Miene. »Komm schon, lass uns fahren.«

Im Auto quälten sie sich aus ihren Plastikumhängen, die auch von innen feucht geworden waren, da ihre Kleider vom Gewitterregen heute Nacht schon durchnässt waren, bevor die Spurensicherung eingetroffen war. Die Scheiben beschlugen und Rocco schaltete das Gebläse ein.

»Ich habe im Büro noch Klamotten zum Wechseln. Du auch?«, fragte er.

Anna sagte nichts. Sie warf den Umhang auf den Rücksitz und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Rocco ließ den Motor an. Das Summen des Gebläses erhöhte sich beim Starten um eine Frequenz. Er steuerte den Wagen auf die schmale Zufahrtsstraße vom Schloss zur Landstraße.

»Soll ich kurz bei dir vorbeifahren, damit du dir was anderes anziehen kannst?«, fragte Rocco.

Anna sagte nichts. Sie strich mit dem Finger über das Handschuhfach und hinterließ im dünnen Staubfilm eine dunkle Spur. Der Dunst auf der Windschutzscheibe wich langsam dem dauernden Ansturm des Gebläses und gab sich in ausweitenden, beinahe gotischen Kirchenfensterbögen widerstrebend die Sicht auf die nasse, dunkelgraue Straße frei. Weit hinten am Horizont vermeinte Rocco ein helleres Grau zu erkennen, das sich von dem tief liegenden, dunklen Wolkenteppich über ihnen abzuheben schien.

»Da hinten wird es, glaube ich, besser«, sagte er und blickte mit professionell gerunzelter Stirn und TV-amerikanischer Meteorologenmiene hinauf zum Himmel.

Irgendetwas stimmte nicht. Rocco hatte es schon den ganzen Morgen gespürt. Anna hatte kaum etwas gesagt, und wenn er sie etwas gefragt hatte, einsilbige Antworten gegeben, als würde sie das alles nichts angehen. Sie hatte sich nicht über ihn geärgert, sie hatte keinen Ton über die Kokainschalen und über Louis verloren. Eigentlich hatte sie sich nur darum gekümmert, dass Julia nach Hause kam. Ansonsten hatte sie die ganze Zeit – seitdem sie PP im Wasser entdeckt hatten – einen eher geistesabwesenden Eindruck gemacht, so, als würde sie über etwas nachdenken, das in keinerlei Zusammenhang mit ihrem Fall stand. Aber Rocco war sich sicher, dass es etwas mit dem Fall zu tun hatte. Und er hatte das unbehagliche Gefühl, dass es mit ihm zu tun hatte.

»Was meinst du übrigens zu der Sache mit Garcia und McCarthy? Ich glaube ja, dass die da waren, um den Typen auf der Wiese bei der Kapelle irgendwelches Zeug zu verkaufen. Da fällt mir ein: Wo waren die eigentlich alle auf einmal?«

Anna atmete tief ein. »Rocco, ich muss mit dir reden«, sagte sie. Sie starrte geradeaus und sah dem letzten Zurückweichen des Wasserdunsts auf der beschlagenen Windschutzscheibe zu. »Ich glaube, dass Peter Paul noch leben könnte …«

Rocco schürzte die Lippen und konzentrierte sich darauf, zwischen den auf der Landstraße herankommenden Autos eine Lücke zu entdecken, um einzufädeln. Plötzlich gab er Gas und fuhr mit quietschenden Reifen aus der Seitenstraße. Der Wagen hinter ihm gab Lichthupe.

»Pass doch auf«, sagte Anna.

»Schon gut. Und?«

»Ja, dass Paul noch leben könnte …«, fuhr Anna fort, leicht aus dem Konzept gebracht. »Und ich denke, dass er nicht mehr lebt, ist deine Schuld. Das wollte ich dir sagen. Ich glaube, dass er noch leben könnte, wenn wir uns mehr beeilt hätten. Du hast dir bewusst so viel Zeit gelassen, um die Situation eskalieren zu lassen. Das heißt, du hast bewusst in Kauf genommen, dass jemandem etwas zustößt. Es ist bereits ein Mord geschehen, das war also kein Spaß. Ich mache dich zumindest teilweise dafür verantwortlich, dass er gestorben ist. Und ich muss das zur Sprache bringen. Ich kann da nicht einfach drüber hinweggehen.« Sie warf einen scheuen Blick auf Rocco. Er sagte nichts, starrte stur nach vorn und kaute auf seiner Unterlippe. »Ich bin schon über so viel hinweggegangen. Aber das geht zu weit. Ich werde das in meinem Bericht genau so schreiben. Es tut mir leid.«

Sie standen an der Ampel. Der Blinker klickte im Rhythmus seines Lichtzeichens. Der Regen fiel prasselnd auf das Autodach. Rocco schaltete den Scheibenwischer eine Stufe zurück. Er räusperte sich. »Mhm«, machte er.

