»Hör mal, Rocco.« Anna blitzte ihn über ihre Kaffeetasse hinweg gefährlich an. »Für mich ist das ein ausgewachsenes Drogenlabor. Die beiden gehören hinter Gitter.«
Rocco zuckte mit den Schultern.
»Bin ich bei der Drogenfahndung? Garcia und McCarthy stehen bei denen auf keiner Liste, nicht mal auf irgendeinem Fresszettel. Außerdem wissen wir ja gar nicht genau, um was es sich bei den Nährböden und Pilzen tatsächlich handelt. Vielleicht ist alles ganz harmlos.«
»Ich weiß nicht, was die mit dir in deiner Jugend gemacht haben.« Anna schüttelte den Kopf und sah zum Fenster hinaus.
Sie saßen in der Fußgängerzone in einem Café. Draußen waren alle Tische belegt gewesen, aber sie hatten beide keine Lust gehabt, eine andere Kneipe zu suchen. Ihre Kehlen waren ausgetrocknet und staubig vom unterirdischen Spaziergang in Pattonville. Anna wusste, dass Rocco die leise Hoffnung hegte, Louis hier zu treffen, einen alten Freund aus Schulzeiten. Also blieben sie und setzten sich nach drinnen an die verglaste Front des Cafés. Dort war es sehr ruhig im Gegensatz zu draußen. Nur zwei Tische waren besetzt.
Vor der Scheibe summte das Leben, es wurden Stühle zusammengestellt, Tische verrückt, Kinderwagen möglichst so platziert, dass die Bedienungen keinen Weg mehr zu den hinteren Tischen fanden, Hunde an Stuhlbeine geleint, weinende Kinder beruhigt und Bestellungen aufgegeben. Fast erschrocken nahm Anna mit einem Mal die Diskrepanz wahr zwischen der unterirdischen Welt mit ihren schwach leuchtenden, quasi in sich ruhenden, fast hätte sie gedacht, selbstbewussten Bewohnern, aus der sie gerade kamen, und dieser oberirdischen mit ihrem wuselnden Trubel, dem chaotischen Verorten, den diffusen Befindlichkeiten und fraglichen Bedürfnissen. Sie sah hinaus und stellte sich die lapidare Frage, wer jetzt hinter und wer vor der Scheibe saß, also, wer Besucher und wer ausgestellt war, also … Ihre Gedanken verhedderten sich und einen Augenblick befürchtete sie, vielleicht zu viel Pilzsporen eingeatmet zu haben. Sie war auf dem besten Weg, auf einen psychedelischen Höhepunkt in ihrem Leben zuzusteuern, als Rocco sie unterbrach.
»Da ist er«, sagte er und sah hinüber zum Eingang.
»Wer?«
»Louis.« Rocco zeigte mit dem Finger auf einen drahtigen, schwarzhaarigen Mann mit Dreitagebart. Er stand beim Eingang, eine Zigarette zwischen den Lippen, und wechselte ein paar Worte mit der Bedienung. Die Haare sahen fettig aus, das konnte aber auch Gel sein. Eher ölig, dachte Anna.
Sie kannte Louis bisher nur aus Erzählungen. Eigentlich kam ihr der ganze Typ ölig vor, aber das lag vielleicht daran, dass Rocco ihr gesagt hatte, Louis’ Vater sei Portugiese. Seine Mutter kam aus der Schweiz. Was Anna wiederum dazu brachte, über ihre möglicherweise vorhandene, latente Ausländerfeindlichkeit nachzudenken. Sie kam zum Schluss, dass sie nicht vorhanden war und machte wieder die Pilzsporen für ihre Vermutung verantwortlich.
Rocco und Louis hatten es in der Schule nicht immer leicht gehabt. Vielleicht waren sie nur deshalb Freunde geworden. Rocco stellte sich diese Frage nie, für ihn war es eben so. Die Ursachen waren ihm egal, und letztlich spielte es auch wirklich keine Rolle.
