II Über das Fleischessen. Teil 1

1. Du fragst mich, aus welchem Grund Pythagoras kein Fleisch gegessen hat. Ich möchte viel eher wissen, in welchem Zustand, in welcher seelischen oder geistigen Verfassung der Mensch war, der als erster Blut mit dem Mund berührte, das Fleisch eines toten Tieres an seine Lippen brachte, tote und halbverweste Körper auf dem Tisch haben wollte und das Zukost und Leckerbissen nannte, was kurz zuvor noch gebrüllt und geschrien, sich bewegt und um sich geschaut hatte. Wie konnte das Auge das Schlachten, Abziehen der Haut und Zerstückeln der Glieder mitansehen, wie konnte der Geruchssinn Blutgeruch ertragen, wie konnte der Gaumen nicht zurückschrecken vor diesem eklen Gemenge, wenn er in Berührung kam mit rohen Stücken aus dem Fleisch anderer und blutigen Saft aus tödlichen Wunden sog. Es heißt [von den geschlachteten Rindern des Sonnengottes]:

Ringsum krochen die Häute, es brüllte das Fleisch an den Spießen,

rohes zugleich und gebratnes, und laut wie Rindergebrüll scholl’s.

[Homer, Odyssee 12,395 f. Übers. von J. H. Voß]

Das ist zwar Dichtung und Mythos, aber diese Art von Mahlzeit ist grauenhafte Wirklichkeit, wo man Hunger hat nach Tieren, die noch brüllen, wo man lehrt, Geschöpfe, die noch leben und ihre Stimme erheben, zu verzehren, und Anweisungen gibt, sie in Portionen zu schneiden, zu braten und zu servieren. Denjenigen also muss man suchen, der als erster damit angefangen hat – nicht den, der es spät genug aufgegeben hat.

2. Oder würden jene Menschen, die zuerst daran gegangen sind, Fleisch zu essen, vielleicht als Entschuldigung und Grund dafür anführen, es sei aus blanker Not und Mangel geschehen? Sie lebten ja weder im Bann unerlaubter Begierden noch im Überfluss an allem Notwendigen, so dass sie aus Übersättigung und Übermut auf unnatürliche und fremdartige Genüsse verfallen wären und dann diese Praktiken angewandt hätten. Sie könnten, wenn sie in der Gegenwart Bewusstsein und Sprache bekämen, zu uns folgendes sagen: »O ihr Seligen, ihr Lieblinge der Götter, die ihr jetzt lebt, in welchem glücklichen Zeitalter seid ihr geboren, wo ihr einen unerschöpflichen Vorrat an Gütern ernten und genießen könnt! Wieviel Pflanzen wachsen für euch, wieviel könnt ihr abernten, welchen Reichtum habt ihr von den Feldern und Fluren, und welch süße Früchte könnt ihr von den Bäumen pflücken. Ihr könnt im Überfluss schwelgen, ohne euch mit Blut zu besudeln. Wir aber begannen unser Leben in einem Zeitalter voller Schrecken und Düsternis, und von unserem ersten Eintritt in die Welt an gab es für uns nur Mangel und Not. Noch waren Himmel und Erde verhüllt von einer Luft, die trübe und undurchdringlich ein Gemisch aus Dunst und Feuer bildete, mit heftigen Winden. Noch hatte die Sonne nicht ihren bestimmten Ort und ihren festen, unveränderlichen Lauf inne, und noch nicht

Schied sie Morgen und Abend und führte ihre Bahn im Kreis wieder zurück und krönte sich mit den fruchtbringenden, schönbekränzten Horen [den Jahreszeiten] – vielmehr litt die Erde unter der Gewalt

