Über das Fleischessen. Teil 2

1. Unsere Untersuchung erfordert es, dass wir zu der gestrigen Diskussion über das Fleischessen zurückkehren und mit frischem Mut und Überlegung darangehen. Freilich ist es schwer, wie Cato sagte [Plutarch, Cato maior 8,1], zu Bäuchen zu reden, die keine Ohren haben. Der Becher der Gewohnheit ist ausgetrunken, der, wie jener der Kirke,

»Wehen und Schmerzen brauend und Täuschungen und Klagen«

[Empedokles 154b D].

Und es ist nicht leicht, den Angelhaken vom Fleischessen, der sich tief in die Genusssucht eingehakt und eingebettet hat, wieder loszuwerden. Es wäre gut, wenn wir es machen könnten wie die Ägypter: Es heißt [Herodot 2,86], sie entnehmen den Leichnamen die Eingeweide, zerschneiden sie im Licht der Sonne und werfen sie von sich, als seien sie die Ursache aller Vergehen des Menschen. So wäre es gut für uns, wenn wir uns unsere Gefräßigkeit und Genusssucht und die Lust am Töten einfach herausschneiden könnten und uns rein halten für unser künftiges Leben. Es ist ja gar nicht der Bauch, der uns zum Blutdurst treibt, er wird vielmehr selbst davon besudelt durch unsere Unmäßigkeit. Doch wenn es nun einmal, Gott sei’s geklagt, durch die stete Gewöhnung unmöglich geworden ist, von diesem Laster frei zu werden, dann sollten wir uns wenigstens über unser Fehlverhalten schämen und es auf ein sozusagen vernünftiges Maß beschränken. Das heißt, Fleisch essen nur aus Hunger, nicht als Schlemmerei. Wir wollen Tiere töten, aber mit Mitleid und Bedauern, nicht unter Misshandlungen und Martern, wie es jetzt vielfach geschieht. Da stoßen sie den Schweinen glühende Bratspieße in die Kehle, damit durch das Eintauchen des Eisens in das Blut, das dann im Körper zirkuliert, das Fleisch mürbe und zarter wird. Andere springen auf das Euter von Schweinen, die vor der Geburt sind und treten sie, damit sich Blut und Milch mit den zerquetschten Jungen vermischen, die im gleichen Moment geboren und vernichtet werden – welch ein Greuel, beim Zeus dem Reiniger! –, und sie verzehren dann die aufs höchste erhitzten Teile des Tieres. Wieder andere nähen Kranichen oder Schwänen [oder Gänsen] die Augen zu und mästen sie in dunklen Käfigen, um ihr Fleisch dann durch exotische Beimischungen und Gewürze zu einer Delikatesse zu machen.

2. Das alles ist doch der unwiderlegbare Beweis, dass man nicht zur Ernährung, aus Mangel oder Not, sondern aus Schlemmerei, Genusssucht und Lust am Extravaganten aus diesem widernatürlichen Vorgehen ein gängiges Vergnügen gemacht hat. Es ist wie bei der Sexbesessenheit, die mit Frauen kein Genüge findet, alles mögliche durchprobiert und sinnlos umherschweifend auf abartige Praktiken verfällt, bis zu solchen Schändlichkeiten, über die man besser nicht spricht. So geht es auch mit der Unmäßigkeit im Essen. Sie hat das natürliche und notwendige Maß überschritten und sucht in grausamen und widernatürlichen Exzessen einen Gaumenkitzel zu erreichen. Die Sinnesorgane stecken sich nämlich gegenseitig an, und wenn eines das Maß des Naturgemäßen überschreitet, dann machen die anderen dieses Laster mit. So hat nun ein krankhaftes Gehör den musikalischen Geschmack verdorben, und das dadurch verweichlichte und erschlaffte Gefühl verlangt nach unsittlichen Berührungen und raffiniertem Kitzel. Davon hat wiederum das Auge gelernt, nicht mehr an kriegerischen Tänzen Gefallen zu finden oder an Pantomimen, an kunstmäßigem Ballett oder an Statuen und Gemälden – nein, das Hinschlachten und der Tod von Menschen, ihre Wunden und mörderischen Kämpfe – das gilt jetzt als das Hauptspektakel.100 So folgen auf frevelhafte Mähler sittenloser Verkehr, auf schamlose Gesänge und Darbietungen barbarische Schauspiele, und auf Grausamkeiten, die man zu sehen bekommt, folgt schließlich eine Haltung der Gefühllosigkeit und Grausamkeit gegen Menschen. Aus diesem Grund hat der göttliche Lykurg101 in seinen drei ungeschriebenen Gesetzen vorgeschrieben, dass die Türen und die Decken der Häuser mit Säge und Axt gemacht und kein anderes Werkzeug dazu benutzt werden sollte – nicht, als ob er den feineren Werkzeugen den Krieg angekündigt hätte, sondern weil er wusste, dass man durch solche roh behauenen Türen kein mit Gold bedecktes Ruhebett hereintragen würde oder dass keiner so unbesonnen sein würde, in ein solch schlichtes Haus Tische mit silbernen Verzierungen, echte Purpurteppiche und kostbare, mit edlen Steinen besetzte Becher hineinzubringen. Es würde vielmehr zu diesem Haus mit einem entsprechenden Bett, Tisch und Becher auch eine einfache Mahlzeit und ein bürgerliches Frühstück gehören. Und er wusste auch, dass einer anfänglichen extravaganten Lebensweise,