Louis allerdings hatte sehr wohl darüber nachgedacht, vor allem, weil ihre Wege in so unterschiedlichen Bahnen verliefen, Rocco zur Polizei gegangen war, und die Freundschaft sich abkühlte. Insgeheim hegte er einen leisen Groll gegenüber Rocco, der ihm als der Glücklichere, im Leben Erfolgreichere erschien, weil er nicht in das Milieu abgerutscht war, in dem Louis sich bewegte. Aber das würde er nie zugeben.
Louis hatte sich als alles Mögliche durchgeschlagen, war vom Barkeeper zum Rausschmeißer avanciert, weil er trotz seiner geringen Körpergröße und schmalen Statur unglaublich zäh war. Er hatte Drogen verkauft, kleinere Einbrüche, Autodiebstähle begangen, und im Knast gesessen. Inzwischen bewegten sich seine Geschäfte im halblegalen Rahmen, was Rocco, der sich nie besonders um seinen alten Freund gekümmert hatte, die Möglichkeit bot, ihn ab und zu für Spitzeldienste zu nutzen, und ihn ansonsten in Ruhe zu lassen.
Louis hatte inzwischen den Weg zu ihrem Tisch gefunden und Rocco die Hand geschüttelt. Auch Anna gab ihm die Hand.
»Anna Behr«, sagte sie.
Louis zog seine dunklen, vollen Lippen auseinander, was wohl ein Lächeln sein sollte, und sah ihr tief in die Augen. »Louis«, sagte er, und berührte dabei mit der Zungenspitze leicht seine oberen, glänzend weißen Schneidezähne.
Anna entzog ihm ihre Hand mit sanfter Gewalt. »Ja …«, sagte sie, leicht verwirrt.
Louis schien das seinem unwiderstehlichen Charme zuzurechnen und setzte sich. »Rocco, du hast mir nie erzählt, dass deine Kollegin so entzückend ist. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich vielleicht auch zur Polizei gegangen, anstatt …«
»Ja, klar.« Rocco zog müde die Augenbrauen hoch. »Anna ist noch nicht so lange in Ludwigsburg.«
Ölig, dachte Anna wieder. Sie konnte nichts dagegen machen und stellte nebenbei fest, dass die Pilze schon zu einer stehenden Rechtfertigung gegenüber ihren eigenen Gedanken geworden waren.
Louis bestellte einen Espresso und sah der Bedienung nach, deren Beine vorn von einer Schürze verhüllt waren. Von hinten konnte man sehen, dass sie darunter nur einen kurzen Rock trug. Louis schnalzte mit der Zunge. »Und?«, fragte er leichthin, ohne den Blick von der Rückseite der Bedienung zu wenden, bis sie hinter der Theke verschwunden war. »Was gibt’s Neues in der Mordbranche?«
Oh, du meine Güte, dachte Anna und überlegte, ob sie besser für ein paar Minuten aufs Klo gehen sollte. Was sollte sie sonst tun? Sie hatte wirklich keinen blassen Schimmer, was sie sagen könnte, und dieser Typ erinnerte sie … an jemanden aus einer Fernsehserie vielleicht?
»Louis, jetzt lass es mal gut sein, ja?«, hörte sie Rocco sagen. Sollte das möglicherweise bedeuten, dass Louis auch anders sein konnte? Immerhin war er früher ein guter Freund von Rocco gewesen, und Anna konnte sich kaum vorstellen, dass er seine gesamte Jugend mit so einem Typen verbracht hatte.
Louis lachte. »Was soll das heißen?« Er schien genauso verwundert zu sein wie Anna. »Ich meine, die Spatzen pfeifen euren Fund im Märchengarten schon von den Dächern. Ihr könnt mir ruhig erzählen, was los ist.«
»So? Was erzählt man sich denn so?«
Louis lehnte sich entspannt zurück und nippte an dem Glas Wasser, das mit seinem Espresso serviert wurde. »Man erzählt sich zum Beispiel, dass ihr mal wieder im Dunkeln tappt.«
»Na, das ist ja eine Neuigkeit. Der Mord ist gestern passiert, und die Halbwelt dieser schönen Stadt erwartet einen Tag später die nahtlose Aufklärung?« Rocco sah Louis an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Ihr habt nur einen Handlanger in Verdacht, so einen Burschen, der seit Kurzem für den Chef der Betreiberfirma arbeitet, stimmt’s?«
Anna wusste nicht, ob Louis sich durch Roccos Bemerkung provoziert fühlte, oder ob er ihm gezielt eine Information gab, um zu zeigen, dass er über die Ermittlungen im Bild war. Auf jeden Fall wunderte sie sich, dass er überhaupt von dem Franzosen wusste, falls er überhaupt von ihm sprach.