[Empedokles frg. 154 D]

der ungeregelt dahinströmenden Flüsse, und weite Landstriche lagen unbegehbar durch Sümpfe. Die Erde war eine Wildnis mit tiefem Schlamm und unfruchtbarem Gestrüpp und Dickicht. Es gab kein Mittel zum Anbau von Feldfrucht, kein Werkzeug zur Kultivierung des Landes, keine kunstreiche Erfindung. Der Hunger ließ uns keine Zeit, und keine Saat, wenn sie auch da war, erreichte den Zeitpunkt ihrer Reife. Kein Wunder also, wenn wir, entgegen der Natur, uns am Fleisch der Tiere vergriffen, da man ja sogar Schlamm schluckte und die Rinde von Bäumen abnagte, und wo man glücklich war, frisches Grünzeug zu finden oder eine saftige Wurzel. Für den Genuss einer Eichel oder Buchecker tanzte man vor Freude, eine Eiche oder Buche nannte man Frucht- und Lebensspender, Vater und Mutter und Erhalter. Dies war das einzige Fest, das man zu jenen Zeiten kannte, sonst gab es nur Missbehagen und Düsternis.86 Ihr aber, die ihr jetzt lebt, welcher Wahnsinn, welche Raserei treibt euch dazu, euch mit Mord zu beflecken – euch steht doch alles Nötige im Überfluss zur Verfügung! Was verleumdet ihr die Erde, als ob sie euch nicht ernähren könnte! Was versündigt ihr euch an der Gesetzgeberin Demeter und schmäht Dionysos,87 den freundlichen, milden, als ob ihr nicht genug Gaben von ihnen empfangen würdet? Scheut ihr euch nicht, die schönen Früchte mit Mordblut zu besudeln? Schlangen, Panther und Löwen nennt ihr grausam und wild, ihr aber befleckt euch selbst mit Blut und gebt ihnen an Grausamkeit nichts nach. Für sie ist das Töten ja Nahrung, für euch aber ein Appetithappen88

3. Dabei verzehren wir ja gar nicht Löwen und Wölfe, um uns vor ihnen zu schützen – nein, die lassen wir in Ruhe: die unschädlichen und zahmen, die weder Stacheln noch Zähne haben, um uns zu verletzen, die greifen wir uns und töten sie – Tiere, Gott sei’s geklagt, die von der Natur doch wohl nur ihrer Schönheit und Anmut wegen hervorgebracht worden sind. […]

4. Aber nichts kann uns rühren, nicht die blühende Farbe, nicht die einschmeichelnde melodische Stimme, nicht die Reinlichkeit ihrer Lebensweise, nicht die außerordentliche Klugheit der armen Geschöpfe. Nein, für ein kleines Stückchen Fleisch rauben wir ihnen Sonne und Licht, die Lebenszeit, für die sie doch geboren und geschaffen sind. Und wenn wir ihr Schreien oder Quieken nur für irgendwelche Laute halten, die sie von sich geben – sollten wir nicht eher meinen, dass es flehentliche Bitten sind, Appelle an unser Gerechtigkeitsgefühl, indem jedes von ihnen sagt: »Ich bitte nicht um Schonung, wenn du in Not bist – nur wenn es um bloßen Genuss geht. Töte mich, damit du etwas zu essen hast, aber morde mich nicht, nur um luxuriöser zu essen.« Was ist das für eine Grausamkeit! Es ist einfach empörend, die Tafel reicher Leute zu sehen – mit Leichenteilen, angerichtet von Fleischern und Köchen. Aber noch empörender ist es zu sehen, wie alles wieder abgetragen wird. Es bleibt nämlich mehr übrig als gegessen wurde. So viele Tiere sind umsonst getötet worden. Andere aber schonen das aufgetragene Fleisch und lassen es nicht aufschneiden oder zerstückeln.89 Das Fleisch der Toten lehnen sie ab, die Lebenden haben sie nicht geschont.