so wie das noch nicht entwöhnte Fohlen seiner Mutter nachläuft102,

Luxus und kostspieliger Aufwand aller Art auf dem Fuße folgen.

3. Welche Art von Gastmahl ist nun aber nicht kostspielig, für das ein beseeltes Wesen sein Leben lassen muss? Halten wir eine Seele für einen geringen Aufwand? Ich will nicht so weit gehen zu sagen, es ist vielleicht die Seele einer Mutter, eines Vaters, eines Freundes oder eines Kindes, wie Empedokles sagt, aber doch eine Seele mit Empfindung, Gesicht, Gehör, Vorstellungskraft und Einsicht, wie es das jedes Geschöpf von der Natur erhalten hat, damit es das Nützliche für sich nehmen und das Schädliche vermeiden kann. Nun überlege, welche Philosophen uns menschlicher machen: diejenigen, die uns lehren, unsere Kinder, Freunde, Eltern und Gattinnen als Tote zu verspeisen – oder Pythagoras und Empedokles, die uns daran gewöhnen wollen, auch gegen andere Gattungen von lebenden Wesen gerecht zu sein. Du lachst über einen, der nicht vom Schaf [Schwein?] essen will. Wir aber, werden jene sagen, sollen doch nicht lachen, wenn wir zusehen, wie einer von seinem verstorbenen Vater oder seiner Mutter Stücke abschneidet und sie seinen abwesenden Freunden zusendet, den Anwesenden aber zuspricht und ihnen reichliche Portionen davon auftischt. Vielleicht versündigen wir uns heutzutage ja schon, wenn wir zu den Büchern dieser Philosophen greifen, ohne vorher unsere Hände, Augen, Füße und Ohren gereinigt zu haben – wenn es nicht bei Gott schon eine Reinigung all dieser Glieder ist, wenn wir über dieses Thema sprechen. Dabei wollen wir, wie Platon sagt [Phaidros 243d], mit einer trinkbaren Rede gleichsam den Salzgeschmack des zuvor Gehörten hinunterspülen. Wenn man die Schriften und Lehren der beiden philosophischen Richtungen miteinander vergleicht, so ist das eine die Philosophie für Skythen, Sogdianer und Schwarzmäntel, Völker, von denen Herodot Dinge erzählt, die niemand glaubt.103 Die Grundsätze des Pythagoras und Empedokles dagegen entsprachen den Gesetzen und den Sitten der Hellenen aus früherer Zeit, die Weizenbrot als Grundlage ihrer Mahlzeit hatten.104

4. Wer sind nun diejenigen, die später die jetzige Lebensart eingeführt haben? Die sind es,

Welche zuerst aus Eisen das mordende Messer geschmiedet,

Männern zur Wehr, und zuerst vom pflügenden Stier gekostet.

[Arat, Phainomena 131 f.]105

So machten auch die Tyrannen erst nur einen Anfang mit ihrer Mordlust, so wie in Athen die [Dreißig Tyrannen]106 zuerst den allerschlimmsten der Denunzianten hinrichten ließen, dann kam ein zweiter dran und ein dritter. Von da an waren die Athener ans Blutvergießen so gewöhnt, dass sie auch bei der Hinrichtung des Nikeratos, des Sohnes des Nikias, des Feldherrn Theramenes und des Philosophen Polemarchos ruhig zusahen. So ging es auch bei den Tieren: Zuerst verzehrte man ein wildes und schädliches Tier, dann fing man sich einen Vogel oder Fisch. Und als so die Mordlust Blut geleckt hatte und das Schlachten und Essen der wilden Tiere eine gewohnte Sache war, ging man dem Arbeitstier, dem Rind, zu Leibe, dem sanften Schaf und dem Hahn, dem Hauswächter. Und indem man die Unersättlichkeit allmählich auf die Spitze trieb, ging man schließlich dazu über, Menschen zu schlachten und sie im Krieg hinzumorden. Man kann zwar nicht beweisen, dass die Seelen im Lauf ihrer Wiedergeburt Körper aller Art annehmen, so dass ein Lebewesen, das jetzt Vernunft besitzt, das nächste Mal ein Wesen ohne Vernunft ist107 und umgekehrt ein jetzt wildes Geschöpf ein zahmes wird, und dass die Natur alles verändert und verpflanzt,

die Seelen mit fremdartiger Fleischeshülle umkleidet.