»Wen meinst du?«, fragte er.
»Einen Kerl, den sie den Franzosen nennen. Stimmt’s nicht?« Louis grinste.
»Wir haben noch mehr, aber das werde ich dir nicht auf die Nase binden.« Rocco presste die Lippen zusammen und atmete tief ein. »Woher weißt du das von dem Franzosen?«
Louis lächelte, legte seinen Unterarm auf die Lehne des Stuhls neben Anna und ließ seinen Blick durch den Innenraum des Cafés schweifen. Nur langsam kam sein Blick zurück zu Rocco und er tat so, als hätte er gar nicht bemerkt, dass er auf eine Antwort wartete. In gespieltem Erstaunen sah er ihn an und schlenkerte mit dem Handgelenk. »Pffh«, machte er.
»Louis. Hier geht es um Mord, das ist dir schon klar, oder? Die Tote hatte nichts mit deinen … Geschäftspartnern zu tun. Sie wurde erschlagen, an den Zopf von Rapunzel gehängt und aus dem Fenster geworfen.«
»Etwas makabrer Humor«, sagte Louis.
»Kein Witz«, erwiderte Rocco ernst. »Und ich finde es auch nicht witzig.«
Louis sah Anna an. Seine Pupillen weiteten sich, er schien nachzudenken, mit den Gedanken abzuschweifen. Anna runzelte die Stirn und sah Rocco an. Plötzlich bemerkte sie, dass diese Pause wohl ihretwegen entstanden war, aber sie kam nicht gleich darauf, um was es ging. Sie hatte sich zu keinem Zeitpunkt eingemischt … dann fiel der Groschen. »Ich … ich gehe mal kurz.« Sie zeigte mit vager Handbewegung in Richtung der Toiletten. »Bin gleich wieder da.« Ob es so war oder nicht, Louis betrachtete sich als Informant und wollte Rocco zunächst unter vier Augen sprechen.
»Und?«, fragte Rocco, nachdem Anna auf der Toilette verschwunden war. Louis hatte Anna wie zuvor der Bedienung nachgesehen.
»Tolle Frau«, sagte er. »Und scheinbar nicht blöd. Warum glaubt sie an unser Rechtssystem?«
»Du glaubst doch auch daran, sonst wärst du nicht hier. Also, woher weißt du von dem Franzosen?«
Louis verzog den Mund, setzte sich auf und breitete die Handflächen aus. »Ich arbeite ab und zu für Lohhausen, den Chef der Betreiberfirma. Da hört man so dies und das.«
Rocco schüttelte ungläubig den Kopf. »Was machst du denn für den?«
»So dies und das … Leute vermitteln … Alles Mögliche.«
»Und wo ist der Franzose?«
»Das weiß ich nicht. Ehrlich.« Louis sah Rocco treuherzig an.
Rocco rührte in seinem Kaffee und sah nach draußen. Sein Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln. Da draußen kamen ganz langsam zwei Männer mit einem Fahrrad die Straße entlang. Etwas unsicher die gerade Linie betreffend, aber doch zielstrebig, steuerten sie einen Laternenpfahl gegenüber dem Café an. Sie zogen eine Art unbewusste Aufmerksamkeit der Gäste an den Tischen draußen auf sich.
»Er ist doch nicht wichtig für dich«, sagte Rocco, ohne Louis anzusehen. »Er ist ein kleiner Handlanger, nicht wahr? Hast du selbst gesagt. Also, was soll’s?«
»Er hat früher für Bekannte von mir gearbeitet, okay? Aber jetzt arbeitet er bei dieser …« Er schnippte mit dem Finger. Rocco wartete ungerührt. Er kannte diese Geste von Louis lange genug, um zu wissen, dass Louis der Name von Lohhausens Firma nicht entfallen war.