5. Einfach absurd ist es, sagen wir, wenn diese Leute sich auf die Natur selbst als Ursprung berufen. Im Gegenteil – das Fleischessen ist für den Menschen durchaus nichts Naturgegebenes, das geht schon einmal aus seinem Organismus hervor. Der menschliche Körper hat keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeinem der fleischfressenden Tiere; er hat keinen gekrümmten Schnabel, keine scharfen Krallen, keine Reißzähne, keinen robusten Magen und nicht die innere Wärme, um die schweren Fleischbrocken zu verdauen und in nützliche Stoffe umwandeln zu können. Ganz im Gegenteil hat die Natur durch unsere ebenmäßigen, glatten Zähne, unseren kleinen Mund, die weiche Zunge und die schwachen Verdauungssäfte uns geradezu vom Fleischessen ausgeschlossen. Bestehst du dennoch darauf, dass du zu dieser Ernährungsweise geschaffen bist, dann töte zuerst selbst das, was du essen willst, aber mit deinen angeborenen Waffen, nicht mit dem Schlachtmesser, nicht mit Keule oder Beil. Nein – wie Wölfe, Bären und Löwen selbst töten, was sie verzehren, so töte einen Stier mit einem Biss, reiße ein Schwein, ein Lamm oder einen Hasen mit dem Rachen, falle über sie her und verschlinge deine Beute noch halblebend, wie die Raubtiere es tun. Willst du aber lieber warten, bis dein Essen ganz tot ist, und hast Hemmungen, das Fleisch zu genießen, solange noch die Seele darin sein könnte – warum isst du dann überhaupt der Natur zuwider ein beseeltes Lebewesen? Auch das Entseelte und Tote isst ja niemand so, wie es ist, sondern man siedet es, brät und verwandelt es durch Feuer und Gewürze und sucht mit tausenderlei Aromamitteln den Mordgeruch zu vertreiben und auszulöschen, damit der Gaumen getäuscht wird und die naturwidrige Speise bereitwillig annimmt. Es war durchaus eine treffende Äußerung eines Spartaners, der in einer Gastwirtschaft einen kleinen Fisch gekauft hatte und ihn dem Wirt zur Zubereitung übergab. Als dieser Käse, Essig und Öl dazu verlangte, sagte er: »Ja, wenn ich das hätte, brauchte ich keinen Fisch zu kaufen.« Wir aber sind so raffiniert in unserer Mordlust, dass wir das Fleisch Zukost nennen und zum Fleisch wieder Zukost nötig haben: Wir mischen Öl, Wein, Honig, Fischsoße90, Essig mit syrischen und arabischen Kräutern und würzen das Fleisch damit, als wenn wir tatsächlich einen Leichnam einbalsamierten. Aber auch so: aufgelöst, erweicht, sozusagen eingelegt und mariniert, ist die Verdauung noch ein schweres Stück Arbeit, und selbst wenn das geschafft ist, macht es noch arge Beschwerden und führt zu krankhaften Verdauungsstörungen.

6. Diogenes wagte es, einen Polypen roh zu verschlucken, um die Zubereitung von Fleisch, auf dem Feuer gekocht, zu verwerfen. Viele Menschen standen um ihn herum, da hüllte er sich in seinen Mantel, hielt das Stück Fleisch vor seinen Mund und rief aus: »Für euch riskiere ich das und setze mich der Gefahr aus!« Eine rühmliche Gefahr, bei Gott – nicht wie Pelopidas91 für die Freiheit Thebens, oder Athens wie Harmodios und Aristogeiton92, wagte der Philosoph93 sein Leben: Er kämpfte mit einem rohen Polypen, um das menschliche Leben [ohne das Feuer] wieder in die tierische Wildheit zu versetzen. Doch ist das Fleischessen nicht nur für den Körper wider die Natur, es macht auch Seele und Geist durch Übersättigung und Überladung dumm und stumpfsinnig. »Wein und Fleischgenuss machen zwar den Körper stark und kräftig, den Geist aber schwach« [, sagen die Ärzte]. Und um mich nicht mit den Athleten [mit ihrer Fleischdiät] zu verfeinden, will ich meine eigenen Landsleute als Exempel anführen. Die Athener nennen uns Böotier Dickbäuche, Dummköpfe und Einfaltspinsel, eben weil wir uns so vollstopfen. »Das sind die Schweine von Böotien«, heißt es, und bei Menander94: »die mit den großen Kinnbacken«, und bei Pindar: »anhand meines Liedes sollen sie erkennen, ob wir dem alten Schimpfwort von der böotischen Sau entgehen.« [Olympien 6,89 f.]95 Eine trockene Seele ist am weisesten, sagt Heraklit. Leere Fässer geben einen Ton von sich, wenn man daran schlägt; sind sie aber voll, geben sie keine Resonanz. Mehrere dünne Kupfergefäße verbreiten den Klang von einem zum andern im Kreis, bis man die Schwingung durch Auflegen der Hand dämpft und unterbricht. Ein Auge mit zu viel Tränenfluss sieht unscharf und verliert seine Spannkraft zum richtigen Sehen. Schauen wir auf die Sonne durch feuchte, mit Nebeldünsten erfüllte Luft, dann erblicken wir sie nicht im reinen Glanz, sondern düster und verhangen, mit erlöschenden Strahlen. So ist es auch mit der Seele: Sie muss durch einen aufgeblähten, übersättigten und mit nicht naturgemäßer Nahrung beschwerten Körper notwendigerweise in ihrer Strahlkraft getrübt und abgestumpft werden und die Orientierung verlieren für die feinen und schwer erkennbaren Begriffe und Grundwerte des Lebens.