[Empedokles 126D]

Doch sollte uns, müssen wir fragen, nicht schon die Tatsache vom Fleischessen abhalten, dass es unmäßig und unkultiviert ist, dem Körper Krankheiten und Beschwerden verursacht und die Seele, die zu immer noch roherem Handeln verleitet wird, gänzlich pervertiert – wenn wir uns einmal daran gewöhnt haben, ohne Blut und Mord keinen Gastfreund zu bewirten, keine Hochzeit zu feiern, keine Freunde einzuladen.

5. Mag auch das Argument für die Wanderung der Seelen in immer andere Körper nicht im letzten überzeugend sein, so bleibt doch eine Ungewissheit, die uns zu großer Vorsicht und Bedenken mahnt. Stellt euch folgendes vor: Jemand zieht in einem nächtlichen Kampf das Schwert gegen einen am Boden liegenden, von seinen Waffen bedeckten Mann und hört einen anderen sagen: »Ich weiß es zwar nicht ganz sicher, glaube und vermute aber, der da liegt, das ist der Sohn dessen, der ihn angreift, oder Bruder, Vater oder ein Kriegskamerad.« Was wäre da das Bessere: einer falschen Vermutung nachzugeben und den Feind als Freund am Leben zu lassen oder die unsichere Warnung zu missachten und den Freund wie einen Feind niederzustoßen?108 Gewiss haltet ihr das letztere für schrecklich. Stellt euch auch noch Merope vor, wie sie in der Tragödie das Beil erhebt gegen ihren eigenen Sohn, den sie für den Mörder ebendieses Sohnes hält, und ausruft:

»Verdientermaßen gebe ich dir hier den Todesstreich!«109

Welche Erschütterung bringt sie da unter den Zuschauern hervor, weckt Furcht und Entsetzen. Dass sie dem Greis, der ihr in den Arm fällt, zuvorkommen und den jungen Mann tödlich treffen könnte! Man stelle sich nun vor, es stünde ein anderer alter Mann daneben und riefe: »Schlag zu, es ist ein Feind!« Der andere dagegen: »Schlag nicht zu, es ist dein Sohn!« Welches wäre das schlimmere Vergehen: aus Rücksicht auf den Sohn die Bestrafung eines Feindes zu unterlassen oder aus Erbitterung gegen einen Feind sich eines Kindsmordes schuldig zu machen? Sooft es also nicht Hass oder Erbitterung ist, oder Selbstverteidigung oder Furcht um das eigene Leben, was uns zum Töten treibt, sondern wenn zum Zweck eines Genusses das Schlachtopfer mit zurückgebogenem Hals dasteht und der eine der Philosophen ruft: »Stoß zu, es ist nur ein vernunftloses Tier!« Der andere aber: »Halt ein, was, wenn die Seele eines Verwandten oder eines Freundes in diesem Körper wohnte?« Ist es da, ihr guten Götter, das gleiche Risiko, wenn ich dem ersteren misstraue und kein Fleisch zu essen bekomme oder wenn ich dem letzteren nicht glaube und ein Kind oder einen anderen Verwandten morde?

6. Nicht eindeutig ist die Position der Stoiker in dieser Diskussion über das Fleischessen. Wozu denn [bei ihnen] dieser Feldzug gegen den Bauch und die Küchen?110 Sie verdammen doch die Lust als weichlich und halten sie weder für ein echtes Gut noch für ein sogenanntes vorzuziehendes Gut111 oder ein naturgemäßes. Und sie ereifern sich gegen die Lüste. Da wäre es doch nur folgerichtig, wenn sie schon Parfüm und Backwerk von ihren Gastmählern ausschließen, dass sie Blut und Fleisch noch weitaus mehr verabscheuen. Jetzt tun sie aber so, als ob sie mit dem Haushaltsbuch in der Hand philosophierten, und schränken die Ausgaben für die Tafel in ganz simplen und überflüssigen Dingen ein; gegen den unmenschlichen und blutigen Anteil des Aufwandes aber haben sie nichts einzuwenden. »Ja«, sagen sie, »denn mit unvernünftigen Tieren haben wir keine Rechtsgemeinschaft.« Wir haben auch, könnte man einwenden, nichts zu tun mit Parfüm oder fremdländischen Gewürzen. So enthaltet ihr euch doch auch vom Fleisch von Lebewesen, wenn ihr schon sämtliche nicht notwendigen und entbehrlichen Genussmittel allenthalben aus dem Leben verbannt.

7. Nun wollen wir doch auch noch den Punkt einbeziehen, ob wir wirklich keine Rechte und Pflichten gegenüber den Tieren haben, und dabei wollen wir nicht lehrbuchmäßig oder spitzfindig vorgehen, sondern auf unser eigenes Empfinden schauen und von einem menschlichen Standpunkt aus miteinander reden und urteilen – – – 112