»Na?«, fragte er irgendwann, als Louis ihn mit leerem Blick ansah.
»Na ja, Fairy irgendwas«, sagte Louis.
»Fairy Tale GmbH.« Rocco schüttelte den Kopf. »Du musst mir nichts vormachen, Louis, das ist klar, oder? Sonst ändert sich unser Verhältnis schlagartig, und ich weiß nicht, ob du daran Spaß hast.«
»Schon klar«, sagte Louis. »Jetzt reg dich nicht gleich auf, Alter.« Er klopfte Rocco leicht auf die Schulter.
»Lass das.« Rocco warf wieder einen Blick nach draußen. Garcia und McCarthy hatten den Laternenpfahl erreicht und versuchten, ein Schloss am Hinterreifen ihres Fahrrads anzubringen. Die Leute draußen an den Tischen tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Garcia sagte etwas zu McCarthy. Der winkte ab, wischte sich mit einem Zipfel seines Hawaii-Hemds die Stirn und zeigte dabei seinen bleichen, beachtlichen Bauch. Schließlich gelang es ihm, das Schloss um den Pfahl und durch die Speichen des Hinterrads zu fädeln.
Anna wird sich freuen, dachte Rocco.
»Louis, wenn du weißt, wo sich der Franzose rumtreibt, dann gib mir Bescheid. Okay? Du hast meine Nummer.«
Louis tastete seine Taschen ab. »Ja, ich weiß nicht …«
»Lass den Quatsch. Du rufst mich an, ja?«
»Ich ruf dich an. Mann, mach nicht so ein Theater. Ich ruf dich ja an«, sagte Louis. Er warf Rocco einen beleidigten Blick zu. »Tolle Sache. Mein bester Kumpel … wir könnten eigentlich mal wieder einfach so ein Bier trinken gehen. Wie wäre denn das?«
»Bester Kumpel«, schnaubte Rocco. »Das ist schon lange her. Und vielleicht …«, aus den Augenwinkeln sah er Anna von der Toilette zurückkommen, »vielleicht können wir mal wieder ein Bier zusammen trinken. Wenn die Sache hier vorbei ist und ich mir im Klaren darüber bin, auf welcher Seite du gestanden hast.«
Anna erreichte den Tisch in dem Moment, als Garcia und McCarthy zur Tür hereinkamen und Louis aufstand, um sich zu verabschieden. Er stand direkt vor ihr und war nur knapp größer als sie. Er nahm ihre Hand und sie sah in zwei schwarze, schwimmende Augen.
»Ciao, bella«, sagte er, »ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.« Louis drehte sich zu Rocco um. »Allein ihretwegen geht das klar, oder?« Er hob den Daumen und Anna musste ihm ihre Hand wieder mit sanfter Gewalt entwinden.
»Bis dann … Louis.«
»Mein Gott«, stöhnte sie, als er gegangen war, und ließ sich auf den Stuhl fallen, und wiederholte lauter: »Mein Gott!« Sie hatte Garcia und McCarthy unentschlossen in der Tür stehen sehen. Louis schob die beiden energisch beiseite und ging hinaus. In diesem Augenblick entdeckte Garcia Rocco und Anna. Er sagte etwas zu McCarthy und wollte wieder nach draußen gehen. McCarthy blieb stehen. Seine Reaktionsfähigkeit schien stark eingeschränkt zu sein.
»Hey, ihr zwei«, rief Rocco, ohne aufzustehen. »Nicht so eilig. Kommt mal her.«
Die Ausbildung bei der Armee hatte tiefe Spuren in der Psyche der beiden Ex-GIs hinterlassen. Keine Droge der Welt konnte ihr Bewusstsein dermaßen erweitern, entstellen, geraderücken oder vernebeln – kurz gesagt, verändern –, dass sie nicht dem knappen Kommando eines hierarchisch über ihnen rangierenden und ihnen bekannten Offiziers, sprich offiziellen Vertreters des Gesetzes, Folge geleistet hätten. Garcia blieb abrupt stehen, machte kehrt und beide kamen, auf umständlichen Bahnen die im Weg stehenden Tische und Stühle umkurvend, auf Anna und Rocco zu.