7. Doch auch davon abgesehen: Scheint dir nicht die hiermit verbundene Gewöhnung an Menschlichkeit eine wunderbare Sache? Denn wer wird einen Menschen schlecht behandeln, wenn er sich gegen fremde und andersartige Geschöpfe mild und freundlich verhält? Ich erinnerte vorgestern in meinem Vortrag an die Äußerung des Xenokrates96, dass die Athener einem Mann eine Strafe auferlegten, weil er einem Widder bei lebendigem Leib die Haut abgezogen hat. Nun ist in meinen Augen einer, der ein lebendiges Geschöpf martert, ebenso strafwürdig wie einer, der ihm das Leben ganz nimmt und es hinmordet. Aber wir achten offenbar mehr auf das, was wider die Gewohnheit, als auf das, was wider die Natur geschieht. Ich habe mich bisher nur im allgemeinen Erfahrungsbereich bewegt und trage noch Bedenken, den erhabenen, geheimnisvollen und, wie Platon sagt, »für gewöhnliche, nur auf das Vergängliche ausgerichtete Menschen« [Phaidros 245c] unbegreiflichen Ursprung des [pythagoreischen] Grundsatzes hier in meinen Vortrag einzubeziehen – so wie der Steuermann zögert, mitten im Sturm den Kurs zu ändern, oder der Dichter auf der Bühne, die Theatermaschinerie in Bewegung zu setzen und den Gott erscheinen zu lassen. Es ist vielleicht nicht unpassend, wenn ich die Verse des Empedokles als Überleitung gebrauche:97

[Jene Menschen des Goldenen Zeitalters verehrten fromm die Götter] mit gemalten Tieren und köstlich duftenden Salben, mit Opferspenden von lauterer Myrrhe und duftendem Weihrauch und Weihgüsse rotblonden Honigs auf den Boden schüttend. Doch mit frischem Stierblut ward kein Altar benetzt, sondern dies war unter den Menschen größte Befleckung, Leben zu entreißen und edle Glieder in sich hineinzuschlingen.

Wollt ihr nicht aufhören mit dem misstönenden Morden? Seht ihr denn nicht, wie ihr einander zerfleischt in Unbedachtheit des Sinnes?

Es ist ein Götterbeschluss, alt, urewig: wer in Schuldverstrickung mit Mordblut seine eigenen Glieder befleckte […, der muss] fernab von den Seligen umherschweifen, wobei [er] im Laufe der Zeit als alle möglichen Gestalten sterblicher Geschöpfe entsteht, die des Lebens mühselige Pfade wechseln.

Empedokles deutet darin allegorisch an, dass die Seelen zur Strafe in sterbliche Körper eingekerkert seien, weil sie gemordet, Fleisch gegessen und so einander selbst verzehrt hätten. Diese Lehre scheint übrigens älter als Empedokles zu sein. Denn die Mythen von den Leiden und der Zerstückelung des Dionysos98 und den Freveln der Titanen, die sie an ihm verübten, und ihre Bestrafung und Zerschmetterung durch einen Blitzstrahl des Zeus, nachdem sie von dem Fleisch des Gemordeten gegessen hatten – das alles ist eine verrätselte mythische Hindeutung auf die Wiedergeburt. Was in uns unvernünftig, widerspenstig und gewalttätig ist, was nicht von den Göttern, sondern von den Dämonen stammt, das nannten die Alten titanisch. Und die Titanen, das sind diejenigen, die bestraft werden und ihre Strafe abbüßen müssen.99