Als hätte Anna nur auf die leiseste Äußerung von ihm gewartet, fuhr sie fort: »Warum, Rocco? Das war doch nicht nötig. Er könnte noch leben, oder? Sag mir, dass ich mich täusche, aber das kannst du nicht, oder? Wir machen einfach immer nur weiter … Wir geben unsere Fehler nicht zu, wir stehen vor Toten, die wir selbst auf dem Gewissen haben … Wir hätten uns nur ein bisschen mehr beeilen müssen … Und …« Sie brachte es nicht über die Lippen, dass sie selbst nichts dafür konnte, weil sie ihm mehrfach gesagt hatte, sie sollten sich beeilen. Hatte nicht jeder Einzelne die Verantwortung?, dachte sie, sagte allerdings nichts weiter.

»Und?«, fragte Rocco. Er bog scharf in eine Parkbucht ein, vor der nächsten Ampel in Eglosheim, stellte den Motor ab und beugte sich zu Anna hinüber, den rechten Arm auf die Kopflehne ihres Sitzes gestützt. Sie saß blass da und starrte geradeaus. »Und? Dir hat der Regen wohl das Hirn aufgeweicht. Du willst sagen, du kannst nichts dafür? Dass es meine Entscheidung war?« Er presste die Lippen zusammen. Anna zitterte leicht. Rocco atmete tief ein und beruhigte sich wieder. »Meinst du vielleicht, mir macht es Spaß, Leichen zu sehen? Mit Dr. Mahler im Matsch herumzustapfen und mir blöde Sprüche anzuhören? Ich versuche in erster Linie, Morde aufzuklären, Anna. Verhindern kann ich sie normalerweise nicht. Aber glaubst du im Ernst, ich nehme den Tod eines Zeugen oder eines Verdächtigen billigend in Kauf? Wir haben die Toten nicht auf dem Gewissen, Anna.«

»Wir waren zu spät da«, beharrte Anna, zitternd und blass. »Wenn wir nur zwei Minuten früher gekommen wären, dann hätten wir sie noch erwischt, und niemandem wäre etwas geschehen. Da bin ich sicher. Du hast die Sicherheit von Julia und von Peter Paul leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Das ist meine Meinung.«

Rocco nickte vor sich hin. »Julia, hm?«, meinte er böse. »In Wirklichkeit geht es dir nur um Julia. Du hattest Angst, dass ihr etwas zustößt, stimmt’s? Aber Louis war ja da … Und Julia wollte uns helfen, ich habe sie nicht dazu gezwungen.«

»Es geht mir nicht nur um Julia. Ich meine es ernst, Rocco.«

Sie saßen eine Weile schweigend im Auto, wie abgeschnitten vom Rest der Welt. Der Regen prasselte aufs Dach, an den beschlagenen Scheiben schoss das Wasser in Sturzbächen herunter. Draußen waren kaum die gegenüberliegenden Häuser in ihrem schmutzigen Ruß- und Abgasgrau zu erkennen, das kein Regen der Welt mehr abwaschen konnte. Trostlose Häuser am trostlosen Eingang der Stadt …

Rocco startete den Wagen und gab Gas.

»Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte er leise. »Aber daraus besteht unsere Arbeit. Wir müssen Entscheidungen treffen. Die Frage ist doch, ob sie leichtfertig oder mit Überlegung getroffen werden. Vielleicht war meine Entscheidung zu warten falsch, aber sie war nicht leichtfertig. Ich habe die Situation eben anders beurteilt als du. Glaubst du mir, dass ich meinen Job ernst nehme?«

»Du hast die Situation falsch beurteilt«, sagte Anna leise. »Und ich bin mir nicht immer sicher, ob du deinen Job ernst nimmst … Manchmal habe ich den Eindruck, du hast da etwas aus den Augen verloren …«

»Und du hast immer alles im Blick, oder wie?«, unterbrach Rocco sie abrupt.

»Nein.« Anna schwieg. Es hatte keinen Sinn, weiterzureden. Sie hatte gesagt, was sie sagen wollte. Rocco hatte recht. Man musste sich permanent entscheiden, und manchmal war das, wofür man sich entschied, falsch. Aber dieser ganze Fall war vom ersten Augenblick so vertrackt … Roccos Methoden, wenn man bei ihm überhaupt von Methode reden konnte …

Anna hatte den Eindruck, dass sie etwas ganz anderes zu tun hatte. Auf diese Weise würde sie auch nicht von der Vergangenheit loskommen. Sie würde niemals davon loskommen oder eine Art finden, damit umzugehen … Es war hoffnungslos.

»Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte Rocco noch einmal. Wenig später bog er in den Hof des Präsidiums ein und parkte den Wagen.

»Und jetzt?«, fragte Anna.

Rocco zuckte mit den Schultern. »Wir machen weiter und schreiben dann unsere Berichte, würde ich sagen. Oder sollen wir mittendrin hinschmeißen?«

Anna schüttelte den Kopf. »Nicht mittendrin. Wenn das okay für dich ist?«

»Okay.«

Kaum hatten sie das Präsidium betreten, ließ der Regen nach.