»Leute«, sagte Rocco, als sie sich gesetzt hatten, »wir sind noch lange nicht fertig mit euch. Vor allem mit dir, Garcia.« Anna stellte verärgert fest, dass seine Stimme nach wie vor einen gütigen, sozusagen streng väterlichen Unterton hatte. So, als müsse er die beiden zwar zurechtweisen, allerdings auch beschützen, weil sie immer wieder Unfug anstellten.
»Noch lange nicht«, wiederholte sie deshalb und versuchte, ihrer Stimme etwas schneidend Metallisches zu geben. »Ihr könnt euch auf was gefasst machen. Die Herstellung und der Vertrieb von Rauschmitteln sind strengstens untersagt. Aber das dürfte euch ja geläufig sein.«
McCarthy sah Rocco an.
»Herstellung? Vertrieb?«
»Tja, Jungs«, sagte Rocco. »Wir haben euer Versteck entdeckt.«
»Wer sagt denn, dass es ein Versteck ist?«
»Von was redet er?«, fragte Garcia.
»Er redet von einem Versteck.«
»Ich sage, dass es ein Versteck ist«, sagte Rocco.
»Wir waren dort, im Keller«, ergänzte Anna. »Jede Menge … ihr wisst schon … Rauschgift.«
Die Kellnerin erschien und Garcia bestellte einen Kaffee. McCarthy winkte ab. Es war nicht festzustellen, ob es der Kellnerin oder dem Rauschgift galt.
»Rauschgift? Das ist ein großes Wort. Diese Pilze stellen unsere Nahrungsgrundlage dar.«
Rocco lachte. »Das glaube ich euch, aber das macht die Sache nicht besser. Mal zum Thema: Was ist das für Zeug?«
Garcia sah Rocco mit einem leeren Blick an, oder so, als fixiere er weit hinter Rocco einen Punkt oder eine Person, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. »Verschiedene Kombinationen von Eukaryoten auf Basis unterschiedlicher Nährböden, angereichert mit Tetrahydrocannabinol in diversen Formen und Derivaten davon. Dabei will ich von Anfang an klarstellen, dass unsere Versuche rein medizinischen oder ernährungswissenschaftlichen Zwecken dienen.«
»Was?« Rocco tippte Garcia leicht an die Schulter, um seinen Blick auf sich oder zumindest etwas Naheliegendes zu fokussieren. Dann sah er McCarthy an, der bestätigend nickte.
Die Bedienung brachte den Kaffee. Der Duft schien Garcia mental schneller an den Tisch zurückzubringen als Roccos Antipperei. Er nahm einen Schluck.
»In Amerika ist der Kaffee nicht so stark«, sagte er zweideutig.
»Das sagst du immer«, meckerte McCarthy. »Aber ist das besser oder schlechter?«
»Das sollte in unserem Dasein keine Kategorie darstellen«, erwiderte Garcia und pustete in den heißen Kaffee, den er mit zitternden Händen hielt, als sei es Winter und er müsse sich an der Tasse wärmen. Als er sie zurückstellte, schwappte etwas Flüssigkeit auf den Unterteller.
»Mir reicht es«, sagte Anna. »Entweder, ihr redet jetzt Klartext, oder ihr wandert beide in eine Zelle und vegetiert dort so lange vor euch hin, bis ihr Lamellen ansetzt.«
McCarthy starrte eine Weile auf die Kaffeepfütze auf Garcias Unterteller.
»Pilze.« Er sagte es düster, als würde er beginnen, den Weltuntergang zu prophezeien. »Verschiedene Arten von Pilzen, manche mit psychotropen Wirkstoffen, andere biolumeniszierend oder einfach Speisepilze, die auf Kombinationen von Nährboden und Marihuana oder medizinischen Derivaten wachsen …«
»Saftling … Hygrocybe cantharellus«, platzte Garcia heraus, »gereift auf Moorboden mit Gras und echtem Marihuana, plus eine minimale Dosis Omphalotus illudens für den Mond … jede Tages- und Nachtzeit hat ihren Pilz, meine Lieben.« Er sah Anna an und seine Pupillen waren wie schwarze Löcher, die alle Energie aufsaugten und nutzlos verpuffen ließen. Als ob Zeit und Galaxien nie existiert hätten.
»Leute, was ihr uns hier erzählt, ist schlicht und ergreifend … erschreckend.« Rocco fiel nichts Passenderes ein. Sein Blick wanderte von McCarthy zu Garcia und zurück. Er schüttelte langsam den Kopf. »Was soll ich mit euch machen?«
»Alte Quatschtasche«, stieß McCarthy gepresst hervor und warf Garcia einen giftigen Blick zu. Garcia ließ seine schwarzen Löcher kurz auf McCarthy ruhen, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Vielleicht sind die Pupillen einfach implodiert, dachte Anna.
»Er meint Quarktasche«, erläuterte Garcia.
»Wenn ich Quarktasche meine, sage ich auch Quarktasche«, sagte McCarthy langsam und nicht ohne Gereiztheit in der Stimme. Rocco konnte ihn sich einen Augenblick lang gut als feisten, durchgedrehten GI vorstellen, der mit seinem weißen Knüppel auf einen ausgebüxten Soldaten eindrischt. Text zur Zeitlupe: »Wenn ich stehen bleiben sage, meine ich auch stehen bleiben.« Ende der Vision. Anna würde die Schuld den eingeatmeten Sporen geben, und nach allem, was sie gehört hatten, war das ja durchaus möglich.
»Hey«, sagte Rocco. »Ihr steht so kurz vor einer Verhaftung, klar?« Er deutete mit seinem Daumen und dem Zeigefinger an, wie weit die beiden vor eben jener Verhaftung standen.
»Okay, okay«, beschwichtigte McCarthy, der urplötzlich von einem sintflutartigen Schweißausbruch heimgesucht wurde und aus dem Serviettenspender Unmengen weißer Papiertücher zog, um sich Stirn, Gesicht und Hände zu trocknen. Rocco konnte sich nicht vorstellen, dass der Anfall von seiner Drohung herrührte. Aber im Zusammenhang mit psychedelischen Drogen war sicher vieles möglich.
»Unsere Versuchsanordnungen sind rein wissenschaftlicher und experimenteller Natur. Wir haben keinen finanziellen Vorteil davon …« McCarthy sah Rocco und Anna von unten her an. Es sollte vertrauensbildend wirken, aber die Sturzbäche aus Schweiß machten den ohnehin kaum vorhandenen Effekt zunichte. Er pappte sich neue Servietten aufs Gesicht.
»Okay, okay«, sagte auch Garcia. »Keine Angst. Wir wollen euch nur helfen. Ihr wisst schon, Rotkäppchen … die Fliegenpilze … in Zusammenhang mit dem Mord der reine Horrortrip …«
Keiner wusste genau, was er sagen wollte.
»Rapunzel«, warf Anna vorsichtig ein. »Es handelt sich um Rapunzel.«
Garcia winkte ab. »Okay, okay«, sagte er wieder. »Wir wollen euch nur helfen. Wir haben eine Kugel, mit der wir die ganze Stadt überwachen. Wie Batman …«
»Batman hat keine Kugel, mit der er die Stadt überwacht.« Roccos Einwand kam wie aus der Pistole geschossen und outete ihn als Kenner von Marvel-Comics. Er fürchtete im selben Augenblick, als er das aussprach, dass Anna das gar nicht toll finden würde. Ach was, fürchtete … Er wusste es.
»Wie soll er denn sonst wissen, wo in der Stadt Verbrechen geschehen?«, fragte Garcia.
»Er hört den Polizeifunk ab.«
»Ja, klar.« Jetzt tippte sich Garcia an die Stirn.
»Mit dieser Kugel können wir alles sehen. Alles.« McCarthy starrte Anna eindringlich an.
Sie starrte zurück. »Idiot«, sagte sie schließlich und fragte sich, ob ab jetzt eigentlich jeder Tag in einer Art subtilem Wahnsinn enden sollte.